Читать книгу Der Fluch des Hades - Mina Renard - Страница 5

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Ich habe kein Versprechen gegeben und es doch gebrochen.

Es gibt unausgesprochene Versprechen,

die schwerer wiegen als jeder Fingerschwur.

Wir mussten uns nicht versichern,

dass wir uns niemals trennen, weil es selbstverständlich war.

Das ist das Urvertrauen, das uns umgibt, seit wir existieren – seit Anbeginn der Zeit.

Warten. Kaum etwas ist schlimmer. Untätig herumzusitzen und zu warten, war noch nie eine meiner Stärken. Und ich habe nicht mal etwas Essbares dabei, um die Zeit zu überbrücken oder mein schlechtes Gewissen zu ersticken.

Ich stehe in einer der vielen Verzweigungen der Höhlen hinter dem Styx. Vom Flussufer führen Wege in verschiedene Richtungen und bilden ein Geflecht aus Möglichkeiten. Nur die über den Styx gebrachten Seelen, die in die Unterwelt gehören, finden den richtigen Weg. Als besäßen sie einen inneren Kompass.

Die Abzweigung, an der ich hocke, gehört nicht zu diesen Wegen. Dies hier wäre eine falsche Möglichkeit und brächte keine Seele an das gesuchte Ziel. Jeder Luftzug um mich herum riecht nach Verlust, zerbrochener Hoffnung und Ausweglosigkeit und jeder Weg von dieser Abzweigung endet in Dunkelheit.

Meine Fußspitze malt monotone Kreise in den Sand. Immer und immer wieder. Ich möchte nicht, dass Kerberos mir meine Unsicherheit schon aus der Ferne ansieht. Also versuche ich, jeden Muskel bewusst anzuspannen und auf diese Weise still zu halten. Nur meiner Fußspitze erlaube ich diese Schwäche um die Anspannung des Moments loszuwerden.

Der Höllenhund kommt aus dem Nichts der Höhlen auf den Felsen zugelaufen. Die Dunkelheit verschluckt seine wolfsartige Gestalt, aber ich erkenne das Geräusch seiner riesigen Pfoten beim Aufschlagen auf den Boden. Ich warte hier schon so lange, dass meine Füße kribbeln, als hätte ich Hunderte kleine Ameisen in den Schuhen. Nun stehe ich mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Der Gedanke verursacht mir Übelkeit, dass ich sie nun alle zerquetsche.

Kerberos bleibt dicht vor mir stehen, weil wir sofort weiter müssen. Zwischen seinen scharfen Zähnen trägt er einen kleinen Beutel aus schwarzem Samt – da muss die Bezahlung für den Fährmann drin sein.

»Woher hast du den Obolus?«, frage ich zu laut für die Finsternis, in der wir stehen und die jedes Hintergrundgeräusch sofort verschluckt.

Obwohl wir in Gedanken kommunizieren, sehe ich, wie sich seine großen Ohren aufstellen.

»Wir hatten gesagt, dass du keine Fragen stellst und ich mich darum kümmere, Megaira. Du siehst übrigens fantastisch aus, so menschlich und ohne diese ekelhaften Schlangen auf deinem Kopf.«

Kerberos mochte die Reptilien, die meine Haare bis vorhin ersetzten, noch weniger als ich. Aber nach mir haben die Viecher wenigstens nicht geschnappt. Es war ermüdend, wenn eine meiner Schlangen damit angefangen hat, nach einem seiner drei Köpfe zu beißen. Schnell hatte sich eine weitere Schlange eingemischt und der zweite Kopf des Höllenhundes setzte zur Verteidigung an. Am Ende hatte natürlich keiner angefangen und immer war der andere Schuld.

