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Оглавление1 „Forschendes Lernen“ oder: Wie man professionelle Kompetenzen im Praxissemester erwirbt
Das Praxissemester ist kein vorgezogenes Referendariat. Es ist auch keine „lowlevel-Einübung“ in die spätere Berufstätigkeit. Und schon gar nicht ist es gedacht als willkommene Abwechslung von vermeintlich steriler Theorielastigkeit, Berufsfeldabstinenz und Praxisferne des Studiums, die manche Studierende möglichst bald hinter sich lassen möchten. Im Gegenteil: Das Praxissemester ist die Probe aufs Exempel, ob das, was im Studium gelehrt, gelernt und durchdacht wird, sich in den konkreten Handlungszusammenhängen von Schule und Unterricht bewährt – und umgekehrt: Ob ein theoriegestütztes und wissenschaftlich reflektiertes pädagogisches Tun nicht allemal fruchtbarer, effizienter ist als ein Berufsalltag, der sich mehr oder weniger erfolgreich von Routinen, eingefahrenen Pattern und Skripten sowie von vordergründigen Verhaltensstrategien leiten lässt.
Das Konzept des „Forschenden Lernens“ macht aus dem Praxissemester ein Experimentierfeld, in dem jede/r Studierende die konkrete Schulpraxis – eigene und auch fremde – theoriegeleitet und forschungsmethodisch fundiert reflektiert1 und durch diese unmittelbare Auseinandersetzung Erfahrungen macht, Erkenntnisse und Kompetenzen gewinnt.
1.1 Auf dem Weg zu professioneller Handlungsfähigkeit
Die Klage über die segmentierten Lernorte Universität, Studienseminar und Schule hat eine lange, mit Vorurteilen und Misstrauen gespickte Tradition. Mit der Einführung des Praxissemesters bietet sich nun die Chance, „Theorie und Praxis professionsorientiert miteinander zu verbinden und die Studierenden auf die Praxisanforderungen der Schule und des Vorbereitungsdienstes wissenschaftsund berufsfeldbezogen vorzubereiten“2. Dabei kommt dem „forschenden Lernen“3 eine Schlüsselrolle zu, da es als zentraler „Habitus“ nicht nur im Studium angeeignet und ausgeübt werden soll; vielmehr bestimmt es in dem weitläufig rezipierten Leitbild des „reflective practitioner“4 den Vorbereitungsdienst und sollte im späteren Berufsleben – etwa gemäß dem Ansatz von Altrichter/Posch „Lehrer erforschen ihren Unterricht“5 – auf Dauer gestellt werden. Deshalb wird forschendes Lernen in der Rahmenkonzeption zum Praxissemester in NRW als „forschende Lernhaltung“, als „forschende Grundhaltung“ beschrieben, durch die im Praxissemester eine professionelle Forschungs- und Reflexionskompetenz erworben werden soll6. Dabei werden Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Humanwissenschaften so miteinander verknüpft, dass deren Potenzial zur Erschließung von Situationen, Prozessen, Handlungsweisen und Strukturen ins Spiel gebracht, problemhaltige Aufgaben und Herausforderungen gelöst und nachhaltige Wirkungen zur Verbesserung von Schule und Unterricht erzielt werden können.
1.2 Genese und Kennzeichen „forschenden Lernens“
Die Genese des Konzeptes geht auf die in den 60er-Jahren entstandene Methode des „inquiry- bzw. research-based learning“ zurück, die das Ziel hatte, über die Wissensaneignung hinaus auch Kompetenzen hinsichtlich eigener Forschungen zu entwickeln. Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff „Forschendes Lernen“ Ende der 60er-Jahre von Ludwig Huber im Zuge der Arbeit der Bundesassistentenkonferenz geprägt.7 Für die Entwicklung des Konzepts waren drei Momente leitend:
•Ein wissenschaftliches Studium muss den Studierenden eine „Teilhabe an Wissenschaft“ ermöglichen. Ein wissenschaftlicher Habitus im Sinne von „Suchen und Finden, Problematisieren und Einsehen, ‚Staunen‘ und Erfinden, Untersuchen und Darstellen“8 kann nur erworben werden, wenn Studierende selbst in wissenschaftliches Arbeiten ‚eintauchen‘.
