Читать книгу Sektion 3 I Hanseapolis - Schlangenfutter - Miriam Pharo - Страница 12

4

Оглавление

Auf einer Strecke von einigen hundert Metern entdeckte Louann in unregelmäßigen Abständen Blut, Haare sowie Hautfetzen an Sträuchern und tief hängenden Ästen. Die Spuren erzählten eine traurige Geschichte. Louann nahm an, dass das Opfer um sein Leben gerannt war. Nackt, denn es fanden sich nirgends Kleidungsfetzen. Ihr CS/X zeigte an, dass die Tatortsicherung bereits eine DNA-Probe der Leiche zur Identifizierung an die zentrale Datenbank geschickt hatte. Die gute Nachricht war, dass die DNA an Sträuchern und Bäumen mit der der Leiche übereinstimmte. Die schlechte Nachricht, dass die DNA nicht in der zentralen Datenbank erfasst war. Das konnte also nur eines bedeuten: Das Opfer war eine NIP, eine Non Identified Person, die illegal eingereist war.

Jedem neuen Föderationsmitglied wurde, ganz gleich, ob neugeboren oder eingewandert, eine DNA-Probe entnommen, die zentral gespeichert wurde. Mit Hilfe von hochauflösenden Molekular-Scannern konnte man so die Identität einer Person in Sekunden feststellen. Und das schon aus zehn Metern Entfernung.


Während die Tatortsicherung die Leiche zum Abtransport verpackte, erstattete Louann Bericht und übergab Elias ihre Ausbeute.

„Gute Arbeit, Marino“, lobte er. Sein metallischer Blick ließ sie frösteln. „Die Spuren liefern uns wichtige Anhaltspunkte zum Tathergang. So wie es aussieht, ist das Opfer eine Frau. Leider ist die Leiche in einem schlimmen Zustand. Nach der Autopsie wird man mehr sagen können. Aber so viel wissen wir: Der Frau wurde die Kehle durchgeschnitten. Wahrscheinlich hängte man sie dann auf und häutete sie.“ Dann fügte er mit einer wegwerfenden Handbewegung hinzu: „Den Rest hat die Meute erledigt.“

Louann schaute Elias entgeistert an. „Die … Meute? Ich dachte, die gäbe es nicht wirklich. Das sei nur eine Horrorgeschichte, um … Kinder zu erschrecken“, stammelte sie.

„Von wegen Horrorgeschichte!“, schnaubte Elias. „Du brauchst dir doch nur Kopf und Arme des Opfers anzusehen. Da sind eindeutig Bissspuren, und zwar von riesigen Hunden. Die Große Flut überraschte nicht nur die Menschen im Schlaf! Auch die Tiere wurden vom Wasser mitgerissen. Nur die Stärksten überlebten und jetzt ist der Sumpf ihr Revier. Und glaub mir, sie haben definitiv nichts mit den süßen Schoßhündchen zu tun, die du von zu Hause her kennst!“ Er schloss kurz die Augen – und sah fast menschlich aus. „Lass uns von hier verschwinden!“, sprach er leise. „Wir haben genug Daten gesammelt, um im MEC unsere Ermittlungen fortzusetzen.“

Das ließ sich Louann nicht zweimal sagen. Nachdem sie in die Hölle geblickt hatte, sehnte sie sich schmerzlich nach dem trockenen, klimatisierten Bumerang zurück, der ihr zweites Zuhause geworden war.

Beide eilten zum MEC und flogen zu Planten un Blomen 4, den schwebenden Gärten des ISEF-Tower, des Instituts zum Schutz der Europäischen Flora. Der spiralförmige Bau ragte 700 Meter in die Höhe, wo er in eine stilisierte Baumkrone mit langen Trägern mündete, die sich wie gigantische Äste in alle Himmelsrichtungen streckten. An den fächerförmigen Enden thronten exotische Gärten unter riesigen Glaskuppeln. Sie erinnerten Elias ein wenig an die bizarre Schneekugel, die er vor einigen Monaten in einem dieser stickigen Krämerläden im Hamburger Viertel ergattert hatte.