»Ja, finde ich auch.« Ich schaue an meiner jungen und schmalen, sehr menschlichen Gestalt hinunter, fahre mit einer Hand durch die losen Haare. »Ich muss mich bewegen und ich habe wirklich Angst, dass sie uns finden, Kerberos. Lass uns verschwinden!«

Kerberos läuft voraus und ich folge ihm, denn ich kenne den Weg zu Charon nicht. Bisher kam der Fährmann immer zu mir, wenn wir uns getroffen haben. Seit jeher trägt er einen schwarzen Überwurf und eine Kapuze, die tief in sein Gesicht gezogen ist. Bei jeder unserer Unterhaltungen habe ich versucht, unter die schwarze Kutte zu sehen, doch da war nichts. Keine undurchdringbare Schwärze oder wabernde Schatten, sondern schlicht und ergreifend nichts.

Die Höhlen sind modrig und feucht. Es riecht nach verfaultem Obst, das zulange in einer Obstschale in der direkten Sonne stand und durch das sich nun Maden winden. Der dunkle Boden macht bei jedem meiner Schritte ein schmatzendes Geräusch und die Wände glänzen ölig, die ich nur sehen kann, wenn ich direkt vorbeilaufe. Braune, dunkelgrüne und graue Schlieren rinnen über die Steine, die von innen heraus ein dumpfes Licht abgeben. Die Wände scheinen zu pulsieren, so leicht, dass ich glaube, es mir einzubilden, und so stark, dass ich eine Gänsehaut bekomme, weil die Mauern dadurch lebendig wirken. Sie sind über mir, neben mir und unter mir.

Die feuchte Kälte der Unterwelt dringt durch meinen Pullover und die Jeans. Ich schiebe die Ärmel hoch und streiche vorsichtig über die aufgestellten Härchen. Ich habe eine Gänsehaut. Das ist verrückt. Ich hatte vermutlich schon häufiger eine Gänsehaut, wenn ich diese Gestalt angenommen hatte, aber ich habe es noch niemals bewusst gespürt.

»Megaira, ich wittere etwas. Wir müssen rennen. Schaffst du das schon?«, hallt Kerberos´ Stimme durch meinen Kopf.

Ich grinse dem Höllenhund neben mir zu und sogar in Gedanken höre ich Vorfreude in meinen Worten.

»Ist egal, lauf!«

Nach ein paar Metern zieht es in meinen Beinen, noch ein paar Meter und meine Lunge brennt bei jedem Atemzug. Es ist widerlich, diese stinkende Luft so tief einzuatmen, dass sie in jede Zelle meines Körpers strömt.

Die Höhlenwände fliegen an uns vorbei. Die Anstrengung lässt meine Muskeln zittern und das treibt mich an, denn ich muss an die Oberfläche. Wir müssen die Unterwelt verlassen, bevor sie merkt, dass wir fehlen. Kerberos kann unnatürlich schnell rennen und ich weiß, dass er sich für mich zurückhält, obwohl es unsere Chance schmälert. Ich muss durchhalten und laufe.

Alles, was ich hier unten habe, tausche ich gegen einen Monat Freiheit und Leben. Der Winter ist fast vorbei und im Frühling wird Persephone die Unterwelt verlassen. Wandelt sie auf der Erde, wird sie mich jagen, wenn wir es überhaupt so weit schaffen. Wir hatten keine Zeit, Pläne zu schmieden, das müssen wir auf der Erde machen. Aber vielleicht besteht eine winzige Chance, dass ich nie wieder hierher zurück muss.

Nie wieder als Erinnye im Hades die Folter der Menschen beaufsichtigen, die ihre Lieben töteten. Was ist das für ein Gefühl, das die Menschen zu solchen Taten treibt? Ich hatte hier unten die Aufgabe, die Mörder, die aus Liebe töteten, zu beaufsichtigen. Täglich umgibt mich dieses Gefühl, ohne dass ich die Möglichkeit habe, es jemals begreifen zu können.

Wie kann etwas zwei so unterschiedliche Seiten haben?

Auf der einen Seite steht die Liebe und rettet Leben, schenkt Leben und gibt so Vielem einen Sinn, um dann hinterrücks erstochen zu werden.

Wie fühlt sich etwas an, das so ungreifbar und unlogisch funktioniert?

In der Unterwelt werde ich keine Liebe finden, hier lauert der Tod an jeder Ecke und Verrat hinter jedem Lächeln. Aber Götter können lieben und das sogar ohne Sinn und Kalkül, das konnte ich an Hades und Persephone sehen. Ich muss auf die Erde, um eine Chance zu bekommen. Hier unten habe ich lange genug gesucht.