•Statt rezeptiv Wissensbestände aufzunehmen, zielt forschendes Lernen auf eine selbstständige konstruktive Aneignung und wird daher angetrieben von intrinsischer Motivation. Eine kritisch-reflexive Grundhaltung kann nicht theoretisch gelehrt und trainiert werden, sondern nur aktiv und erfahrungsorientiert eingeübt werden.
•Dafür müssen spezifische Lernsituationen geschaffen werden, „in denen die eigene Wahl und Strukturierung einem nicht abgenommen ist, Interessen vertieft verfolgt werden können, in denen man mit anderen sich verständigen oder zusammentun muss“9.
Neuere Ansätze10, die z.B. der Grounded Theory oder dem konstruktivistischen Lernen verpflichtet sind, verweisen auf die Wende vom Lehren zum Lernen und auf die bereichernde Verbindung zwischen Lernen und Forschen. Sie fokussieren damit das lernende Individuum, das als beruflicher Novize den komplexen Zusammenhang von Theorie und Praxis vor Ort erfährt und kriteriengeleitet reflektiert. Unter berufsbiografischer Perspektive unterstützt ein solcher Lernprozess die Ausbildung eines professionellen Selbstkonzepts, er schärft die Wahrnehmung und Analyse der Berufswelt, öffnet den Blick für neue Erkenntnisse und Erfahrungen und dient der Ausbildung beruflicher Handlungsfähigkeit. Als Kennzeichen forschenden Lernens können gelten:11
•Selbstständigkeit des Lernenden als unverzichtbares Postulat schließt die Wahl und Präzisierung des Themas, die Auswahl möglicher Methoden und Strategien, das Risiko von Irrtümern, Sackgassen und Umwegen, die Verantwortung für wissenschaftliches Arbeiten, Dokumentieren, Präsentieren und Evaluieren ein.
•Theoriebezug rekurriert auf wissenschaftlich abgesicherte oder zumindest vertretbare Wissenskonstrukte als Referenzpunkte und zielt auf die theoriegeleitete und forschungsmethodisch fundierte Reflexion der Schulpraxis. „Dieses Wissen umfasst z.B. zentrale Begriffe, theoretische Schlüsselkonzepte, grundlegende Prinzipien und Kernkonzepte sowie die Verknüpfung zwischen inhaltlichen Einheiten einer Domäne. Es setzt der Lehrkraft sozusagen Augen ein, die ihr Gesichtsfeld bestimmen und ihre Wahrnehmung steuern. Wer nichts weiß, sieht auch nichts.“12 Zudem versetzt es die Lehrkraft in die Lage, die von ihr ausgeübten Praktiken zu begründen, zu überprüfen und zu verbessern.
•Praxiserfahrung bietet den Referenzrahmen für die Entwicklung konkreter Fragestellungen, die als Ausgangspunkt für das forschende Lernen dienen. Dabei kommen vor allem solche Erfahrungen in Betracht, in denen Praxis fragwürdig, problematisch, widersprüchlich, diffus und konflikthaltig erlebt wird. Insofern ist forschendes Lernen problemorientiert ausgerichtet und zielt auf wissenschaftsgestützte Problemlösungen.
•Methodenkontrolle sichert, dass die Arbeitsweise des forschend Lernenden wissenschaftlichen Gütekriterien im Blick auf Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit genügt und zu einer systematischen Erkenntnisgewinnung beiträgt.