Fehlt nur noch der Eiffelturm!

Von jedem Träger gingen links und rechts schmale Landeplattformen ab. In diesen Höhen herrschten Windstärken von über 150 km/h, was einen Aufenthalt im Freien unmöglich machte, deshalb waren die Gärten und Plattformen durch Fußgängerröhren miteinander verbunden.

Das MEC steuerte auf einen der kleineren japanischen Gärten weiter unten zu und setzte zur Landung an. Solange es noch genügend Landeplätze für zahlende Besucher gab, durfte das MEC beliebig lang hier stehen bleiben. Stirnrunzelnd schaute Elias zu Louann hinüber, die das Ziel eingegeben hatte, sagte aber nichts. Sie betätigte einen schwarzen Schalter an einer der oberen Konsolen, woraufhin die dunkle Thermotrop-Haube des Gleiters zu einem hellen Blau erblasste und die Sicht frei gab. Nur einen Steinwurf vom MEC entfernt erstreckte sich eine hübsche Anlage, in der sich Bambus, Felsen und Wasser zu einem idyllischen Ganzen zusammenfügten. Den Mittelpunkt bildete ein kleiner See, an dessen Ufer ein bunt bemalter Pavillon stand.

Elias sprach als erster: „Also gut. Lass uns noch einmal schauen, was wir bisher haben. Das Opfer ist mit aller Wahrscheinlichkeit weiblich. Wir nehmen an, dass die Frau durch den Sumpf gehetzt wurde. Dann hat ihr ein Perverser die Kehle durchgeschnitten, sie aufgehängt und enthäutet. Warum tut jemand so etwas?“

„Aus Rache vielleicht?“, murmelte Louann und strich sich eine Locke aus der Stirn.

„Kann schon sein …“ Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke im stummen Einverständnis. Louann schauderte. „Jedenfalls haben wir es mit einem Sadisten zu tun, der gern die Kontrolle behält“, sprach Elias weiter. „Er hat alles perfekt inszeniert, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen.“

Louann heftete nachdenklich ihren Blick auf einen Graureiher, der vorsichtig durch das Wasser stakste, dann fiel ihr etwas ein: „Wer hat eigentlich die Leiche entdeckt?“

„Heute Morgen um acht bekamen wir einen anonymen Tipp über InterCom. Die Stimme ist weiblich. Warte … MEC-549, bitte Call37832 abspielen!“ Nur wenige Sekunden später erfüllte eine schluchzende Stimme die Kabine. Es war unheimlich.

„Sektion 3. Zentrale.“

„Holà? Please ... Sie hören mich? It ... is etwas Schrecklisch pasiert. Terrible! Chica vielleischt dead. In Sumpf, cerca de old Rathaus.“

„Bitte identifizieren Sie sich, sonst können wir Ihre Anzeige nicht aufnehmen.“

„No, geht nischt. Socorro! Help, bitte ...“

Hier brach die Aufnahme abrupt ab.

„Das Kauderwelsch klingt eindeutig panamerikanisch. Was meinst du?“ Louann sah Elias erwartungsvoll an. Seine silbernen Augen zeigten keinerlei Regung. Sie wusste nicht einmal, ob er sie gehört hatte und verschränkte ihre Hände ineinander, um ein leichtes Zittern zu unterdrücken. Schließlich antwortete er fast widerwillig. „Scheint mir auch so. Lassen wir die Aufnahme durch den Sprach-Analyzer laufen. MEC-549, Sprachanalyse!“

Die Bestätigung kamfast zeitgleich. „Stimme weiblich. Zwischen 15 und 17 Jahre alt. Panamerikanisches Oststaaten-Idiom. Region um Waterbury.“

„Na, das ist doch ein Anfang!“, brummte Elias zufrieden und wandte sich an Louann. „Check mal, ob junge Panamerikanerinnen, die auf das Profil passen, in den letzten fünf Jahren in Hanseapolis registriert wurden“, befahl er und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Screen vor sich.