Ich muss hier raus!

Ich brauche mehr als diese Aufgabe, die uns von Persephone zugedacht wurde und die keinen Sinn erfüllt. Ich möchte Leben und Freiheit spüren, Liebe fühlen und mich in der Zeit verlieren. Ein Gedanke lässt mich nicht los, vielleicht werde ich meine Schwestern nie wiedersehen. Ich dränge das schlechte Gewissen zurück. Gebe ich jetzt nach, schaffe ich es nicht.

Kerberos wird langsamer, dann sehe ich den Styx und das Boot des Fährmannes. Ich unterdrücke ein euphorisches Lachen, das tief aus meinem Bauch aufsteigen will. Kerberos stoppt am Ufer und ich halte direkt hinter ihm an. Er dreht sich zu mir um und begutachtet mich.

»Du bist rot wie eine Tomate und strahlst gleichzeitig über das ganze Gesicht. Wir tun das Richtige, oder? Möchtest du umkehren? Dann ist das jetzt deine letzte Möglichkeit.«

Ich stütze meine Hände auf die Oberschenkel, um dem Zittern einen Halt zu geben, und schaue nach unten.

Einmal tief Luft holen, zweimal, dreimal.

Selbst, um ihm in Gedanken zu antworten, brauche ich erstmal Sauerstoff. Der Geruch der Höhlen verschwindet mit jedem weiteren Atemzug. Der Höhlenboden geht am Ufer des Flusses in blendend weißen Sand über, der einen starken Kontrast bildet zum Styx. Der Fluss sieht aus dieser Entfernung fast schwarz aus und obwohl das Boot leicht schwankt, kann ich auch beim Näherkommen keine Bewegung auf der Oberfläche des Wassers ausmachen.

Die Oberfläche wirkt so glatt wie ein blankpolierter Spiegel. Wüsste ich es nicht besser, würde ich glauben, wir bräuchten die Hilfe des Fährmannes nicht und könnten einfach hinüberlaufen. Deswegen sieht der Fluss so aus, für die, die es nicht besser wissen.

Ich gehe weiter auf dem Styx und das Boot zu. Ich versuche dem Gefühl des Sandes unter meinen Füßen mehr Beachtung zu schenken, als dem schlechten Gefühl in meinem Bauch, denn ich muss mir meine Antwort überlegen.

»Ich will nicht umkehren. Meine Schwestern werden das verstehen und vor Persephone werde ich dich schützen, wenn sie uns findet.«

»Ich brauche keinen Schutz«, hallt seine Stimme in meinem Kopf. »Mich gibt es nur einmal und niemand will meinen Job machen. Von dir gibt es quasi drei und auch wenn ihr unterschiedliche Fähigkeiten habt, seid ihr für Persephone alle gleich. Du weißt, dass sie uns finden wird?«

Ich sehe meinem Begleiter in die Augen. Auch der Höllenhund hat seine Gestalt gewandelt. An die Stelle der drei Köpfe ist nun einer getreten und auch die ledrige Haut ist verschwunden. Kerberos‘ Fell sieht etwas struppig und fahl aus. Seine Statur erinnert an einen Wolfshund. Mein Blick wird von gelben Augen aufgefangen.

Meine Hände sind zu Fäusten geballt.

»Natürlich! Und bis dahin brauchen wir einen Plan. Doch ich will dieses Risiko eingehen, unbedingt. Kerberos, alles in mir drängt danach. Ich muss die Liebe fühlen. Menschen begehen für dieses Gefühl Morde und verraten alles, was sie ausmacht. Ich will leben!«, rufe ich ihm energisch zu. Wen will ich überzeugen? Mich? Ihn? Mein schlechtes Gewissen?

»Megaira, ich weiß, sonst wäre ich nicht hier. Komm!«

Charon steht auf seinem Boot und wartet. Er ist noch ein ganzes Stück entfernt und bekommt jedes Wort genau mit. Ich habe keine Ahnung, wie er es macht, aber er ist unheimlich.