•Reflexionskompetenz als ein zentrales Ziel forschenden Lernens dient der sukzessiven Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz. Sie ist „quasi der ‚Motor‘ beruflicher Weiterentwicklung“13. Sie setzt voraus, dass der forschend Lernende in eine kritische Distanz zum Unterrichtsalltag und zu seiner eigenen Praxis tritt: „Praxis wird aus der Distanz heraus ‚beobachtet‘ und die Untersuchungsergebnisse werden reflektiert, um daraus Konsequenzen für die nächsten Handlungsschritte abzuleiten.“14 Bereits 2008 hat die Evangelische Kirche „religionspädagogische Reflexionsfähigkeit“ als „Schlüsselkompetenz“ bezeichnet, die im Studium angebahnt wird und in allen weiteren Ausbildungsphasen elaboriert werden muss.15
•Respektierung der in die Untersuchungen involvierten Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler impliziert eine berufs- und forschungsethische Komponente. Schülerinnen und Schüler dürfen ebenso wenig wie Lehrkräfte zu Objekten gemacht und forschungsmäßig ‚ausgebeutet‘ werden. Deshalb sind Aspekte wie Freiwilligkeit, Einverständnis, Transparenz, Anonymität und Wertschätzung im Umgang unverzichtbare Elemente forschenden Lernens.16
1.3 Forschendes Lernen – wie macht man das?
Wer forschend lernen will, hält sich am besten an eine idealtypische Abfolge von Forschungsschritten, die speziell für Praxisstudien entwickelt wurde, darüber hinaus aber auch in weiteren Feldern genutzt werden kann:17
Abb. 1: Schritte forschenden Lernens in Praxisstudien; Wildt, 2009, Nr. 2, 4-7; 6
Die Grafik unterscheidet zwischen dem inneren Lernprozess und der Forschungstätigkeit; beides hängt spiegelbildlich zusammen.
Schritt 1:18 Der forschend Lernende ‚taucht‘ in die Praxis ein, findet sich zunächst in einem Strudel von Situationen, Prozessen, Ereignissen, Begegnungen etc. wieder und beobachtet – mit den im Studium ‚eingesetzten Augen‘ (s.o.) – das Berufsfeld. Dabei fallen ihm Phänomene auf, die seine Neugier wecken, weil sie inkongruent zu seinem Theoriewissen sind oder Fragen und Probleme aufwerfen. Natürlich kann und soll der Blick für solche Ereignisse auch bereits im begleitenden Seminar geschärft werden.
Schritt 2: Er formuliert das Thema eines Forschungsprojekts. Weil es dabei auf Präzision, hinreichende Konkretheit und Machbarkeit im Rahmen des Praxissemesters ankommt, empfiehlt es sich, dafür Beratung einzuholen.
Schritt 3: In diesem Schritt wird eine konkrete Forschungsfrage entwickelt. Methodisch schließt sich daran eine Hypothesenbildung an, die bereits auf theoretische Konstrukte bezogen ist. Das Forschungsprojekt hat das Ziel, diese Hypothese entweder zu bestätigen, zu falsifizieren oder zu korrigieren bzw. zu erweitern.
Schritt 4: Der theoretische Rahmen der Untersuchung wird differenziert dargestellt und die Forschungsfrage in diesen Rahmen eingeordnet.
Schritt 5: Das Design bezieht sich auf die Auswahl sachgemäßer und praktikabler Methoden, die insbesondere in der hermeneutischen und empirischen Forschung standardmäßig verwendet werden. Auch bei diesem Schritt sind Unterstützung und Hinweise durch Lehrende empfehlenswert.
Schritt 6: Bei der Durchführung des Vorhabens ist ein Forschungstagebuch hilfreich. Wichtig ist es, auf möglichst exakte Dokumentation zu achten, damit bei der anschließenden …
Schritt 7: … Auswertung genügend valide Daten vorliegen. Die Auswertung umfasst eine systematische (nicht selektive) Datenerhebung, deren Interpretation vor dem gewählten theoretischen Hintergrund, die Überprüfung der eingangs erhobenen Hypothesen, die bilanzierende Evaluation des Vorgehens und der Ergebnisse sowie die Darstellung von Prozess und Produkt im Forschungsbericht.