Louann schnaubte. Seine unfreundliche Art brachte sie auf die Palme. „Und wenn niemand auf das Profil passt?“, zischte sie.

Der Typ ist echt unmöglich!

„Dann gehst du halt zehn Jahre zurück!“, konterte er, ohne aufzublicken.

Aufgebracht biss sich Louann auf die Lippen. Elias, der ihre Wut spürte, drehte sich genervt um. „Was ist dein Problem, Marino?“, fragte er kalt. „Die Zeugin ist im Moment unsere einzige Spur. Es ist wichtig, sie zu finden.“

„Darum geht es nicht“, entgegnete Louann und räusperte sich. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie hasste es, zu streiten. „Du könntest etwas freundlicher sein!“ Bei den Göttern! Sie klang so kümmerlich und verachtete sich dafür.

„Freundlicher?“ Elias lachte hämisch. „Was glaubst du, ist das hier? Ein Sonntagskränzchen? Wir haben es mit einer wirklich üblen Scheiße zu tun! Ich will eine schnelle und saubere Aufklärung. Alles andere ist unwichtig. Ganz besonders deine persönlichen Gefühle!“

Louann tobte innerlich. Sie setzte zum Sprechen an, doch Elias drehte ihr bereits den Rücken zu. Wieder einmal.

Der erste Tag mit ihrem neuen Partner endete so deprimierend, wie er begonnen hatte. Die Stimmung im MEC blieb frostig und sie fanden nichts Neues heraus, weder über das Opfer noch über die anonyme Zeugin. Sie gaben alle Daten und Infos an den zuständigen Profiler weiter, der ihnen in den nächsten 48 Stunden ein detailliertes Täterprofil zukommen lassen wollte. Zuletzt schickten sie ihren Einsatz-Report, das so genannte DeBriefing, zur Zentrale. Dann setzte Louann Elias auf seinem Apartment-Tower südlich des Hamburger Viertels ab und flog nach Hause.

Die letzten Stunden waren für sie ein Albtraum gewesen, doch sie war zu erschöpft, um weiter wütend zu sein. Sie setzte das MEC im Hangar ab und fuhr mit dem Expresslift nach oben zur benachbarten Skybridge, die ihren Apartment-Tower mit den Nachbartowern verband. Dort gönnte sie sich bei ihrem Lieblingsresto eine doppelte Portion Fischragout mit Blaualgen und Reis. Wie ein Großteil der Hanseapolen hatte Louann keine Küche in ihrem Apartment. Wozu auch? Kochen war der pure Luxus. Nichtsynthetische und noch dazu frische Lebensmittel waren ohnehin schwer zu bekommen, und nur einige wenige Privilegierte konnten sie sich leisten.


Louann, die sich nach Zerstreuung sehnte, rief später am Abend Raoul über InterCom. Seine zärtliche Zunge wäre heute Abend genau das Richtige, um die bluttriefenden Bilder und Elias’ seelenlose Augen aus ihrem Kopf zu verbannen. Kurz nachdem sie in ihr Apartment eingezogen war, hatte sie Raoul bei City Toys entdeckt. Er hatte eine staatliche Lizenz, stellte keine Fragen und erfüllte ihr jeden Wunsch. Ihr gekaufter Liebhaber war ein Traum von einem Mann. Dunkel, mit tiefgründigen, braunen Augen und einem unglaublichen Körper. Louann vergötterte ihn, denn er gab ihr einmal pro Woche das Gefühl, unwiderstehlich zu sein. Außerdem war seine Liebe erschwinglich, übernahm die Sektion 3 doch einen Teil der Kosten! Der Polizeipräfekt von Hanseapolis vertrat nämlich die Ansicht, dass nur ein rundum ausgeglichener Officer gute Arbeit leistete. Deshalb erhielt jeder Cop einen monatlichen Vergnügungszuschlag von 500 Eurodollar. Zudem wollte man damit sexuellen Spannungen innerhalb der Teams vorbeugen.

