Читать книгу Der Drink des Mörders - Miriam Rademacher - Страница 5
Prosecco
Оглавление»Guckst du da! Da ist Mermaid!«
Colins Blick folgte Adils ausgestrecktem Zeigefinger und er atmete vor Erleichterung auf. Der junge Pakistani, dessen Taxi im Inneren ausgestattet war wie eine Zweimanndisco, kutschierte ihn seit einer gefühlten Ewigkeit durch die Hafenanlagen von Brooklyn. Colin war irrigerweise davon ausgegangen, dass sich ein großes Kreuzfahrtschiff wie die Mermaid in einem Hafen nur schwer übersehen ließ, doch Ozeanriesen gab es viele, und einer verdeckte die Sicht auf den nächsten. Zudem hatten die unterschiedlichen Terminals Colin verwirrt, weswegen er sich ganz auf Adil verlassen hatte. Und jetzt bestätigte sich, dass dies eine gute Entscheidung gewesen war. Steil ragte der Bug der Mermaid vor ihm auf. Hätte das Schiff seinen Schriftzug nicht in leuchtendem Blau zur Schau getragen, Colin hätte es im ersten Anlauf nicht einmal als solches erkannt. Die Mermaid war über dem schnittigen Bug auffallend breit und weit weniger elegant, als ihr Name vermuten ließ. Sie war auch erschreckend hoch und beides zusammen ließ sie wie ein weißer Klotz erscheinen. Ein gewaltiger Klotz, der so gar nicht aussah wie etwas, das schwimmen konnte. Colin unternahm einen halbherzigen Versuch, die Balkone zu zählen, ließ es aber wieder bleiben. Es waren ihm zu viele. Er vermutete, dass, hätte man die Mermaid mit voller Wucht in den Sandstrand der französischen Mittelmeerküste gerammt, niemand sie von einem gewöhnlichen Hotel hätte unterscheiden können.
»Da drüben ist Gangway! Aber erst durch Terminal. Einchecken«, rief Adil in diesem Moment.
Colin fragte sich, ob das Weglassen der Artikel eine Art Markenzeichen von Adil war, dann warf er einen Blick auf das Taxameter. Er überlegte kurz, ob er für den Preis auch ein Auto hätte kaufen können, addierte in Gedanken aber trotzdem ein sattes Trinkgeld dazu. Der sympathische Adil und sein Taxi waren ein großer Glücksgriff gewesen, nachdem er das Flugzeug als frischgebackener Lakritz-Fachmann verlassen hatte. Colin hatte an Teds Seite so viele Bonbons verspeist, dass er auf das eher fade Essen der Fluggesellschaft locker hatte verzichten können.
»Nimmst du Helm mit. Nicht vergessen«, rief Adil und deutete auf die Rückbank, wo eine Art Wikingerhelm von christbaumkugelroter Farbe lag, gekrönt von zwei blinkenden Elchschaufeln.
Dieses ungewöhnliche Fundstück verdankte Colin ebenfalls Adil. Auf Colins schüchterne Frage hin, wo man denn in New York ein wenig Weihnachtsschnickschnack erwerben könne, hatte Adil ihn schnurstracks in das Kuriositätengeschäft seines Onkels gefahren. Dort hatte Colin weder Elfenohren noch Rentiergeweihe für Norma entdecken können. Aber da er New York nicht mit leeren Händen verlassen wollte, hatte er sich für diese Monstrosität entschieden, an der Norma sicher viel Freude haben würde. Vorausgesetzt, sie würde es nicht in Jaspers Krippenspiel zum Einsatz bringen.
Als das Taxi hielt und Adil Colins Gepäck ausgeladen hatte, verabschiedeten sie sich voneinander wie alte Freunde. Kurz darauf verschwand Adils rollende Disco zwischen anderen Taxis, die den Hafen abfuhren, und Colin wandte sich dem Terminalgebäude zu. Er wappnete sich für das Procedere des Check-in und hoffte inständig, dass man ihn, als vorübergehendes Crewmitglied, schnell durchwinken würde.