Schritt 8: Abschließend werden die Ergebnisse an das in Schritt 1 entdeckte Praxisproblem rückgebunden. Leitfrage ist dabei: Können die Ergebnisse zur Lösung des Problems beitragen und helfen, die Qualität des Unterrichts oder der Schulentwicklung zu verbessern? Natürlich werden die Ergebnisse im Seminar vorgetragen und diskutiert.
1.4 Welche Themen eignen sich für ein Studienprojekt im Fach Religionslehre?
Grundsätzlich sollten solche Themen gewählt werden, bei denen im Schulalltag Probleme auftreten, bei denen Sie Widersprüche beobachten, Konflikte wahrnehmen, fragwürdiges Verhalten oder uneindeutige Situationen bemerken. Solche Beobachtungen zu problemhaltiger Praxis eignen sich, um sie mit theoretischen Ansätzen abzugleichen, zu überprüfen und ggf. auch eine theoriegestützte Lösung zu entwickeln. Dafür kommen fast alle Bereiche der Religionspädagogik in Betracht, insbesondere aber die Didaktik und Methodik des Unterrichts.19
Im Folgenden finden Sie einige Beispiele, die unterschiedlichen Praxissituationen zugeordnet sind.
Bei Projekten, die sich auf den Unterricht beziehen, ist zu unterscheiden, ob fremder Unterricht oder eigener Unterricht beobachtet wird. Im letzteren Fall befindet sich der oder die forschend Lernende in einer nicht ganz einfachen Doppelrolle als Akteur und gleichzeitig als Beobachter. Daher ist es sinnvoll, eine zweite Person als Beobachter oder Beobachterin hinzuzuziehen.
•Anlass: Bei der Thematisierung der Jona-Geschichte spekulieren Schüler einer dritten Klasse wild über den großen Fisch, über eine Möglichkeit, in einem Wal zu überleben und über die Rizinusstaude, ohne dass die Lehrkraft interveniert.
Thema des Forschungsprojekts: Warum werden Schülerinnen und Schüler von ‚wunderbaren‘ Aspekten biblischer Geschichten besonders angezogen und wie können Lehrkräfte diese Motivation konstruktiv nutzen?
•Anlass: Die Abraham-Geschichte wird in einer Klasse 5 als Glaubensvorbild für den Mut zum Aufbruch in eine ungesicherte Zukunft vorgestellt. Die Lerngruppe beteiligt sich nur träge und zieht sich auf ‚richtige‘ RU-gemäße Antworten zurück, lässt aber erkennen, dass sie mit der theologischen Pointe der Geschichte nicht viel anfangen kann.
Thema des Forschungsprojekts: Warum reagieren Schülerinnen und Schüler häufig reserviert und uninteressiert auf Versuche, den theologischen ‚Gehalt‘ biblischer Geschichten herauszustellen und wie kann eine Lehrkraft dieser Verhaltensweise begegnen?
•Anlass: Jesus wird in einer Klasse 5 als Muster an Gutherzigkeit, Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit dargestellt.
Thema des Forschungsprojekts: Warum werden bestimmte Aspekte der bibelwissenschaftlichen Erkenntnisse zu Person und Wirken Jesu ausgeblendet und welche Folgen hat das für das Jesusbild der Schülerinnen und Schüler?
•Anlass: Eine Lehrperson verweigert den Schülerinnen und Schülern der Klasse 9 die Antwort auf die Frage: „Was meinen Sie denn? Ist Jesus tatsächlich auferstanden?“
Thema des Forschungsprojekts: Welche Probleme stellen sich für Lehrpersonen, wenn sie persönlich nach ihrem Glauben gefragt werden und welche Lösungsansätze bieten sich pädagogisch und theologisch an?
•Anlass: In einer Lerngruppe 8 werden die Altarbilder von Lukas Cranach aus der Stadtkirche zu Wittenberg eingesetzt. Die Lehrkraft führt ein mit dem Satz: „In diesen Bildern könnt ihr die gesamte Theologie Luthers finden. Was könnt ihr beobachten?“ Die Schülerinnen und Schüler bemühen sich nach Kräften, die Bilder zu beschreiben, ihnen gelingt es aber nicht, deren theologische Implikationen herauszuarbeiten.
