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Tomatensaft

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»Fliegen Sie zum ersten Mal?« Der Mann auf dem Nachbarsitz, der mit seiner eher zur Breite als zur Höhe neigenden Statur Colins Bewegungsfreiheit stark einschränkte, sah ihn fragend an.

»Warum? Mache ich auf Sie den Eindruck?«

»Nun, als das Flugzeug beschleunigte, haben Sie sich in meinem Jackenärmel verkrallt und dabei ein Gesicht gemacht, als wollten Sie aussteigen und vorsichtshalber anschieben.«

Colin stellte betreten fest, dass die Finger seiner rechten Hand noch immer ein Stück Stoff vom Jackenärmel des Fremden umschlossen, und ließ es augenblicklich los.

»Entschuldigung. Nein, ich fliege nicht zum ersten Mal. Ich fliege nur sehr selten. Und ich habe tatsächlich stets das Bedürfnis, beim Abheben ein wenig nachzuhelfen. Anschieben durch Willenskraft, verstehen Sie?«

Colin nahm sich die Zeit für ein paar tiefe Atemzüge. Ein Flugzeug in der Luft war für ihn völlig in Ordnung. Ein Flugzeug am Boden auch. Nur die Übergänge zwischen beidem lagen ihm nicht besonders.

»Das habe ich gleich bemerkt. Ich verfüge nämlich über eine großartige Menschenkenntnis, müssen Sie wissen. Ohne die hätte ich es im Leben nicht so weit gebracht«, sagte der Fremde und öffnete umständlich den Sicherheitsgurt.

Colin sah sich seinen Sitznachbarn genauer an. Er besaß genau die Statur, für die Flugzeugsitze nicht kon­stru­iert worden waren. Zwar hatte er genug Kopffreiheit, aber er war zu rund. Wie bei einem Schneemann saß der kugelige Kopf auf einem kugeligen Körper. Zwischen seinen Bauch und die Lehne des Vordersitzes passte kaum noch eine Tageszeitung. Colin konnte sich nicht bewegen, ohne den anderen in die Seite zu stoßen. Hätte Colin eine Wahl gehabt, neben welchem Mitreisenden er die nächsten Stunden eingepfercht über den Atlantik fliegen würde, auf diesen Mann wäre sie ganz sicher zuletzt gefallen. Er haderte kurz mit dem Schicksal. Warum hatte er nicht den Platz neben der süßen Brünetten bekommen, die ihn über den Gang hinweg und am Bauch seines Nebenmannes vorbei anlächelte? Jetzt würde er sich den ganzen Flug über an der Seite dieses Kugelmannes ans Fenster drücken lassen müssen. Die Reise nach New York begann wenig vielversprechend.

Eine junge Dame mit neckischem Halstuch in den Farben der Fluggesellschaft schob ihr Wägelchen durch den Gang und reichte Colin auf dessen Wunsch hin mit unverbindlichem Lächeln ein Sandwich und einen Becher Tomatensaft. Colin beäugte das in Zellophan verpackte Nahrungsmittel skeptisch und begann, mehr aus Neugier als aus Appetit, mit dem Auswickeln.

»Und was treibt Sie in die Staaten?«, fragte der Fremde und rupfte energisch die Folie von seiner Zwischenmahlzeit.

»Die Mermaid. Ein Kreuzfahrtschiff, das am Pier von New York vertäut liegt und auf dem ich erwartet werde«, gab Colin bereitwillig Auskunft.

»Na, das ist ja ein Zufall! Ich reise ebenfalls mit der Mermaid!«, rief der Dicke. »Ich bin eigentlich gar nicht so der Kreuzfahrtfan, aber meine Kinder haben mir die Reise geschenkt! Sie sagten, es würde Zeit, dass ich mal etwas ausspanne, aber gemeint haben sie damit, dass sie eine Woche Ruhe vor mir haben wollen!« Er lachte, als habe er einen guten Witz gemacht. »Und Sie? Sind Sie häufiger auf Kreuzfahrtschiffen unterwegs?«

Colin schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, wird das meine erste Kreuzfahrt. Und es ist auch keine richtige Urlaubsreise. Ich verbinde eher das Angenehme mit dem Nützlichen. Ich werde auf der Mermaid Tanzstunden geben. Wenn es Ihnen also gelingen sollte, an Bord des Schiffes eine hübsche Dame zu erobern, bringen Sie sie zu mir. Ich lasse Sie beide dann Tango tanzen, bis der Mond aufgeht und eine romantische Nacht verspricht.«

Der Mann auf dem Nachbarsitz wollte sich schier ausschütten vor Lachen. Colin war es, als würden Minuten vergehen, bevor sich wieder in der Gewalt hatte.