Tatsächlich fand er sich schneller als vermutet vor der Gangway des Schiffes wieder. Um ihn herum herrschte reges Treiben. Unmengen an Gepäck und Nützlichem, vom Klopapier bis zur Ananas, wurden verladen. Colin stand mittendrin und ließ die imposante Mermaid auf sich wirken. Und er versuchte, das Gefühl der Enttäuschung zu unterdrücken, weil ihr Anblick so wenig von Freiheit und Abenteuerlust ausstrahlte. Sie war nur ein schwimmender Hotelkomplex, auf dessen Vergnügungsmeile er für acht Tage Dienst tun würde. Vermutlich würde es nur Stunden dauern, bis er vergessen haben würde, dass er sich überhaupt auf einem Schiff befand.
Den Elchhelm in der einen und sein Handgepäck in der anderen Hand, trat Colin auf die Gangway zu, an deren Geländer ein junger Mann in Arbeitskleidung und gelber Warnweste gerade ein Banner mit dem Schriftzug des Schiffsnamens befestigte.
Statt einer Leiter glich die Gangway mehr einer Rampe mit Sicherheitsschwellen statt Stufen. Colin hatte kaum den ersten Fuß auf das Blech gesetzt, als er auch schon die volle Aufmerksamkeit des jungen Mannes hatte. Sein Haar war lackschwarz, seine Haut dunkel wie die Adils. Und auch er verzichtete großzügig auf Artikel.
»Eingang nicht fertig. Bitte warten.«
»Ich bin kein Gast. Ich komme, um hier auf dem Schiff zu arbeiten. Es ist mir eigentlich egal, ob Sie den roten Teppich schon ausgerollt haben. Und ich wäre gern auf meinem Posten, bevor die neuen Passagiere die Gangway stürmen.«
Colin war sich nicht sicher, ob der Mann jedes seiner Worte verstehen konnte, aber die Kernaussage seiner Botschaft schien angekommen zu sein. Der Mann nickte eifrig und winkte ihn vorbei. Vorsichtig erkundeten Colins Füße den ungewohnten Untergrund. Und jetzt kam es doch über ihn: das Gefühl von Aufbruch. Das Gefühl von Freiheit und Abenteuerlust. Was der Anblick der Mermaid nicht vermocht hatte, die Gangway, auf der jeder seiner Schritte hallte, gab es ihm. Jetzt und in diesem Moment hatte er wirklich das Gefühl, ein Schiff zu betreten, und mit jedem Schritt wuchs seine Freude darüber, diese Gelegenheit wahrgenommen zu haben.
Der Effekt verlor sich genau in dem Moment wieder, als er in den Bauch des Schiffes eintrat. Das Dröhnen von Staubsaugern empfing ihn. Junge Mädchen, die ihrem Aussehen nach aus aller Herren Länder stammten, wuselten, ausgestattet mit Putztüchern und Eimern, über den dunkelroten Teppich und hatten es eilig. Hier drinnen sah es aus wie in einem x-beliebigen Hotel, hier roch es wie in einem Hotel, und die freundlich grinsende Frau hinter dem Empfangstresen hätte genauso gut in ein erstklassiges Hotel auf dem Festland gepasst.
»Sie sind früh dran. Wir erwarten den Ansturm der Gäste erst in zwei Stunden«, empfing sie ihn mit freundlichen Worten und schien nach einem Stapel Unterlagen greifen zu wollen.