Thema des Forschungsprojektes: Wie ist der Bruch zwischen Beobachtung, Beschreibung von alten Bildern auf der einen Seite und deren Einordnung und Deutung auf der anderen zu erklären und wie kann ihm entgegengewirkt werden?
•Zum Thema Kasualien/Trauung im Rahmen ‚liturgischen Lernens‘ im RU wird ein Traubekenntnis vor der Klasse 7 vorgespielt. Die Situation eskaliert in allgemeinem Gekicher und spöttischen Bemerkungen.20 Thema des Forschungsprojektes: Warum reagieren Schülerinnen und Schüler in dieser Weise auf ein szenisches Spiel und welche Konsequenzen hat dies für Auswahl und Inszenierung von szenischen Spielen?
•Anlass: Eine Lehrkraft verkündet bei der Behandlung der Auszugsgeschichte in Klasse 6: „In der nächsten Stunde werden wir uns die einzelnen Gegenstände und Vorgänge beim Pessachfest genauer ansehen und das Fest probehalber nachspielen.“ Nach der Stunde bemerkt eine Mitreferendarin im Gespräch mit dem Mentor: „Aber das Pessachfest wird doch nur von Juden gefeiert und nicht von Christen. Das geht doch gar nicht. “
Thema des Forschungsprojektes: Welche Beweggründe hat die Mitreferendarin für ihre Intervention, welche religionspädagogischen Grundfragen deuten sich in diesem Dissens an und wie sollte die Lehrkraft damit religionspädagogisch verantwortungsvoll umgehen?
•Anlass: In einer Klasse 6 werden die Schülerinnen und Schüler gebeten, als Einstieg in ein theologisches Gespräch ein Bild zu malen zu dem Thema „Was kommt dir in den Sinn, wenn du das Wort ‚Gott‘ hörst?“ Die meisten Schülerinnen und Schüler malen gegenständliche Gottesbilder, die oft mit naturhaften Kontexten verbunden sind. Im Gespräch gelingt es nicht, die bildhaft-realistische Ebene der Vorstellungen zu überschreiten.
Thema des Forschungsprojektes: Welche Gottesvorstellungen lassen sich bei Schülerinnen und Schülern dieser Altersstufe unterscheiden, welche lebensweltlichen Situationen spiegeln sich in ihnen und warum ist es so schwierig, die Gegenständlichkeit solcher Vorstellungen zumindest ansatzweise zu überschreiten?
•Anlass: Eine überzeugte Muslima nimmt am evangelischen Religionsunterricht der Klasse 7 teil. Die Lehrkraft nimmt Rücksicht auf die religiöse Glaubenspraxis, zeigt sich aber auch irritiert, mit welcher Unbefangenheit und Überzeugungskraft die Schülerin ihren Glauben als attraktiv für die Lerngruppe darstellt, während die Lerngruppe dem Werben der Mitschülerin nicht viel entgegenzusetzen hat.
Thema des Forschungsprojektes: Warum reagieren Schülerinnen und Schüler hilflos und die Lehrkraft irritiert? Wie könnte die Situation konstruktiv im RU aufgenommen werden?
•Anlass: In einer Lerngruppe nimmt ein autistisches Kind am RU teil. Die Lehrkraft bemerkt, dass sich der Schüler überhaupt nicht in Gefühle und die Perspektive von biblischen Personen oder anderen Menschen hineinversetzen kann.
Thema des Forschungsprojektes: Welche besonderen Probleme stellen sich bei der Teilnahme eines autistischen Kindes am RU und wie kann die Lehrkraft dieses Kind im Sinne der Inklusion fördern?
•Anlass: In einer Klasse 10 wird der Symbolbegriff eingeführt und an den christlichen Symbolen Kreuz, Fisch, Taube, Christusmonogramm und Agnus Dei erläutert. Die Schülerinnen und Schüler können zwar erklären, wofür die einzelnen Symbole stehen, aber sie meinen, dass die Symbole im Grunde überholt seien und durch moderne ersetzt werden sollten.
