Читать книгу Der Drink des Mörders - Miriam Rademacher - Страница 2
ОглавлениеBarney Brickfield fand seine Situation zum Kotzen. Rosegarden, die schäbige Pension, in der er sich erst am Morgen des heutigen Tages eingemietet hatte, war noch meilenweit von der Laterne entfernt, an die er sich jetzt gerade klammerte. Und selbst wenn sie nur einen Steinwurf von dieser schon am frühen Abend wenig belebten Straßenkreuzung entfernt gewesen wäre, so hätte er die rettende Kloschüssel im zweiten Stock nicht mehr rechtzeitig erreicht. In immer wiederkehrenden Krämpfen kündigte das von ihm verspeiste Abendessen seine Rückkehr an, und der Drang, der Fischpastete ihren Willen zu lassen, wurde immer stärker.
In diesem Moment sprang die Fußgängerampel vor ihm auf Grün, und Barney löste sich von der Laterne und rannte los. Auf der anderen Seite der Straße hatte er im dämmrigen Licht der Straßenbeleuchtung eine parkähnliche Landschaft mit Rasenflächen und Büschen ausgemacht. Hier wollte er sich in etwas privaterer Atmosphäre hinter einem Gebüsch erleichtern. Wenn der Fisch erst wieder aus ihm heraus wäre, dann würde er sich besser fühlen.
Seine Aktentasche fest an den Leib gepresst, eilte Barney einen Fußweg entlang, der von Laternen nur schwach beleuchtet wurde. Ihm war das sehr recht. Grünpflanzen säumten seinen Pfad, auf dem noch das Laub des Herbstes lag und bei jedem seiner Schritte raschelte. Lange würde er sich nicht mehr gegen die Bachforelle wehren können.
Als zu seiner Rechten ein seltsames Gebilde aus Beton und Stahl auftauchte, hielt er den Moment für gekommen, den Weg zu verlassen. Durch das feuchte Gras trampelnd, erreichte er die Rückseite des schrankgroßen Objektes, das zweifellos ein Kunstwerk darstellen sollte, seine Bedeutung aber vor Barney verborgen hielt. Hier wuchsen Brennnesseln und Disteln. Ein guter Ort für einen schlechten Fisch. Barney beugte sich weit vor und tat, was getan werden musste.
Seine neuen Schuhe waren aus braunem Wildleder. Es war genau die Art Schuhe, die einem weder einen Wolkenbruch noch einen Hundehaufen verziehen. Und eine halbverdaute Bachforelle schon gar nicht. Barney konnte nur hoffen, sich weit genug vorgebeugt zu haben. Heiß und brennend nahm sein Abendessen Abschied von ihm. Barneys Atem ging keuchend. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Er spürte seinen klopfenden Puls in Brust und Schläfen. Noch einmal würgte er, dann war es überstanden. Erschöpft lehnte er sich an das kalte Metall in seinem Rücken und atmete die Nachtluft Schottlands.
Barney Brickfield war sechsunddreißig Jahre alt, trug bereits ein ansehnliches Bäuchlein spazieren und war auch ansonsten nicht mehr der Fitteste. Er würde sich eine ganze Weile an diese moderne Kunst lehnen müssen, bevor er sich wieder imstande sah, seinen Heimweg fortzusetzen.
Der saure Geschmack von Erbrochenem in seinem Mund ließ ihn an seine Aktentasche denken, die er, unter den Arm geklemmt, stets mit sich führte. Schon ertasteten seine Finger im Dunkeln den Schnappverschluss, schon griff er hinein und zerrte eine der vielen Tuben hervor, schraubte sie auf und hoffte inständig, keine Rasiercreme erwischt zu haben. Doch als er sich die Masse auf den Zeigefinger drückte, roch er den scharfen Duft der Minze. Es war Zahnpasta. Zum ersten Mal war er wirklich dankbar für seine derzeitige Beschäftigung als Vertreter für Körperpflegeartikel aller Art. Er steckte die Tube zurück in die Tasche und stellte diese neben sich ab.
Barney nahm sich Zeit. Ruhig und mit kreisenden Bewegungen verteilte er die Paste auf seinen Zähnen und in den Backentaschen. Gerne hätte er etwas zum Nachspülen gehabt. Da registrierte er das sanfte Gluckern eines nahen Baches. Das Gewässer schien sich gleich hinter den Disteln und Brennnesseln zu befinden. Barney fragte sich, ob die Bachforelle womöglich nach Hause gewollt hatte, und stellte zufrieden fest, dass sein Humor bereits zurückkehrte. In wenigen Minuten würde dieses Erlebnis nichts weiter als eine Anekdote für Stammtischrunden sein. Schon konnte er sich in Gedanken selbst erzählen hören: Damals. Im schottischen Dingsbums, da habe ich in einer finsteren Spelunke den schlimmsten Fisch meines Lebens serviert bekommen. Ich wäre fast gestorben … Barney musste bei diesem Gedanken lächeln. Er erwog, mit seinem Handy ein Beweisfoto von den Überresten zu schießen, verwarf den Gedanken aber wieder. Bilder von bereits gegessenem Essen fanden im Allgemeinen keinen großen Anklang. Auch wenn Barney sein Leben für gewöhnlich in all seinen Details mit seinem Handy festhielt, jetzt verzichtete er darauf.