Colin winkte ab. »Ich bin kein Gast. Ich bin der neue Tanzlehrer. Ich ersetze meinen Freund Paddy Lore für die Dauer der Überfahrt nach England. Ich wäre natürlich durch die Hintertür an Bord gekommen, wenn ich die gefunden hätte.«
»Ach, Sie sind Colin! Paddy hat mir von Ihnen erzählt. Schön, dass Sie kurzfristig für ihn einspringen konnten. Daphne wollte eigentlich bei Ihrer Ankunft hier sein und Sie in Empfang nehmen. Moment! Ich werde kurz in ihrer Kabine anrufen und sie herbitten. Wo ist denn das Telefon hin?« Sie hob einige Bögen Papier an, die vor ihr lagen. Doch ein Telefon fand sie nicht. Sie warf Colin einen entschuldigenden Blick zu. »Zwischen An- und Ablegen ist es hier immer ein bisschen stressig.«
Colin ließ seinen Blick schweifen und fand, dass die Frau, deren Plastikschildchen sie als C. Myers auswies, untertrieb. Vom Foyer aus hatte er freien Blick auf Galerien und Ränge über ihm. Überall herrschte eifriges Treiben. Genau wie im Foyer lief und schob sich das Putzgeschwader mit schwerem Gerät über die Flure. Gewundene Treppen führten hinauf zu den höher gelegenen Ebenen, verschwanden aus seinem Blickfeld, tauchten wieder auf, und ließen das Innere der Mermaid wie ein Treppenhaus aus einer Zeichnung von M. C. Escher wirken. Colin hätte es nicht verwundert, wenn Personen die Szenerie kopfüber oder im rechten Winkel zum Boden betreten hätten, und er fürchtete, sich hier niemals zurechtzufinden.
»Wo ist denn jetzt dieses blöde Telefon«, schimpfte C. Myers am Empfang leise und warf Colin einen weiteren entschuldigenden Blick zu. Sie stand unter Stress. Wie alle um sie herum, die sich nach Kräften bemühten, die Mermaid innerhalb kürzester Zeit auf Vordermann zu bringen und sich gegen den baldigen Ansturm der Gäste zu wappnen. »Es ist weg. Es wird sicher irgendwo wieder auftauchen, das muss es ja schließlich, aber ich kann es nicht finden. Ich werde jemanden vom Personal bitten, Sie zu Daphne zu bringen.«
»Das ist nicht mehr nötig. Daphne ist schon da«, sagte eine Stimme. Colin wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und sah eine Königin durch die pompöse Halle auf sich zuschreiten.
Sie war groß, fast so groß wie er selbst. Keineswegs zierlich, eher stattlich. Ein blasser Hauttyp mit wasserblauen Augen, die das Schwarz ihres Bubikopfes als Fälschung verrieten. Von Natur aus war sie vermutlich eher der dunkelblonde oder hellbraune Typ. Zwei Haarfarben, die in den Tanzsälen dieser Welt offiziell nicht existierten. Colin wusste nur zu gut, dass für Profitänzerinnen nur drei Haarfarben in Frage kamen: schwarz, blond, und rot. Alle anderen galten als nicht publikumswirksam und wenig kameratauglich. Ihr Auftreten, ihre fließenden Bewegungen und das Humorvolle in ihrem Blick nahmen Colin sofort für sie ein.
»Hallo, Colin. Ich bin Daphne. Paddys Partnerin. Und für die nächsten acht Tage nun ganz die Deine.« Sie reichte ihm die Hand und zwinkerte ihm zu.
Ihre samtweiche Stimme passte nicht nur zu ihrem Erscheinungsbild und ihrer Ausstrahlung. Sie passte zu dem, was Colin sich für die nächsten Tage als Partnerin erhofft hatte. Ihm fiel auf, dass Daphne mit ihrem Gesicht lächeln konnte, ohne auch nur einen Mundwinkel bewegen zu müssen. Sie strahlte ein starkes Selbstbewusstsein aus, das fern jeder Arroganz war. Daphne war der Typ Frau, der jedes andere weibliche Wesen sofort, ob gewollt oder ungewollt, in die Konkurrenzrolle drängte. Eine Rolle, in der man neben Daphne nur schwerlich bestehen konnte. Colin war sich sicher, dass Paddy und Daphne sehr gute Freunde waren. Vermutlich hatte Daphne ausschließlich männliche Freunde. Frauen würden sich nur ungern in Daphnes Begleitung sehen lassen, aus Angst, neben ihr zu verblassen. Sie war wie ein blankpolierter Ferrari, der jeden Wagen, der es wagte, in unmittelbarer Nachbarschaft zu parken, in eine niedliche Blechdose verwandelte. Colin kam in den Sinn, dass Lucy Daphne vermutlich gehasst hätte.