Thema des Forschungsprojektes: Warum betrachten Schülerinnen und Schüler geläufige christliche Symbole eher als antiquiert und nicht zeitgemäß und wie kann man darauf sinnvoll reagieren?
•Anlass: Eine Lerngruppe 6 beschäftigt sich intensiv mit Zeit und Umwelt Jesu und lernt viele Realia und Ausgrabungsergebnisse kennen. Sie haben mit viel Begeisterung ein Dorf zur Zeit Jesu gebaut und ausgestellt. Bei dem Auswertungsgespräch äußert eine Schülerin ihr Unbehagen: „Das war ja alles ganz spannend und hat viel Spaß gemacht. Aber was hat das alles mit unserem Leben heute zu tun?“
Thema des Forschungsprojekts: Welche Erwartungen hat die Schülerin an den Religionsunterricht, warum empfindet sie offenbar ein Defizit und wie kann der RU darauf eingehen?
Im Folgenden werden Fragen zu unterschiedlichen Bereichen des RU aufgelistet, die noch keine Themen für Forschungsvorhaben formulieren. Dies dient zur Sensibilisierung, wie vielfältig die möglichen Themenbereiche sind. In diesen weiten Bereichen können dann kleinere Forschungsvorhaben platziert werden, wenn konkrete Anlässe dazu vorliegen und dadurch das Thema zugespitzt werden kann. Die Anregungen zur Weiterarbeit auf S. 23 schlagen Ihnen ein entsprechendes Vorgehen vor.
Didaktische Aspekte:
•Welche Rolle spielen lebensweltliche Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler im Unterricht?
•Unter welchen Bedingungen entwickelt ein Einstieg ein motivierendes Potenzial, das den gesamten Unterricht trägt?
•Was ist eine niveauvolle Lernaufgabe?
•Wo finden sich Anforderungssituationen, die die Konzeption und die Durchführung einer Einheit bestimmen, wie können Alternativen aussehen?
•Welche Probleme stellen sich bei der Präsentation von Ergebnissen?
•Wie erfolgt eine nachhaltige Sicherung von Erkenntnissen, wie sind diese zu bewerten?
Methodische Aspekte:
•Gibt es spezifische Methoden für den RU und was leisten sie?
•Welche Chancen bieten Dilemmageschichten im Kontext ethischen Lernens?
•Was tragen einzelne Methoden zur Kompetenzentwicklung bei, z.B. szenisches Spiel, Rollenspiel oder Standbilder?
•Was leisten kreative Verfahren für die Erschließung von biblischen Texten?
•Wie wird Gruppenarbeit vorbereitet, eingesetzt und ausgewertet?
•Was leistet ein Lerntagebuch oder ein Bibeltagebuch im RU?
•Welche Möglichkeiten und welche Grenzen hat Portfolio-Arbeit im RU?
•Welche Chancen und Grenzen haben Freiarbeit bzw. die Arbeit an Stationen?
•Welche Formen der Förderung von Spiritualität finden sich im RU, wie bewerten Schülerinnen und Schüler diese?
•Welche spirituellen Unterrichtseinstiege finden sich im RU (ritueller Beginn, Andacht, Stilleübungen u.a.)?
Medien im Unterricht:
•Welche Chancen und Risiken haben technische Medien im RU (Notebook, Beamer, OHP, Kamera, Tafel)?
•Welche religionspädagogisch spezifischen Medien eignen sich für die Förderung von Lernprozessen?
•Welche Bedeutung haben christliche Lieder, welche Chancen und Schwierigkeiten im Umgang mit ihnen sind zu beobachten?
•Wie kommt die Bibel im Unterricht vor (Aussehen und Verwendung, Auswahl der Übersetzung, Einsatz u.a.)?
•Wie wird das Religionsbuch im Unterricht eingesetzt?