Als wir einsteigen und ich mich in die Mitte des Bootes auf die einzige Bank setze, sehe ich an dem Blick, den Kerberos und Charon tauschen, dass sie gerade in Gedanken kommunizieren. Danach nimmt Charon den Beutel aus Kerberos Maul, steckt ihn ungeöffnet in seine Manteltasche und wendet sich mir zu.

»Hallo Megaira! Schön, dass du es geschafft hast«, sagt Charon und deutet eine Verbeugung an, »Kerberos hat mir gerade erklärt, dass du auf der Erde `Megs, eine Studentin aus Irland` sein wirst. Megs, die Studentin aus Irland, sollte sich morgen Abend einfinden, um Elias kennenzulernen. Mit Kerberos an deiner Seite wird es ein Leichtes sein, ihn aufzuspüren. Ich habe ihm einen Schal von Elias gezeigt. Er hat seine Witterung aufgenommen.«

Ich habe weder gemerkt, wie Kerberos sich zu mir gesetzt hat, noch, wann sich meine Hand in sein Fell gekrallt hat. Das ist kein Angebot vom Fährmann, sondern der Preis, den ich zahlen muss, um über den Fluss des Grauens zu gelangen.

»Und was genau soll ich dann machen, wenn Kerberos ihn findet? Kennt er dich? Soll ich ihm was geben?«, frage ich.

Ich versuche, möglichst unbeeindruckt zu wirken, damit Charon nicht merkt, wie sehr mich seine Forderung durcheinanderbringt. Wenn ich für eine Sache hier unten Zeit hatte, dann dafür, meine Gefühle besser kontrollieren zu lernen. Meine Wutanfälle waren legendär in der Unterwelt. Eine Warnung davor, dass ich einen Anfall hatte, kam einer Sturmwarnung gleich – alle brachten sich in Sicherheit und warteten, bis es vorbei war. Ein Sturm machte keinen Unterschied, wen er traf. Ich auch nicht. Aber wenn der Fährmann eine Forderung stellt, macht er das nicht ohne Eigennutz.

»Nein, du erwähnst mich nicht. Mache seine Bekanntschaft. Erfreue ihn. Schau, dass ihr euch am nächsten Tag wiedersehen könnt. Zwei Treffen und sobald du diese erfüllt hast, kannst du dein Dasein auf der Erde genießen.«

»Mehr nicht? Ich soll ihn treffen und möglichst nett sein. Darf ich wissen, was dein Plan ist?« Ich hoffe, dass Nettigkeiten, für sein affektiertes »erfreue ihn« ausreichen…

»Megaira, da es dich nicht betrifft, nein. Ich werde es dir trotzdem erklären, doch kann ich dann nicht fahren. Möchtest du die Antworten oder eine Überfahrt – was wünschst du, meine Teuerste?« Ich höre die Arroganz aus seiner Stimme. Das war keine Frage.

»Als würde es dich scheren, was ich mir wünsche! Fahr los … bitte.«

Charon geht an den Bug des Kahns und das Boot setzt sich in Bewegung. Kerberos sieht unverwandt auf Charons Rücken, als könnte er durch den Fährmann hindurchsehen. Ich weiß nicht, ob die zwei sich weiter unterhalten.

Das Wasser ist bei genauem Hinsehen nicht mehr dunkel, sondern leuchtet in warmem Lichtblau. Niemals hätte ich gedacht, dass in der Unterwelt etwas so Wunderschönes existiert. Ich kann nicht wegsehen. Kleine glitzernde Wasserinseln in nachtblau und türkis ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich und ich sehe tiefer hinein. Auf dem dunkler werdenden Grund kann ich Bewegungen ausmachen.

Was ist das?

Langsam tauche ich meine Hand in den Styx. Das Wasser fühlt sich weich und warm an. Weit unten in der Tiefe entdecke ich kleine schimmernde Lichter, die immer höher zu steigen scheinen. Ein Sternenhimmel unter Wasser. Ich möchte Charon fragen, was das für Lichter sind, aber ich kann meinen Blick nicht abwenden. Es werden immer mehr und sie pulsieren, drehen sich langsam im Kreis.