Jetzt zuckte es verstärkt um Daphnes Mundwinkel und Colin wurde sich der Tatsache bewusst, dass er sie bereits zu lange anstarrte, um seine Faszination noch glaubhaft verbergen zu können.
Er versuchte, seine aufkommende Verlegenheit mit einem kleinen Redeschwall zu kompensieren. »Ich freue mich, dich kennenzulernen und würde gerne behaupten, dass Paddy mir schon oft von dir erzählt hat. Tatsächlich aber habe ich deinen Namen im Zusammenhang mit dieser Reise zum ersten Mal gehört. Arbeitest du schon lange mit Paddy zusammen? Kennt ihr euch aus London?«
Colin bemerkte, dass er faselte und beendete seinen Monolog, indem er Daphnes ausgestreckte Hand ergriff und schüttelte. Daphne ließ ihn schütteln und war weiterhin von einer betörenden Ruhe. Fast fühlte es sich an, als erwarte sie einen Kniefall samt Handkuss von ihm, doch Colin konnte sich beherrschen. Und Daphne war so freundlich, den wirren Faden seiner Gesprächsführung aufzugreifen.
»Dafür hat Paddy umso mehr von dir erzählt, Colin. Von eurer gemeinsamen Zeit in London. Und, dass du heute so eine Art Profiler in deinem eigenen Detektivteam bist. Paddy sagt, du hast schon Mordfälle für die Polizei gelöst. Das klingt sehr spannend.«
Hätte Paddy jetzt neben ihm gestanden, Colin hätte ihm vors Schienenbein getreten. Seine Abenteuer in den Cotswolds waren nichts, womit er üblicherweise prahlte, und er hatte Paddy ganz im Vertrauen von diesen Ereignissen erzählt. An Bord eines Luxusliners kamen ihm Geschichten über Mord und Totschlag ganz besonders unpassend vor.
»Ich vermute, dass Paddy ein wenig übertrieben hat. Das tut er gern, wie wir beide wissen.«
»Tut er das wirklich? Na, vielleicht gelegentlich. Das bedeutet sicher, er hatte gar keinen Sex mit Prinz Charles, richtig?« Daphne zwinkerte ihm verschwörerisch zu und Colin schmunzelte.
»Die Geschichte kenne ich noch gar nicht. Ich bin mir sicher, auch in dem Fall hat Paddy gnadenlos übertrieben.«
»Komm mit mir mit. Ich zeige dir, wo du das da«, Daphne deutete auf den Elchhelm in seiner Hand, »verstauen kannst.«
»Das ist ein Geschenk für eine Freundin«, beeilte sich Colin zu versichern, klemmte sich Handgepäck und Helm unter die Arme und folgte Daphne durch die Halle. Der Elchhelm blinkte noch immer lustig vor sich hin. Wo hatte das Ding eigentlich seinen Ausschalter?
»Wir nehmen den Fahrstuhl. Das geht schneller«, sagte Daphne und hatte schon den Messingknopf neben einem verschnörkelten Schiebegitter gedrückt. Colin gelangte zu der Erkenntnis, dass die Architekten der Mermaid versucht hatten, den Stil längst vergangener Jahrzehnte nachzubilden. Zu schade, dass ihnen diese Idee nicht beim äußeren Erscheinungsbild des Schiffes gekommen war.
Die Kabine hielt, das Gitter glitt vollautomatisch zur Seite und sie traten ein. Ein sanftes Rucken verriet, dass die Kabine sich wieder in Bewegung setzte.
In diesem Moment fand Colin den winzigen Schalter unter der rechten Elchschaufel und drückte ihn hoffnungsvoll. Der Helm begann, Jingle Bells zu dudeln. Energisch drückte er erneut auf den Knopf und dieses Mal verstummte das Ungetüm. Daphne schwieg taktvoll und Colin fand, dass es an der Zeit für leichte Konversation sei.