»Na, Sie sind mir ja vielleicht einer. Sie verstehen Ihren Job. Sie haben gleich erkannt, dass Sie mich mit Tango allein nicht ködern können, nicht wahr? Also versprechen Sie mir eine verführerische Schönheit, die ich auch noch selbst aufreißen muss, bevor ich sie beim Tanzlehrer abliefere. Clever, wirklich clever.«

Er streckte Colin seine knubbelige Hand entgegen, deren Mittelfinger ein ungewöhnlicher Ring schmückte.

»Theodore Toole. Aber Sie dürfen Ted zu mir sagen.«

»Hallo, Ted. Ich heiße Colin. Und ich verspreche Ihnen, dass Sie jede Dame, die Sie bei mir abliefern, behalten dürfen, in Ordnung?«

Ted lachte wieder los, und Colin sah sich peinlich berührt im Flugzeug um. Ja, man schielte bereits zu ihnen herüber. Es war an der Zeit, Ted zum Reden zu bringen und gleichzeitig von weiteren Lachsalven abzuhalten.

»Und Sie sind also Amerikaner, Ted?«, riet Colin aufs Geratewohl. Sprechen konnte Ted im Gegensatz zum Lachen auf Zimmerlautstärke. Das Lachen brach auch prompt ab, kaum dass Colin seine Frage zu Ende gesprochen hatte.

»Amerikaner? Wie kommen Sie denn auf diese Idee? Ich bin Schotte!«

»Im Ernst? Hört man gar nicht«, sagte Colin ehrlich überrascht.

»Natürlich hört man das nicht mehr. Hat mich auch eine schöne Stange Geld gekostet, der Sprechunterricht. Ich bin ein Geschäftsmann von Welt, Colin. Da kann ich schlecht klingen wie ein dahergelaufener Whiskypanscher aus dem Hochland. Aber dass Sie mich für einen Amerikaner gehalten haben, gefällt mir nicht, Colin. Amerikaner haben doch einen ganzen Sack voll seltsamer Dialekte und Akzente.«

Colin verschwieg Ted, dass es weniger seine Aussprache als vielmehr sein Auftreten gewesen war, das ihn diese Vermutung hatte äußern lassen. Ted bediente eine ganze Reihe von Klischees, wie er hier so neben ihm saß. Und es waren keine, die man üblicherweise den Schotten zuschrieb. Doch das konnte er dem Mann schlecht sagen. Stattdessen sagte Colin: »Sie sind Geschäftsmann, Ted? Womit genau verdienen Sie denn Ihre Brötchen?«

»Lakritze«, sagte Ted, griff sich in die Innentasche seiner Jacke und zog eine bunt bedruckte Plastiktüte hervor. »Unser neuestes Produkt. Kirsch-Lakritz-Bonbons. Wollen Sie mal probieren, Colin?«

Colin war sich ziemlich sicher, dass die Geschmäcker von Käsesandwich und Kirsch-Lakritz-Bonbons nicht miteinander harmonierten, aber er wollte nicht unhöflich sein. So griff er in die Tüte und zog ein rot-schwarz gestreiftes Bonbon hervor.

»Das wird der absolute Renner, sage ich Ihnen. Drei neue Sorten bringe ich in diesem Winter auf den Markt. Die Kirsch-Lakritze ist nur eine davon. Wir haben auch noch Vanille- und Waldmeister-Lakritze. Das wird den Markt revolutionieren!«

»Sie stellen also ausschließlich Süßwaren her?«, hakte Colin nach und bewegte das Bonbon in seinem Mund vorsichtig hin und her. Es war wirklich lecker. Viel leckerer als das Sandwich in seiner Hand. Er legte es zur Seite und genoss das fruchtig würzige Geschmackserlebnis des Bonbons.

»Lakritze, Colin. Ich stelle nur Lakritze her. Salzig oder süß, als Bonbon oder Weingummi, ganz egal. Aber Lakritze muss es sein.«

»Und damit sind Sie weltweit erfolgreich?«, fragte Colin.

Ted schob sich selbst ein Bonbon in den Mund. »Ich gebe mir Mühe. Und das schon seit vielen Jahren. Und es zahlt sich aus. Noch kennt nicht jeder Mann und jedes Kind auf der Welt Toole’s Black Treats, aber ich arbeite daran. Zusammen mit meiner ganzen Familie. Wir sind ein richtiges Familienunternehmen. Diese Kirschkreation«, er deutete auf die Tüte in seiner Hand, »war die Idee meiner Tochter Mabel. Die Kleine hat ein Händchen fürs Geschäft. Auch meine älteste Tochter Celia ist ein Segen für die Firma. Leider haben beide Mädchen Vollpfosten geheiratet, aber man kann nicht alles haben, nicht wahr? Und aus den Schwiegersöhnen muss man eben das Beste machen.«

»Die beiden Herren haben wohl kein Interesse an Lakritze«, mutmaßte Colin.