•Welche Schwierigkeiten des Unterrichts zeigen sich im Spiegel der Schülerhefte/eines Schülerheftes?
Steuerung und Auswertung des Unterrichts:
•Wie werden einzelne Unterrichtsphasen miteinander verbunden, so dass die Schülerinnen und Schüler einen roten Faden erkennen?
•Werden im Unterricht kognitive Leistungen eingefordert und mit welchen Verfahren werden sie beurteilt?
•Welche Rückmeldungen gibt die Lehrkraft über den Lernerfolg und was bewirken sie?
•Wann treten Unterrichtsstörungen auf und wie geht die Lehrkraft mit Unterrichtsstörungen um?
•Unterscheiden sich Störungen im RU von denen in anderen Fächern?
Gespräche im Unterricht:
•Welche Frage- und Impulsverfahren verwendet die Lehrkraft mit welchen Effekten?
•Wie initiiert die Lehrkraft theologische Gespräche?
•Wie werden Gespräche so strukturiert, dass ihr Verlauf transparent bleibt?
•(Wie) positioniert sich die Lehrkraft bei theologischen Fragen bzw. Problemen? Was sind die Chancen und die Schwierigkeiten?
•Wie reagiert die Lehrkraft auf das gängige Unverbindlichkeits- bzw. Indifferenzmotto: ‚Das kann jeder so sehen, wie er möchte‘?
Unterrichtsklima:
•Welches Verhalten begünstigt den Aufbau von Vertrauen und Offenheit?
•Wie zeigt sich Mobbing unter Schülerinnen und Schülern im RU, wie kann es unterbunden werden?
•Welche Sprachebenen zeigen sich im RU aufseiten der Lehrkraft und der Schülerinnen und Schüler was kann die Lehrkraft gegen den Gebrauch von Fäkalsprache unternehmen?
•Welche Vorstellungen von Religion, RU, Kirche vertritt die Lehrkraft und wie wirken sie sich im Unterricht aus?
•Gibt es eine Beziehung zwischen der Kirchenverbundenheit der Lehrkraft und ihrem Unterrichtskonzept?
•Was interessiert Schülerinnen und Schüler im RU?
•Warum langweilen sich Schülerinnen und Schüler im RU?
•Wie wirkt die Mediennutzung durch Schülerinnen und Schüler (Smartphone, soziale Netze, Fernsehen, Internet, Spiele …) auf religiöse Lernprozesse ein?
•Wie wirkt sich (fehlende) religiöse Sozialisation im RU aus?
•Warum nehmen Schülerinnen und Schüler trotz atheistischer oder indifferenter Grundhaltung am RU teil?
•Warum melden sich Schülerinnen und Schüler vom RU ab?
•Welche Bedeutung messen Eltern dem RU im Vergleich zu anderen Fächern zu?
•Welche Rolle spielt der Pastor/die Pfarrerin im Schulleben?
•An welchen Punkten im Schulleben taucht ‚Religion‘ auf und welche Funktion nimmt sie dabei wahr?
•Welche Bedeutung haben Gottesdienste/Andachten für die Schulgemeinschaft?
•Was leisten religiöse Interventionen und Begleitung bei außergewöhnlichen Ereignissen wie Krankheit, Tod, Unfall, globale Katastrophen?
•Welches Konzept von Schulseelsorge gibt es in der Schule?
•Welche Bedeutung haben religiöse Einkehrtage?
1.4.4 Außerschulische Lernorte
•Was leistet eine ‚originale Begegnung‘ bei einem Kirchenbesuch für den Erkenntnisgewinn?
•Welche außerschulischen Lernorte werden an der Schule regelmäßig aufgesucht? Inwiefern ist der RU auf außerschulische Lernorte angewiesen?
•Welche Lernorte eignen sich unter welchen Bedingungen besonders zur Erweiterung des eigenen Erfahrungshorizontes der Schülerinnen und Schüler?
Anregungen zur Weiterarbeit
1.Erklären Sie einem nicht kundigen Kommilitonen, was das „Studienprojekt im RU“ im Rahmen praktischen Lernens im Praxissemester bedeutet.