Die kühle Novemberluft trocknete bereits den Schweiß auf seiner Stirn, sein Puls raste nicht mehr. Da hörte er von der anderen Seite des Kunstobjektes Schritte auf dem Pfad. Sie näherten sich ihm zügig, ließen das Laub auf dem Weg kräftig rascheln, wurden lauter und bremsten dann plötzlich ab. Der nächtliche Spaziergänger war stehengeblieben, direkt vor dem kreativen Gebilde, an dessen Rückseite Barney lehnte. Barney überlegte kurz, ob sich diesem Menschen womöglich die Bedeutung des Monstrums aus Stahl und Beton erschloss, und ob er eine Schönheit erfassen konnte, die Barney verborgen blieb. Wie auch immer, Barney entschied, dass es keine gute Idee war, jetzt überraschend aus dem Gebüsch zu treten. Der oder die Fremde würde sich über sein plötzliches Erscheinen ziemlich erschrecken. Denn wer, außer einem Sittenstrolch, sprang nachts in einem Park aus den Rabatten? Barney wartete geduldig darauf, dass der nächtliche Wanderer sich wieder entfernte. Doch das tat er nicht. Er schien ungeduldig auf der Stelle zu treten, als würde er auf etwas warten. Und tatsächlich hörte Barney jetzt wieder sich nähernde Schritte. Dieses Mal von der anderen Seite. Sie kamen langsam herangeschlendert. Die zweite Person schien keinerlei Eile zu haben.
»Na endlich«, hörte Barney die Stimme eines Mannes sagen.
Er stutzte. Hatte er die Stimme nicht kürzlich schon einmal gehört? Sie schien ihm zu der Person zu gehören, die gewartet hatte, denn die zweite Person bewegte sich noch immer auf die erste zu.
»Ich weiß wirklich nicht, warum wir uns an dieser gottverlassenen Stelle treffen müssen. Vermutlich eben deshalb, ja? Weil sie gottverlassen ist?« Die vertraut klingende Männerstimme lachte ein nervöses Lachen.
Barney spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Sein Instinkt sagte ihm, dass er gut daran tat, unbemerkt zu bleiben. Zwei Personen, die einen gottverlassenen Ort als Treffpunkt wählten, führten sicher nichts Gutes im Schilde. Es sei denn, hier wurde ein, aus welchen Gründen auch immer, verwerfliches Schäferstündchen eingeleitet. Doch das erschien ihm in einer Novembernacht unter freiem Himmel eher unwahrscheinlich.
Etwas knisterte.
»Hier. Es ist alles drin. Die gewünschten Informationen, mein Einsatz, alles. Damit bin ich aus der Nummer raus und warte nur noch auf das Ergebnis, richtig?«
Zum ersten Mal gab nun die zweite Person, der Schlenderer, einen Laut von sich. Es war ein kehliges Grunzen, das Barney keinen Hinweis auf das Geschlecht des Verursachers gab.
Barney lauschte angespannt weiter. »Und die Tickets für die Mermaid sind auch dabei. Wenn sie in der kommenden Woche den Hafen verlässt, wird sie all meine Sorgen mit sich nehmen, und sie werden nicht zu mir zurückkehren, nicht wahr?« Die zweite Person antwortete der ersten nicht mit Worten, doch irgendeine Reaktion musste es gegeben haben, denn die erste fuhr fort: »Wie ist der Plan? Wird es wie ein Unfall aussehen? Das hätte sicher ein paar Vorteile für uns alle. Verdirbt den anderen Passagieren auch die Kreuzfahrt nicht.« Wieder erfolgte keine hörbare Antwort, und der Erste sagte schnell: »Schon gut, schon gut. Ich muss das gar nicht wissen. Ist vermutlich besser, so wenig wie möglich zu wissen. Dann bleibt mir nur noch, eine gute Reise zu wünschen.«
Barney war in seinem Versteck inzwischen in eine Art Starre verfallen. Nur wenige Schritte von ihm entfernt wurde gerade ein Mordkomplott geschmiedet. Unerhört. Wenn er das seinen Stammtischfreunden erzählte! Die würden ihm diese Geschichte kaum abnehmen! Aber musste er es nicht auch der Polizei melden? Hatte er nicht die Pflicht, etwas zu unternehmen?
So abrupt wie die Unterhaltung vor dem Denkmal begonnen hatte, so abrupt endete sie auch wieder. Fast hätte Barney ihr Ende verpasst. Jetzt hörte er Schritte, die sich in entgegengesetzte Richtungen voneinander entfernten. Er hörte sowohl schnelles Marschieren als auch gemächliches Schlendern durch die gefallenen Blätter. Und jetzt erwachte Barneys Jagdinstinkt. Wer waren die beiden Verschwörer gewesen? Die Stimme des einen zumindest war ihm vage bekannt vorgekommen. Wenn es ihm gelänge, nur einen Blick auf den Redner zu werfen, hätte er Gewissheit. Oder sollte er sich lieber die andere Person genauer anschauen? Mit welcher Information konnte er der Polizei den wertvolleren Hinweis geben? Er würde entweder eine Beschreibung des Killers oder seines Auftraggebers liefern können. Alles, was er dafür tun musste, war, an einer der beiden Personen vorbeizulaufen, die ihn für einen ahnungslosen Passanten halten musste. Da kam Barney ein weiterer Einfall. Während er aus seinem Versteck heraus auf den Weg trat, ertastete er sein treues Handy in der Jackentasche, zog es heraus und wischte über das Display. Jetzt musste er sich entscheiden. Wem sollte er folgen? Dem Marschierer oder dem Schlenderer? Der Quasselstrippe oder dem Grunzer? Angestrengt sah er nach links und rechts. Zu seiner Rechten konnte er die sich entfernende Gestalt eines Mannes im Schein einer Laterne erkennen. Links versperrte ihm eine Kurve die Sicht auf den Pfad.
Und dann traf Barney Brickfield die falsche Entscheidung. Und er würde die Geschichte von der verdorbenen Bachforelle und dem denkwürdigen Gespräch am Denkmal niemals, in keinem Pub der Welt, erzählen.