Читать книгу Sektion 3 I Hanseapolis - Schlangenfutter - Miriam Pharo - Страница 7
Prolog
Оглавление„Willkommen an Bord der Whale Queen. Bitte setzen Sie Ihren Virtuellen Kommunikator auf und aktivieren Sie per Sprachmodus den City Guide in Ihrer Taskleiste. Sobald Sie das Aussehen Ihres persönlichen Guides konfiguriert haben, kann die Reise losgehen. Im Namen von Amazing Tours und der IFH Corporation wünschen wir Ihnen einen angenehmen Rundflug!“
500 bebrillte Augenpaare suchten ihre interaktiven Sichtgläser nach dem entsprechenden Menüpunkt ab, dann erfüllte emsiges Gemurmel den transparenten Schiffsrumpf. Die dickbäuchige Whale Queen, ein unbemannter Touristenfrachter der Klasse E, war 150 Meter lang und von elliptischer Form. Die Passagiere, die in diagonalen Sitzreihen wie auf den Gräten eines gigantischen, gläsernen Walfischs saßen, blickten sich neugierig nach allen Seiten um. In die Virtuellen Kommunikatoren kam Leben.
„Guten Morgen, ich bin Kara, Ihr Virtueller Guide auf Ihrem heutigen Flug. Bevor es losgeht, hier noch ein paar allgemeine Infos:Hanseapolis ist eine blühende Megacity mit über 20 Millionen Einwohnern und eines der mächtigsten Wirtschaftszentren der Welt. Es gibt viel zu entdecken. Machen Sie sich also auf einen interessanten Trip gefasst! Um Infos zu einem Ort oder einer Sehenswürdigkeit zu bekommen, nehmen Sie bitte das gewünschte Objekt in Augenschein. Wir befinden uns in einer Höhe von 600 Metern über dem Meeresspiegel, wenn Sie sich also etwas im Detail ansehen möchten, peilen Sie den Punkt länger als zehn Sekunden an und er wird bis auf wenige Meter herangezoomt …“.
Zwei Sitzreihen dahinter erklärte ein anderer virtueller Sprecher:
„Es geschah am 11. April 2025. Die Geburtsstunde von Hanseapolis schlug morgens um 4.35 Uhr MEZ, als der Orkan Kumani, was auf afrikanisch Schicksal bedeutet, die Nordsee zu noch nie da gewesenen Höhen aufpeitschte. Was Katastrophen-Experten bis dahin für unmöglich gehalten hatten, trat ein: In der Deutschen Bucht türmte sich eine 30 Meter hohe Freak Wave auf und begrub das flache Land westlich der damaligen Stadt Hamburg unter sich. Siedlungen wie Cuxhaven oder Stade wurden dem Erdboden gleich gemacht. Mit 500 Kilometern in der Stunde zermalmte die Monsterwelle alles, was sich ihr in den Weg stellte. Sie verpuffte erst kurz vor Altona. Der Schaden war immens! Salzwasser und giftiger Elbschlamm verseuchten hunderte Quadratkilometer Land und kappten die Verbindung zur Nordsee. Allein in Hamburg starben über 250.000 Menschen; ein Zehntel der damaligen Bevölkerung! Die Hansestadt erlitt einen schweren wirtschaftlichen Schaden und bat Lübeck um Unterstützung. Infolge von Fehlspekulationen stand die Stadt im Nordosten kurz vor dem Bankrott, besaß aber direkten Zugang zur ruhigeren Ostsee und damit zu den lebensnotwendigen Wasservorräten. Um überleben zu können, gingen beide Städte ein Bündnis ein. Sie verschmolzen zu Hanseapolis ...“