Ich muss jemanden etwas fragen, es ist wichtig, aber ich kann mich nicht erinnern. Die Lichter drehen sich immer schneller und mein Pullover wird nass.

Hatte ich den nicht über meinen Unterarm nach oben geschoben? Waren nicht nur meine Fingerspitzen im Wasser?

Nun wechseln sie ihre Farbe – manche bleiben klar und hell, andere werden jadegrün oder tiefblau. Sie schimmern und glimmen in einem Takt, der mich an Liebe erinnert. Ich möchte zu ihnen, so lange mit ihnen tauchen, bis meine Lungen brennen. Den tröstlichen Wasserschwall einatmen, bis mein eigenes Licht frei bei ihnen tanzen kann. Dort habe ich alles, was ich ersehne.

Für immer.

Plötzlich spüre ich eine Berührung in meiner Seite. Hart und unnachgiebig drängt es sich in meine Rippen und zerrt an meinem Pullover. Töne verhallen wie Echos in meinem Kopf, zu laut und zu nah.

Kerberos schreit mich an. »Megaira, verdammt! Hör mir zu und schau mich an!«

Ich blinzle, kneife meine Augen immer wieder fest zusammen. Ich kann nicht wegsehen.

»Kerberos, siehst du die Lichter? Sie sind wundervoll. Ich muss zu ihnen … sie brauchen mich«, höre ich meine Gedanken fremd und verzweifelt antworten.

»Du fällst gleich in den Fluss. Dein ganzer Arm und deine Haare hängen schon drin. Sie ziehen erst deinen Verstand hinab und dann dich. Zieh sofort den Arm aus dem Styx!«

Der Styx! Fluss des Grauens. Ich darf nicht zu den Lichtern.

Langsam, Stück für Stück ziehe ich meinen Arm aus dem Wasser. Es tut so unendlich weh. Meine Haut steht in Flammen, wirft Blasen und schält sich von meinen Knochen. Ich sehe, wie meine Sehnen und Muskeln schmoren, es riecht nach verbranntem Fleisch. Die Schmerzen sind unerträglich, aber noch schlimmer sind die Qualen in meinem Brustkorb. Ein stumpfes Messer zerfetzt meine Eingeweide, es reißt und drückt qualvoll, weil die Klinge keinen Schnitt mehr schafft.

Es klirrt ohrenbetäubend in meinem Kopf und etwas in mir zerspringt in tausend Scherben. Jede einzelne bohrt sich tiefer in meine Organe und gehe ich, werde ich nie wieder heilen.

Zerrissen.

Aber dort unten, da fühle ich mich warm und geborgen, bei ihnen bin ich sicher. In ihrer Unendlichkeit kann ich sein, wer ich bin, und ich werde gebraucht, damit sie sein können, wer sie sind. Wir werden uns ergänzen und ein Teil des anderen werden.

Ich werde die Welt in Stücke reißen, bevor ich alles aufgebe und die Hälfte meines Herzens ziehen lasse. Es wird immer kälter und dunkler, ich darf nicht mehr atmen. Ich muss ins Wasser. Gehe ich, wird etwas in mir zerspringen. Es geht irreparabel kaputt und wird niemals wieder ganz.

Alles um mich herum wird schwarz, als ich gegen jeden Instinkt und Gefühl handle und meinen Arm ganz aus dem Fluss ziehe …

Plötzlich bin ich wieder auf dem Boot. Kerberos zieht an meinen Pullover. Mein kompletter Arm, die rechte Seite und meine langen Haare sind klatschnass. Das Wasser läuft eiskalt aus dem Stoff an meiner Seite hinab. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht und wische das Nass von meinen Wangen, das mir über die Oberlippe in den Mund läuft.

Es ist salzig. Tränen. Meine Tränen. Ich weine.

Erstaunt starre ich meine Hand an, aber die Tränen bleiben unsichtbar. Ich habe noch niemals geweint und nun erinnere ich mich nicht einmal, warum ich weine.