»Doch, das haben sie schon, aber eben keine Ahnung. Und keinen Geschmack«, stellte Ted fest. »Und Sie, haben Sie Familie, Colin?«

Colin dachte daran zurück, wie Lucy sich schnell und wortkarg von ihm auf dem Flughafen Heathrow verabschiedet hatte und, ohne sich noch einmal umzublicken, in der Menschenmenge verschwunden war. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie ihm immer noch grollte, weil er diese Reise ohne sie antrat. Das zarte Verzeihen, dass sich bei Louies Begräbnis angekündigt hatte, war rasch wieder verkümmert.

»Nein. Ich habe keine Familie. Es hat sich nicht ergeben.«

»Oh, das tut mir leid. Umso wichtiger ist für mich die Information, dass ich jede Dame, die ich in Ihr Tanzstudio führe, behalten darf. Ich nehme Sie beim Wort.«

»Das dürfen Sie ruhig«, versicherte Colin.

»Ich bin schon seit Jahren Witwer. Eine nette, weibliche Reisebekanntschaft wäre ganz in meinem Sinne. Allein sein ist auf Dauer langweilig und mühsam. Meinen Sie, dass viele alleinstehende Frauen auf einer Kreuzfahrt anzutreffen sind? Meine Tochter Celia hat das behauptet.«

»Ich kann dazu leider gar nichts sagen. Wir werden es erleben, nicht wahr?«

Ted lachte wieder dröhnend los und rief: »Sie sind ein Schlawiner, Colin!« Irgendwo hinter ihnen im Flugzeug erklang ein ärgerliches Schnauben. Colin sah sich um, konnte das Geräusch aber keinem Mitreisenden zuordnen. Die meisten schienen in eine Lektüre vertieft oder gaben vor zu schlafen. In diesem Moment hielt Ted Colin erneut die Bonbontüte unter die Nase.

»Wollen Sie noch eins?«

Colin wollte. Der Flug würde noch lange dauern. Er würde ihn sich versüßen, insoweit das möglich war. Bereitwillig griff er in die Tüte, die Ted ihm hinhielt, und zog ein weiteres rot-schwarz gestreiftes Bonbon hervor. Dabei fiel sein Blick noch einmal auf den Ring an der Hand des Fabrikanten. Colin stutzte. Das Bonbon in seiner Hand und der Stein in dem auffälligen Goldring hatten die gleiche dreieckige Form. Auch waren beide schwarz, doch den Stein im Ring durchzogen goldene Spiralen und keine roten Streifen wie im Falle seines Bonbons. Ted, der seinen Blick bemerkt hatte, hielt ihm stolz seine Rechte hin.

»Den habe ich mir zum zwanzigjährigen Firmenjubiläum anfertigen lassen. Der Stein ist natürlich aus Glas. Doch er symbolisiert in Form und Farbe das, was mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin.«

»Ein Lakritzmagnat?«, erwiderte Colin und brachte Ted damit erneut zum Lachen.

»Ich mag Ihren Humor, Colin, wirklich. Wir beide werden sicher viel Spaß auf diesem Luxusdampfer haben. Wenn Sie erlauben, bringe ich gleich zwei Damen mit in die Tanzstunde, dann kann ich großzügig sein und Ihnen eine dalassen.«

Colin stimmte höflich in Teds Lachen ein und glaubte, erneut ein verächtliches Schnauben aus einer der hinteren Sitzreihen des Flugzeugs zu hören. Vermutlich ärgerte sich eine wohlerzogene Dame leidenschaftlich über Teds aufdringlich lautes Lachen. Colin wollte versuchen, das Thema zu wechseln und in eine weniger erheiternde Richtung zu lenken, bevor sich das Schnauben zu offen ausgesprochener Empörung auswuchs.

»Und Sie leben und arbeiten in Schottland, Ted? Erzählen Sie mir von Ihrer Heimat.«

»Nichts lieber als das. Howgrove an der Which. Das ist der Name meines Heimatortes. Die Which ist ein Rinnsal, das dem Ort viele Brücken beschert. Wie eine Lebensader zieht sich der Fluss durch den Ort. Auch durch mein Grundstück. Doch eigentlich braucht niemand dieses Flüsschen. Gibt ein paar Forellen darin, aber glauben Sie mir, meine Lakritze ist besser.«

Ted plapperte munter vor sich hin und sprach von neun Aussichten, Bonbons, seinem wundervollen Haus und Bonbons. Colin spürte, wie ihm die Augen zufielen. Er wehrte sich nicht.

Der Drink des Mörders

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