»Wo haben Paddy und du sich kennengelernt?«
»Auf einem Tanzturnier. Keine große Sache, ich startete dort unter ferner liefen mit meinem damaligen Partner. Leider gestand er mir nach dem Quickstep, dass er in Zukunft nicht mehr mit mir tanzen würde. Ich brach in Tränen aus, flüchtete mich in die Garderobe und dort fand mich Paddy. Er trocknete meine Tränen und versprach mir einen Walzer, wenn ich wieder lachen würde. Das war alles, was ich in diesem Moment brauchte und hören wollte. Seitdem arbeiten wir immer mal wieder zusammen. Nachdem er diesen Job hier an Land gezogen hatte, fragte er mich, ob ich Lust hätte, für eine Weile aus London zu verschwinden. Und die hatte ich.«
»Wie konnte dein Partner nur so dämlich sein, dich auszutauschen?«, fragte Colin verwundert.
»Oh, es war nicht seine Entscheidung. Seine Freundin konnte mich nicht leiden. Sie hat drauf bestanden.«
Colin sah in dieser schlichten Antwort all seine Spekulationen über Daphne bestätigt. Sie war das Mädchen, das niemals eine Freundin gehabt hatte und vielleicht auch nie eine haben würde. Sie war zu perfekt und damit die ewige Konkurrenz, die sich niemand gern ins Haus holt.
»Und du und Paddy, ihr seid … Freunde?«, fragte Daphne.
Die Art und Weise, in der sie das Wort Freunde betonte, veranlasste Colin zu einer ebensolchen Betonung in der Antwort. »Ja. Wir sind nur Freunde.«
»Aha«, erwiderte Daphne.
Der Fahrstuhl hatte sein Ziel erreicht, ein weiteres Schiebegitter glitt zur Seite und Colin fand sich in einem Hotelflur wieder. Einem schmalen Hotelflur, auf dem es ähnlich lebhaft zuging wie in der großen Halle des Foyers. Die Putzkolonne der Mermaid war auch hier im Großeinsatz. Colin wünschte sich, sie hätten die Treppe anstelle des Fahrstuhls genommen. Fahrstühle trugen in aller Regel nicht dazu bei, sich bald in einer fremden Umgebung zurechtzufinden. Er hatte keine Ahnung, wo in dem großen Schiff er sich gerade befand. So folgte er Daphne brav bis zu der Kabinentür mit der Nummer 221 und sah ihr dabei zu, wie sie eine Plastikkarte in das elektronische Schloss schob, woraufhin die Tür aufsprang.
Colin hatte eine gleich aussehende Karte beim Check-in als Zimmerschlüssel erhalten und fragte sich nun, warum Daphne ihn nicht zuerst zu seiner eigenen Kabine geführt hatte, damit er seinen Elchhelm loswerden konnte. Zögernd betrat er die Kabine, die er für die ihre hielt, und begriff augenblicklich den Ernst der Lage, als sein Blick auf das Doppelbett fiel. Das hätte er eigentlich kommen sehen können. Er hatte nur schlichtweg nicht darüber nachgedacht, wie man das Tanzpaar für die Dauer der Kreuzfahrt unterbringen würde.
»Paddy hat immer auf der linken Seite geschlafen. Ist das okay für dich? Selbstverständlich ist es gerade frisch bezogen worden.«
»Wir beide haben eine gemeinsame Kabine«, stellte Colin fest und klang dabei so arglos, wie es ihm in diesem Moment möglich war.
Sein Blick wanderte über die Innenausstattung: Es war ein gewöhnliches Hotelzimmer. Vielleicht hatte man etwas mit dem Platz gegeizt, doch im Prinzip war alles vorhanden. Gleich rechts neben der Eingangstür gab es einen Einbauschrank und eine weitere Tür, die sicher in ein Badezimmer führte. Gegenüber befanden sich ein großer Spiegel und ein paar Garderobenhaken, denen er nun das Elchgeweih anvertraute. Außerdem gab es noch einen Sessel samt Tischchen, um eine Sitzecke anzudeuten, und einen Schreibtisch mit Blick auf einen neu wirkenden Flachbildschirm. Davor stand eine kleine Flasche Prosecco flankiert von zwei Gläsern. Vermutlich eine Aufmerksamkeit des Hauses anlässlich seiner Ankunft. Vielleicht auch ein Verführungsversuch Daphnes, was Colin lieber nicht hoffen wollte.