Der Schmerz von eben ist schon jetzt eine verblasste Erinnerung. Mein rechter Arm sieht ganz normal aus. Ich fasse mir an die Brust, mein Herz schlägt. Es fehlt nichts, doch ich bin auch nicht ganz.

Ich verscheuche diesen wirren Gedanken – wenn es schlägt, ist es auch ganz. Das war äußerst knapp. Ich schaue zu Kerberos, der immer noch ein Stück meines Pullovers im Maul hält, und sehe noch den Nachhall der Panik in seinen geweiteten Augen.

»Charon, was ist hier gerade geschehen? Und, Kerberos, danke, aber nimm meinen Pullover aus dem Maul. Du sabberst alles voll. Das ist widerlich.«

Kerberos schnauft verächtlich und springt aus dem Boot. Wir haben am Ufer angelegt. Wann sind wir angekommen? Wir waren doch gerade erst losgefahren und …

»Megaira, hatte ich nicht angeführt, dass du die Hände im Boot bewahren solltest? Achje, nein? Wie unachtsam von mir, verzeih. Diese Regel habe ich bisher aber noch keiner Göttin mitteilen müssen.«

Der Fährmann kommt auf mich zu und reicht mir seine Hand, damit ich aussteigen kann. Ich greife zu und damit in seinen schwarzen Mantel hinein. Noch niemals habe ich den Fährmann berührt.

In meiner Vorstellung ist seine Haut kalt und rau. Ich rechnete sogar mit Klauen, aber seine Hand ist warm und menschlich. Er greift fest zu, zieht mich von der Bank hoch. Das Boot schwankt und meine Beine sind wacklig, als hätte ich Stunden gesessen.

Charon legt seinen freien Arm um meine Taille und hält mich. Nun stehen wir uns direkt gegenüber, meine Nasenspitze ist keine Handbreit von seiner Kapuze und dem undurchdringbaren Schwarz entfernt, die sein Gesicht verbirgt. Angestrengt versuche ich, etwas zu erkennen.

»Bemüh dich nicht, meine Teuerste. Hätte ich gewusst, wie stark deine Sehnsucht ist, hätte ich darauf hingewiesen, dass du auf keinen Fall das Wasser berühren darfst. Das wird deutlich interessanter als alles, was ich erwartet hatte.«

Welche Sehnsucht? Wovon redet er?

Ich blicke nach unten, um ihm auszuweichen. Er hält noch immer meine Hand und auch wenn er seinen Kopf nicht neigt, sieht er anscheinend, was ich sehe. Charon greift fester zu und zieht bestimmend meine Hände an seinen Oberkörper. Die Wärme seines Körpers ist so verlockend, dass ich mich davon abhalten muss, mich an ihn zu pressen. Mir stockt augenblicklich der Atem bei diesen Gefühlen und ich schaue in das Schwarz, wo eigentlich ein Antlitz sein müsste – wenn vielleicht auch kein menschliches.

Ich löse eine Hand aus seiner, um ihm die Kapuze aus dem Gesicht zu streichen, dabei höre ich sein Flüstern an meinem Ohr: »Gib deiner Begierde nach und tu es! Warum willst du suchen, wenn ich sein kann, wonach du verlangst? Alles, was, wonach sich dein Körper sehnt, kann ich dir schenken.«

Bei diesen Worten streicht sein warmer Atem von meinem Ohr hinunter über meinen Nacken. Obwohl er noch genauso vor mir steht und sich nicht rührt, spüre ich seine Hand in meiner Taille den Rücken hinunter wandern.

Mein Körper zittert und ich muss schwer schlucken, um ein Seufzen zu unterdrücken. Ich möchte ihm nur einmal nach all den Jahren ins Gesicht sehen. Er spielt mit mir. Er hält mich fest und steckt dabei jedes meiner Nervenenden in Brand. In meinem Bauch lodern zig kleine Feuer und könnten Explosionen entzünden, die mir die Sinne rauben würden, wenn seine Hand noch tiefer glitte. Obwohl er mit meinem menschlichen Körper spielt, spüre ich, dass er mich nicht gehen lassen möchte. Er will mich bei sich behalten.