„Lübeck wurde zum Industriestandort der neuen Megacity umfunktioniert. Zu diesem Zweck mussten die Menschen umgesiedelt werden, was vielerorts zu gewalttätigen Ausschreitungen führte. Nicht gerade ein ruhmreiches Kapitel in der jungen Geschichte von Hanseapolis! Aber mit den Jahren akzeptierten die Menschen ihr neues Schicksal, nicht zuletzt dank der großzügigen Subventionen der Europäischen Föderation. Heute existiert die Stadt Lübeck nicht mehr, die Region wurde vollständig industrialisiert …“
„Drei viertel der Stadtbevölkerung bezieht ihr Trinkwasser aus den gewaltigen Meerwasserentsalzungs-Quadern vor Ihnen, wo Salzwasser mit Hilfe von Solarenergie gereinigt und entsalzt wird. Wie Sie sehen, füllen sie die gesamte ehemalige Lübecker Bucht aus. Täglich werden hier zwei Millionen Kubikmeter Meerwasser verwertet und über ein riesiges unterirdisches Röhrensystem in die City gepumpt. Das gewonnene Salz gelangt in unterirdische Kavernen, wo es als Energiespeicher dient …“
„Zu Ihrer Linken sehen Sie das rote Holstentor aus dem Jahre 1478. Es ist in einen schützenden achteckigen Glas-Solitär eingebettet, der 2042 von Staringenieur GM2 erbaut wurde. Das Holstentor ist das älteste Bauwerk von Hanseapolis und erinnert an die glanzvolle Handelstradition der Megacity! Genau jetzt überfliegen wir die Express-Rampe für Mondfähren. Mit zehn Flügen pro Woche ist sie die wirtschaftlichste in der Europäischen Föderation …“
„Wir verlassen nun die Holsten-Region und steuern das Zentrum an. Ja, hier ist mächtig was los! Obwohl nur 20 Prozent der Hanseapolen einen eigenen Gleiter besitzt, ist der Luftraum immer dicht. Was für Sie vielleicht wie ein wildes Durcheinander aussieht, hat System. Der Luftraum ist in drei Flugzonen aufgeteilt: Die erste Zone liegt bei 60 Höhenmetern, die zweite Zone bei 100 bis 400 Metern; die dritte Zone beginnt bei 600 Metern. Wie Sie gut erkennen können, wird Zone 1 von tausenden Tubes durchzogen – ein riesiges Spinnennetz aus Polymer-Röhren, das zwischen den Towern gespannt ist. Die Expressbahnen im Innern sind das Hauptverkehrsmittel von Hanseapolis und erreichen Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 600 km/h. Zone 2 bildet einen Luftraumkorridor für zivile Gleiter und Lufttaxen. Zone 3 ist ausschließlich Transport- und Passagierfrachtern vorbehalten. Bis auf wenige Ausnahmen erreicht der Hanseapole die Null-Ebene, also den Erdboden, per Expresslift …“
„Wie in jeder Megacity der Europäischen Föderation ist die Luft am Boden toxisch. Der Gehalt an Stickoxiden und Schwermetallen liegt bei 30 Prozent. Ein Aufenthalt im Freien ohne Atemmaske und Augen-Protektionsgel ist auf der Null-Ebene lebensgefährlich! Unter Ihrem Sitz ist eine Ersatzmaske verstaut … für alle Fälle …“
„Direkt hinter dem Hamburger Viertel thront der 800 Meter hohe Tower of Lust. Wie Sie wissen, ist das horizontale Gewerbe seit 2058 in staatlicher Hand. Um die Verbreitung einer neuen Lust-Seuche wie vor 60 Jahren AIDS oder heute KOIS unter allen Umständen zu verhindern, ist der kostenpflichtige Verkehr streng reglementiert und findet nur an ausgewiesenen Orten statt. Der phallusförmige Vergnügungsturm vor Ihnen ist das Lustzentrum von Hanseapolis, könnte man sagen. Wer bereit ist, den Homeservice-Aufschlag zu bezahlen, kann sich sein Objekt der Begierde natürlich auch nach Hause kommen lassen …“ Wie immer an dieser Stelle stießen die Passagiere der Whale Queen alberne Gluckser aus.