»Hat Paddy dir das nicht erzählt? Wir teilen uns immer ein Zimmer, wenn wir gemeinsam unterwegs sind. Auf Kreuzfahrtschiffen werden Tanzpaare für Shows meist in einer gemeinsamen Kabine untergebracht. Aber wenn es ein Problem für dich ist, dann …« Daphne schien der Gedanke, dass er eine Einzelkabine erwartet haben könnte, soeben zum ersten Mal gekommen zu sein. Sie sah Colin verunsichert an und ihre Wangen färbten sich zartrosa. Colin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Paddy hat es dir wirklich nicht erzählt?«
Colins Grinsen wurde noch breiter. Er lehnte sich an die Badezimmertür und ließ Daphne kurz zappeln, bevor er antwortete: »Nein, das hat unser lieber Paddy wohl vergessen zu erwähnen. Typisch für ihn, würde ich sagen.«
»Ja, das ist wirklich typisch für ihn. Ich hatte ihn gebeten, dich auf die gemeinsame Unterbringung hinzuweisen. Aber vermutlich konnte er sich nicht vorstellen, dass du etwas dagegen hättest.«
»Es überrascht mich nur etwas. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass Paddy gerade jetzt in seinem Flieger in Richtung Heimat sitzt und sich ins Fäustchen lacht, wenn er sich genau diese Szene vor seinem geistigen Auge ausmalt.«
Colin setzte sich auf die Bettkante, zog die Schuhe von den Füßen und ließ sich zurücksinken. Probehalber wippte er leicht auf und ab.
»Bequemer als zu Hause. So lässt es sich leben«, sagte er und beobachtete Daphne, die unschlüssig an der Bettkante stand und an ihrer Unterlippe kaute.
Einen Augenblick später ließ sie ihn an ihren Gedanken teilhaben:
»Wir könnten eine Wäscheleine durchs Zimmer spannen und Badetücher drüberhängen, wenn du gern ein eigenes Reich hättest. Aber ich kann natürlich auch an der Rezeption fragen, ob irgendwo auf dem Schiff noch ein anderes Bett für dich frei ist. Meist ist die Mermaid allerdings ziemlich ausgebucht.«
Colin fand, dass es an der Zeit war, Daphne ihre Sorge zu nehmen. »Für eine Woche werden wir uns schon miteinander arrangieren.« Dann deutete er auf den Prosecco und die beiden Gläser. »Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich erwähnen, dass zu Hause meine reizende Freundin auf mich wartet, die ich ganz sicher nicht unglücklich machen möchte. Es wird sich also nichts zwischen uns abspielen. Das hattest du aber auch hoffentlich nicht erwartet.«
»Nein, natürlich nicht«, entfuhr es Daphne und sie ließ sich neben Colin aufs Bett fallen. »Ehrlich gesagt, habe ich geglaubt, ein Freund von Paddy müsste genauso schwul sein wie er selbst. Wie man sich doch täuschen kann. Ich bin sehr erleichtert, dass du es locker nimmst. Ich sah mich schon die halbe Mannschaft aufmischen auf der Suche nach einer freien Koje. Und du hast wirklich eine Freundin? Ist sie nett?«
Colin dachte, dass Lucy, könnte sie ihn und Daphne jetzt sehen, keineswegs nett zu ihnen gewesen wäre, antwortete aber: »Sie ist nett und hübsch. Eine wirklich verführerische Kombination.«
Daphne runzelte die Stirn »Und du hast sie nicht mitgebracht? Ihr zwei hättet ja auch uns beide für diese Reise ersetzen können. Die acht Tage Pause hätte ich schon verkraftet.«
Colin sah Daphne mit Verschwörermiene an und flüsterte: »Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«
Daphne riss die Augen auf und nickte dann.
»Sie kann nicht tanzen.«
»Sie kann nicht tanzen?« Daphne klang ehrlich schockiert.