In der Unterwelt gibt es niemanden, der verwirrender ist als der Fährmann. Noch nie hat er ein Angebot gemacht, gar einen Wunsch erfüllen wollen – ohne eine Gegenleistung. Nur ohne seine Augen zu sehen, weiß ich nicht, woher dieser plötzliche Wunsch rührt.

Kalkül, Arroganz, Zuneigung – es kann alles sein.

Nur Liebe ist es nicht und das ist es, was ich finden will. Er spürt, wie ich ihm entgleite, wie meine Entscheidung fällt. Als ich meine Schultern straffe und mich abwenden möchte, fühle ich seine Hand in meinen Haaren. Charon greift fest zu und zieht bestimmend meinen Kopf nach hinten. Nun kann ich direkt unter seine Kapuze in das Nichts blicken, während seine tiefe Stimme eindringlich flüstert.

»Trau dich, Megaira. Vielleicht ist es nicht so schlimm, wie du es dir immer ausgemalt hast, vielleicht ist es schlimmer. Es kann alles sein. Wir können alles sein …« Und dann ertönt ein Bellen vom Ufer her.

Charon lässt mich los. Er dreht sich von mir weg, bevor er aus dem Boot ans Ufer tritt und lässt mich einfach stehen. Gedankenversunken steuere ich auf ihn und Kerberos zu, die auf mich warten. Ich bin noch nicht auf der Erde und schon herrscht pures Chaos.

Die Lichter des Styx hätten mich beinah in die Tiefe gezogen. Danach will ich Charons Gesicht sehen und die Hormone dieses Körpers spielen verrückt.

Das kann ja heiter werden!

Während ich möglichst gelassen an Charon vorbeigehe, versuche ich, meine Atmung zu beruhigen, die immer noch viel zu schnell und abgehackt geht. Er mustert mich, sein Blick fühlt sich durchdringend an und jagt wie kleine Blitze über meinen menschlichen Körper. Das muss an meiner neuen Gestalt liegen. Ich kann nicht sterben, aber es fühlt sich an, als wäre ich verletzlich.

»Komm, Kerberos, lass uns gehen«, sage ich extra laut, um die Stille und seine unablässige Aufmerksamkeit zu unterbrechen.

»Was ist da gerade passiert, Megaira?«, fragt Kerberos und wir gehen los.

»Da reden wir später drüber. Ich habe auch noch ein paar Fragen, aber nicht vor ihm.« Ich deute ein leichtes Nicken in Richtung des Fährmannes an.

Sollte ich mich jetzt noch einmal umdrehen? Er hat uns geholfen, dennoch Charon ist heute noch merkwürdiger als sonst, wenn er mich besucht. Gerade, als ich meinen Kopf drehen möchte, habe ich abermals seine tiefe, melodische Stimme im Ohr und spüre einen Hauch in meinem Nacken. Ich halte still.

»Wir sind noch nicht fertig miteinander, meine Teuerste. Versprochen.«

Die zweite Gänsehaut meines neuen Lebens zieht über meine Arme, aber diesmal ist mir nicht kalt und als ich mich umdrehe, um nach dem Fährmann zu sehen, sind weder er noch das Boot da. Auch das Ufer verschwindet langsam in einem grauen Nebel.

Damit habe ich gerechnet. Es war ein klassischer Abgang, der absolut zu seinem Gehabe passt. Ich verdränge jeden weiteren Gedanken an den Ausfall meines Kopfes und dem damit verbundenen Verrat meines Körpers.

Kerberos stupst mit seiner feuchten Nase gegen meine Hand. In meiner Menschengestalt muss er seinen Kopf dafür sogar senken. Erst jetzt fällt mir auf, wie riesig er ist. Ob die Hunde der Menschen auch so groß sind?