„Prachtvoll, nicht wahr? Wie durch ein Wunder ist die HafenCity mit ihren verschachtelten Terrassen und Treppenlandschaften von der Großen Flut verschont geblieben und ist heute, wie schon vor 50 Jahren, das Amüsierviertel von Hanseapolis. Wenn Sie also einen drauf machen wollen, hier werden Sie Ihre Eurodollar am schnellsten los …“
„Rechts vor Ihnen sehen Sie das Wahrzeichen der Stadt: Wo noch vor einem halben Jahrhundert Kerosin betriebene Fluggeräte vom Boden aufstiegen …“, ungläubiges Kopfschütteln machte sich breit, „… erhebt sich jetzt die Schwarze Hand, ein 300 Meter hohes glänzendes Monument aus schwarzem Onyx. Sie ist dem Meer zugewandt und signalisiert: Halt! Bis hierher und nicht weiter! Als sie vor 30 Jahren erbaut wurde, war sie Hunderte von Kilometern weit zu sehen. Heute ist sie auf drei Seiten von doppelt so hohen Towern umgeben. Dennoch symbolisiert sie wie kaum ein anderes Denkmal in Hanseapolis den Überlebenswillen der Stadt und ihrer Bewohner. …“
„Natürlich haben Sie die dunkle Schlangenlinie bemerkt, die an den verseuchten Sumpf grenzt. Sie ahnen es wahrscheinlich schon: Es handelt sich um den weltberühmten Damm aus schwarzem Beton, den die City 2029 zum Schutz vor weiteren Flutkatastrophen bauen ließ. 50 Meter hoch und 350 Kilometer lang, verläuft er von Norden nach Süden am Distrikt Neumünster entlang, vorbei am Hamburger Viertel über der Elbe, wo sich die berühmte Albers-Schleuse befindet, bis hinunter zum Weser-Delta.“
„Vielleicht fragen Sie sich jetzt, warum die überflutete Region jenseits des Damms niemals trocken gelegt wurde? Die Antwort ist so einfach wie tragisch: Drei Jahre nach der Großen Flut wurde Hanseapolis von einer weiteren Katastrophe heimgesucht. Ein Flugcontainer der Klasse A, der hochgiftigen Sondermüll geladen hatte und sich auf dem Weg zur Mondfähre befand, stürzte über der Region ab. Bis heute ist nicht geklärt, ob es sich um einen Unfall oder um Sabotage handelte. Stellenweise war sogar von illegaler Müllbeseitigung die Rede. Wie dem auch sei, nach langer, eingehender Untersuchung entschied die Europäische Föderation, dass die Gegend sowie küstennahe Teile der Nordsee auf unbestimmte Zeit unter Quarantäne gestellt werden müssten.“
„Genau jetzt passieren wir den Damm und fliegen über das verseuchte Sumpfland“, erklang es plötzlich einstimmig aus allen Virtuellen Kommunikatoren. „Wie Sie sehen, erobert sich die Natur nach und nach ihr Territorium zurück. Führende Biologen vermuten, dass die giftigen Substanzen im Boden und in der Luft zu gefährlichen Mutationen in der Tier- und Pflanzenwelt geführt haben könnten …“.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte die Gruppe von Touristen hinunter auf die schmutzig grüne Ebene, die im düsteren Kontrast zur glitzernden Hochwelt von Hanseapolis stand, und schauderte wohlig angesichts ihrer davongaloppierenden Fantasie.
„Nein!“ Die Läuferin reißt sich los. Ihre schlanken, muskulösen Beine setzen sich in Bewegung, doch der Boden unter ihr ist weich; bei jedem Schritt sacken ihre nackten Füße mit einem leisen, verhöhnenden Schmatzen ein. Sie spannt alle Muskeln an, treibt sich innerlich voran. Lauf! Lauf! lauf! Der Schweiß rinnt zwischen ihren Brüsten hinab, ihre Lunge brennt. Stechender Gestank dringt durch ihre Nase und sie muss würgen. Um sie herum herrscht vollkommene Stille. Todesstille. Kein Vogel singt. Keine Stimme ruft. Ihr eigener hechelnder Atem klingt ihr überlaut in den Ohren. Da erhaschen ihre wild flackernden Augen etwas Helles zwischen den Bäumen. Das Altonaer Rathaus! Das Adrenalin jagt durch ihren entkräfteten Körper. Ein Hoffnungsschimmer! Wenn sie es bis zur verwitterten Ruine schafft, hat sie vielleicht eine Chance. Doch – oh Gott, nein! – ihre Beine versagen ihr den Dienst. Sie stolpert. Und fällt. Der Morast fühlt sich auf ihrer erhitzten Haut kühl an. Fast angenehm. Die Läuferin schließt die Augen, wie sie es früher als Kind getan hat, in der Hoffnung, ihr Albtraum würde sich in Luft auflösen.
Ein knackendes Geräusch dicht hinter ihr durchbricht die Stille. Ruckartig hebt sie den Kopf, das Weiße in ihren Augen zuckt panisch im trüben Licht. Sie versucht aufzustehen, doch so sehr sie ihren Beinen befiehlt weiter zu laufen, sie kommt nicht von der Stelle. Irgendetwas ist mit ihr geschehen. Sie ist buchstäblich zur Säule erstarrt! Die Läuferin hebt ihre tränenverschleierten Augen. Hoch über ihr schwebt eine walförmige Silhouette, ein kleiner dunkler Fleck vor blassblauem Himmel, nicht größer als ihr Daumen. Sie schreit um Hilfe, doch der Frachter ist viel zu weit weg. Genauso gut könnte sie die Sterne anschreien. Ein verzweifeltes Schluchzen entweicht ihrer ausgedörrten Kehle. Schon eilen die Bluthunde herbei.
Die Läuferin schließt die Augen und wartet.