»Naja. Sie kann sich schon zur Musik bewegen, wenn man sie führt. Aber sie ist keine Tänzerin. Sie hätte hier weder unterrichten noch Shows tanzen können. Sie betreut Vorschulkinder.«
»Nicht zu fassen. Hat dir niemand gesagt, dass Mischehen niemals gut gehen, Colin? Du musst ihr das Tanzen beibringen!«
Colin, der den Ausdruck »Mischehen« in diesem Zusammenhang unglaublich komisch fand, hatte Mühe, ernst zu bleiben. Feierlich versprach er Daphne, dass er Lucy das Tanzen beibringen würde, sobald er wieder in England sein würde. Dann kam er auf die Arbeit zu sprechen.
»Das läuft hier eigentlich ganz entspannt ab«, sagte Daphne. »Tanzkurse gibt es zu festen Zeiten, sowohl am Vor- als auch am Nachmittag. Sehr beliebt sind die Privatstunden. Du trägst deine zu vergebenen Stunden einfach auf einem Plan, der vor dem Tanzsaal hängt, ein, und die Gäste notieren ihren Namen dahinter. Abends findet kein Unterricht statt, da wird im Ballsaal getanzt. Wir werden während der Überfahrt ein oder auch zwei Tanzshows zum Besten geben müssen, aber das Thema können wir frei wählen. Also: Was liegt dir am meisten?«
»Alles«, antwortete Colin gleichmütig.
»Wie sieht es mit Hebefiguren aus? Die kommen immer toll an.«
Colin betrachtete die große Daphne noch einmal genauer und verspürte bei ihrem Anblick jetzt ein warnendes Ziehen im unteren Rücken. »Hebefiguren sollten wir eher sparsam dosieren«, sagte er.
»Ich habe eine gute Körperspannung! Ich bin federleicht!«, protestierte Daphne, die seinen Blick bemerkt hatte.
»Eine am Anfang der Show und eine am Ende. Mehr ist nicht drin«, entschied Colin.
Daphne fügte sich bereitwillig und fragte dann: »Soll ich dir jetzt den Tanzsaal zeigen?«
»Eine gute Idee. Vor allem den Weg dahin möchte ich mir gut einprägen. Das Schiff scheint mir ein wenig unübersichtlich.«
»Das ändert sich schnell, glaub mir. Spätestens morgen findest du dich zurecht. Auf geht’s in unsere Katakombe!«
Als Colin den Tanzsaal betrat, begriff er augenblicklich, warum Daphne ihn als Katakombe bezeichnet hatte. In dem fensterlosen Raum herrschte völlige Dunkelheit.
Daphne schritt mutig voran und ertastete irgendwo rechts von ihnen einen Lichtschalter. Eine Reihe von Strahlern an der Decke flammte auf und erhellte seinen neuen Arbeitsplatz. Der Tanzsaal war mit dunklem Holz parkettiert worden, die Fläche von dunkelrot gepolsterten Sitzecken mit dazu passender Bestuhlung eingerahmt. Zeitlos schön, fand Colin. Er stellte mit einem Blick auf den Plan an der Saaltür fest, dass am kommenden Vormittag ein Salsakurs und am Nachmittag eine Tangostunde auf dem Plan standen, und notierte rasch einige Termine für buchbare Einzelstunden dazu.
»Die werden sich rasch füllen, wenn die Damenwelt dich erst einmal gesichtet hat, Colin«, sagte Daphne und fuhr ihm neckisch durch das volle, graue Haar, auf das Colin zugegebenermaßen sehr stolz war.
»Tanzstunden, Daphne«, sagte Colin mit gespieltem Tadel in der Stimme. »Wir geben nur Tanzstunden.«
»Aber sicher. Und wenn wir das mal nicht tun, amüsieren wir uns. Wollen wir heute Abend unser Glück im Casino versuchen? Oder reizt dich das Bordkino? Sicher ist es auch von Vorteil, wenn wir uns am ersten Abend zumindest kurz auf der Tanzfläche oder in den Bars sehen lassen, damit die neuen Passagiere unsere Gesichter schon einmal kennenlernen. Oder wir machen uns einen netten Abend in der Sambabar, was meinst du?«
Colin meinte, dass sich das alles sehr gut anhörte, und er nahm sich vor, die Überfahrt in jeder freien Minute zu genießen.