»Wo sind wir hier? Warum ist alles grau? Ich sehe weder den Anfang noch das Ende oder den Boden oder die Decke,« sprudelt es aus mir heraus. »Und was hältst du eigentlich von Bero? Also, das ist der Name für dich, wenn wir oben sind? Und wo wohnen wir? Hast du…«

»Klar, das klingt okay«, unterbricht er mein Geplapper, das mich selbst ablenken soll. »Wir sind in einer Art Zwischenraum. Ich habe mich nie darum gekümmert, ihn zu gestalten. Hier kommt eigentlich niemand außer mir hindurch, deshalb ist hier alles grau. Andere Durchgänge werden von mehreren Göttern oder Toten genutzt und der Raum passt sich dem jeweiligen Durchgänger an. Aber, kann es sein, dass du versuchst abzulenken?«

»Was möchtest du denn wissen? Zu dem Vorfall auf dem Styx kann ich dir nichts sagen. Ich erinnere mich nicht. Kannst du mir sagen, was da passiert ist?« Er muss es doch gesehen haben. Ich kann nicht mehr zwischen Realität und Gefühlen unterscheiden. Es war von Allem zu viel.

»Die Lichter unter Wasser sind Irrlichter. Es sind die Seelen Verstorbener, die ohne Obolus an den Styx kamen. Meist irren sie jahrelang am Fluss umher, aber irgendwann berühren sie das Wasser und zersetzen sich. Dann werden sie zu Irrlichtern und locken dich mit deiner größten Sehnsucht. Ich habe dich mehrmals angesprochen, du hast nicht reagiert. Und du weißt nichts mehr?« Sein Tonfall klingt nach einer skeptisch hochgezogenen Augenbraue.

»Ich habe meine Finger ins Wasser getaucht, es war warm und dann sah ich die Lichter. Sie waren so hübsch, Kerberos. Ich weiß, dass ich zu ihnen wollte, doch plötzlich hörte ich deine Stimme in meinem Kopf und wollte den Arm rausziehen. Dann erinnere ich mich erst wieder daran, wie ich nass im Boot saß und du meinen Pullover fressen wolltest. Den Rest kennst du ja.«

Ich lächle ihm zu, er soll sich keine Sorgen machen, dabei mag ich nicht einmal an die Verzweiflung denken, dessen Abglanz ich immer noch tief in mir fühle.

»Womit haben sie dich gelockt? Und vor allem würde ich gerne wissen, warum du geweint hast. Megaira, ich habe noch nie einen Gott in der Unterwelt weinen sehen.«

»Ich weiß nicht, was mich lockte … Ich musste etwas ungeheuer Wichtiges gehen lassen, um zurückzukehren. Das fühle ich. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen, ich habe es vergessen.« Ich schaue auf meine Füße, die vom grauen Nebel umwoben werden, und seufze.

Der Kloß in meinem Hals ist ein Brocken. So viele Gefühle und ich fühle mich wie eine Schlange, die ganze Kaninchen schlucken muss, obwohl sie längst satt ist.

»Kerberos, würden wir jetzt zurückfahren, ich würde meine Hand wieder ins Wasser halten, also lass uns erstmal nicht darüber reden. Das macht mir Angst.«

»Megaira, darüber werden wir uns wirklich nochmal unterhalten müssen. Besonders, wenn wir zurückmüssen. Das war gefährlich für dich. Ich meine wirklich gefährlich. Ich weiß, was mit den Menschen passiert, die hinunter gezerrt werden. Aber ich kann dir nicht sagen, was mit einer Rachegöttin passieren würde. Mit dir.«

Er stupst mich sachte an meiner Hand an.

Ich hatte keine Angst vor dem Styx mit seinen Irrlichtern. Würden wir scheitern und auf diesem Wege zurückmüssen, werde ich den Fluss erneut überqueren.

Ich hatte Angst vor dem, was ich dort verloren hatte. Das Echo des Verlustes, das durch meinen Geist hallte, war nur ein Abbild des Schmerzes, den ich gespürt hatte. Ich hatte etwas verloren, das ich so sehr liebte, dass der Verlust etwas in mir zerbrechen ließ. Als würde ein Teil meines Herzens außerhalb meines Körpers schlagen und es wurde mir entrissen.

Ich wusste nicht, ob ich etwas, das einer Göttin solche Schmerzen zufügen konnte, wirklich finden wollte.

Der Fluch des Hades

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