Elias betrat sein luxuriöses Apartment, legte Ausrüstungsweste und Betäubungslaser ab und begab sich an die IceBar. Glen Scotia Whisky war genau das, was er jetzt brauchte. Er schenkte sich zwei Finger breit ein und fläzte sich auf sein antikes Sofa.

„GCS Screen aktivieren“, murmelte er. Bunte Bilder aus fernen Welten flimmerten jäh durch den Raum, doch das interessierte Elias nicht. Die Global Communication Sphere, die allgegenwärtige Plattform für Kommunikation, Information, Business und Entertainment, diente ihm lediglich als Geräuschkulisse. Gedankenverloren schaute er durch das Panoramaglas auf das nächtlich funkelnde Hanseapolis. Er liebte diese Stadt. Ganz besonders nachts, wenn sie zur bunten Lichtgestalt wurde: ein Meer aus pixeligen Türmen, die mit ihren fluoreszierenden Lande-Plattformen wie überdimensionale Pilze aussahen. Jeder Lichtpixel ein menschliches Schicksal! Liebe, Leid, Gewalt und Tod dicht an dicht. Über allem erstreckte sich der schwarze Himmel, durchbrochen von gigantischen Sky Ads: Werbehologramme, die ihre flüchtigen Botschaften im Zehn-Sekunden-Takt wechselten. Elias wandte den Blick nach rechts, dort wo er die Elbe vermutete. Wann immer es ging, zog es ihn dorthin. Die bunten Floatinghomes am Südufer, die starre Ästhetik der großen Lastkräne, die schon vor langer Zeit ihren Betrieb eingestellt hatten …

Er lächelte grimmig. So sehr er diese Stadt liebte, so sehr verabscheute er die Menschen darin. Sie tappen blind durch ihr armseliges Dasein, sind in ihrer eigenen Dummheit gefangen und glauben auch noch, die Welt zu kennen, dachte er verächtlich.

Ein arroganter Haufen von Idioten!

Einen Menschen hasste er dabei ganz besonders. Elias fixierte das herzförmige Holobild auf der IceBar. Er sah sich dort stehen, schwer und unbeholfen, mit diesen unsäglichen Augen. Neben ihm eine zarte Brünette mit grünen Augen. Cynthia. Seine Ex-Frau. Bis heute hatte er sich nicht von dem 3-D-Foto getrennt, denn es diente ihm als Warnung. Hast du mich eigentlich je geliebt, hatte er sie gefragt, als es mit ihnen zu Ende ging. Sie hatte mit den Schultern gezuckt. Ich weiß es nicht, hatte sie geantwortet, für mich warst du so etwas wie ein Experiment. Sie hatte gelacht. Er hätte sie am liebsten erwürgt. Es war schon fünf Jahre her, doch noch immer durchzuckte ihn der Hass, wenn er zurückblickte, was er leider viel zu oft tat. Er hatte ihre Beziehung ernst genommen, hatte sogar auf eine altmodische Heirat bestanden. Nicht bloß InterimPairing, wie es heute üblich war. Am Ende hatte sie alles, woran er geglaubt hatte, mit Füßen getreten.

Elias nahm einen großen Schluck Whisky und starrte ins Leere. Und jetzt auch noch die Neue! Im Panoramaglas erblickte er sein Spiegelbild. Draußen tobte das Leben, und er war davon ausgeschlossen. Hatte sich selbst davon ausgeschlossen. Er stand auf, um die Flasche zu holen.


Sektion 3 I Hanseapolis - Schlangenfutter

Подняться наверх