2.Konkretisieren Sie einzelne allgemeine Fragen (s.o.) durch mögliche Anlässe und eine mögliche präzise Formulierung eines Forschungsprojekts.
3.Suchen Sie aus den Beispielthemen eines aus oder finden Sie ein eigenes und entwickeln Sie eine Mindmap, welche fachlichen, fachdidaktischen und pädagogischen Aspekte in einem Forschungsprojekt bedacht werden müssten.
4.Wählen Sie in einer Gruppe oder in einem Tandem ein Beispielthema aus, schreiben Sie den Forschungszirkel auf ein Plakat und gehen Sie ihn probeweise durch; notieren Sie auf dem Plakat konkrete Aufgaben, Fragen und Aspekte, die bei jedem Schritt zu beachten sind.
Literatur zur Weiterarbeit
Fichten, Wolfgang, Über die Umsetzung und Gestaltung Forschenden Lernens im Lehramtsstudium, hg. vom Didaktischen Zentrum der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Oldenburg 2013 (Online unter http://www.uni-olden-burg.de/fileadmin/user_upload/diz/download/Publikationen/Lehrerbildung_Online/Fichten_01_2013_Forschendes_Lernen.pdf; Zugriff am 01.09.2014)
Huber, Ludwig/Hellmer, Julia/Schneider, Friederike (Hg.), Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen. Bielefeld 2009
Moser, Heinz, Instrumentenkoffer für die Praxisforschung. Eine Einführung. Zürich, 4. Auflage 2008
Obolenski, Alexandra/Meyer, Hilbert (Hg.), Forschendes Lernen. Theorie und Praxis einer professionellen Lehrerinnenausbildung. Oldenburg, 2. Auflage 2006
Roters, Bianca/Schneider, Ralf/Koch-Priewe, Barbara/Thiele, Jörg/Wildt, Johannes (Hg.), Forschendes Lernen im Lehramtsstudium. Hochschuldidaktik – Professionalisierung – Kompetenzentwicklung. Bad Heilbrunn 2009
1So schon Rieckers, 1972 und Johannsen, 1990, Schulte, 1995.
2Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2010, 4. In anderen Bundesländern lauten die Formulierungen ähnlich.
3Vgl. auch Riegel 2010.
4Schön, 1983.
5Altrichter/Posch, 2007.
6Vgl. Fichten, Abschnitt 7.
7BAK-Bundesassistentenkonferenz, 2009. Ferner z.B. Huber, 2009, 9–35.
8Huber, 2003, 18.
9Huber, 2003, 25.
10Vgl. z.B. Metzger, 2008.
11Vgl. zusammenfassend Fichten, 2013.
12Lenhard, 2012c, 244 unter Bezug auf Dewe/Radtke, 1991.
13Fichten, 2012, Abschnitt 2.2.
14Fichten, 2012, Abschnitt 8.
15Kirchenamt der EKD, 2009, 25. Leitkompetenz I: Religionspädagogische Reflexionskompetenz aufgegliedert in TK 1: Fähigkeit zur Reflexion der eigenen Religiosität und der Berufsrolle; TK 2: Fähigkeit, zum eigenen Handeln in eine reflexive Distanz zu treten; 20; 28–29.
16So gibt es in der Handreichung zum Praxissemester der Universität Siegen (Entwurffassung 2014) auszufüllende Einwilligungserklärungen von Seiten der Schulleitung, der betreuenden Lehrperson und des Verantwortlichen auf universitärer Seite bezüglich der Wahl des Themas zum „forschenden Lernen“.
17Wildt, 2009, Nr. 2, 4–7; 6. Die Nummerierung wurde hinzugefügt.
18Vgl. dazu die Erläuterungen bei Schneider/Wildt, 2009.
19Übersicht über einzelne Bereiche der Religionspädagogik etwa in: Rothgangel/Adam, 2012.
20Husmann/Klie, 2005, 184.