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ОглавлениеKapitel 2
Eichenbach, früher
1
(Geschichte des Dorfes)
Das Dorf wurde zuerst im Jahre des Herren 860 erwähnt und als kleine Siedlung von hartgesottenen heidnischen Bauern gegründet, die sich und ihr Vieh an der nahen Weser niederließen. Im Dorf Eichenbach, das zu dieser Zeit noch Ekina gerufen wurde, passierte viele Jahrhunderte lang nichts, was für Aufsehen gesorgt hätte.
2
(Mittelalter)
Die katholische Kirche fegte wie ein Gewittereinbruch über Norddeutschland hinweg. Schon im achten Jahrhundert waren viele der vorher heidnischen Siedlungen christianisiert und bald schon gab es gar keine Erinnerung mehr an ein Leben abseits der römischen Kirche. Der Siegeszug des Kreuzes war nicht mehr aufzuhalten. Mit dem Glauben an den Erlöser aus Nazareth, der sein Ende auf dem Kalvarienberg fand, und dem Glauben an den Ablasshandel der Kirche kamen auch die dunklen Seiten des Christentums in den Norden. Zuerst in den großen Städten wie Bremen und Hamburg, dann auch schnell in die ländlichen Regionen. Im Mittelalter begannen überall im Land die Verfolgungen aller Dinge, die gegen die Bibel und die Predigten der weisen Priester sprachen.
Es kam, wie es kommen musste, und auch das kleine Bauerndorf Ekina wurde Schauplatz von grausamen Hinrichtungen und Morden. Schnell sprach sich herum, dass auf den Höfen bei Verden eine regelrechte Kultstätte für Hinrichtungen wegen des Verstoßes gegen kirchliche Regelungen gedieh. Räuber und Ehebrecher, Hexen und Wunderheiler wurden in Ekina verbrannt, gefoltert und gequält. Dies geschah mit dem päpstlichen Segen aus Rom und unter Aufsicht des Bischofs in treuer Begleitung der Priester, des Richters und der frommen Bauersleute.
Die Legende besagt, dass im Jahre 1487 die brave und hilfsbereite Frau Mathilde, von armer Herkunft, verurteilt und hingerichtet wurde. Mathilde war in der Region bekannt dafür, dass sie Krankheiten und Wehleiden mit den Mitteln der Naturkräuter lindern konnte. Sie war eine gute Frau, geboren um 1446 in einem Bauernhaus mit armen, doch fürsorglichen Eltern. Sie hatte einen Bruder, der jedoch früh heiratete und das Haus verließ. Mathilde lernte niemals offiziell lesen, doch ihr Wille war stark genug, um sich das Latein der gebildeten Männer heimlich anzueignen. Die Eltern starben und Mathilde lebte fünf Jahre allein im alten brüchigen Haus. Mit zwanzig Jahren war Mathilde noch ehe- und kinderlos. Ihre Kenntnis über Kräuter und Heilpflanzen war zu dieser Zeit schon stark ausgeprägt. Erste Versuche der frommen Kirchenleute, etwas gegen die Hexe aus dem Bauernhaus zu unternehmen, scheiterten. Erst als bekannt wurde, dass Mathilde des Lateins mächtig war, und immer mehr geplagte Menschen von ihrer wundersamen Heilung berichteten, verschärfte sich der Druck und schließlich konnte der Bischof Johann nicht mehr anders, als offen von der Hexe und Tochter des Satans zu sprechen.
Mit ihrer Verhaftung und Einkerkerung erwachte in Mathilde ein tiefer Hass, denn sie hatte niemals einem Menschen geschadet oder unrecht gehandelt. Ihr Wissensdurst und der damit verbundene Drang, des Lesens mächtig zu werden, war weder ein Unheil für die Menschheit noch für die römische Kirche. So schloss sie in der Nacht vor ihrer Hinrichtung einen Pakt mit dem Teufel, indem sie ihn mit einem Zauberspruch zu sich einlud. Sie zeichnete mit einem kleinen Stein, welcher in ihrem Kerker lag, ein Pentagramm in die Erde und berief den Gott der Unterwelt. Wenn die Kirchenmänner und die undankbaren Flegel eine Hexe wollten, dann sollten sie eine bekommen!
Noch während Mathilde am Richtplatz des Waldes von Ekina qualvoll verbrannte, sprach sie einen lateinischen Fluch aus, der alle Menschen an diesem Ort treffen sollte. Sie konterte damit das Latein des Bischofs, der mit seinem Gebet um Gnade für die Seele der Hexe bat.
Der Sage nach war am Tag der Hinrichtung am 9. Mai 1487 ein kleiner Mann in dunkler Robe vor Ort, um das Leiden der guten Fee Mathilde für immer auf Pergament festzuhalten. Dabei sei auch die schwarze Seele der Hexe aus ihrem brennenden Leibe herausgefahren und über den Wald hinfort geflogen. Es hieß, der Mann in der Robe habe eine Zeichnung von Mathildes Schicksal angefertigt – und bereits fünfzig Jahre später sprach man vom Satan persönlich, der der Hexenverbrennung beigewohnt hatte.
Wie so viele Legenden, ist auch die Legende der Hexe stetig unter den Einwohnern von Eichenbach weitergetragen worden. Das Zeugnis ihrer Qual ist mit den Jahrhunderten verschollen. Die Zeichnung des Teufels wurde niemals gefunden und kein Zeitzeuge könnte jemals mehr berichten von den Gräueltaten am Bach, der munter durch die Wälder und Wiesen floss.
3
(Sagen um das Dorf)
Im Jahre 1721 entstand der alte Fachwerkspeicher, mitten im Dorf, auf dem Hofe Oesterlund. Er diente (wie alle Speicher in dieser Zeit) zur Einlagerung des gedroschenen Getreides und noch zweihundert Jahre später hatten die Kinder des Dorfes große Beklemmung und Besorgnis, wenn sie in die Nähe des alten Getreidespeichers kamen. Unter den jungen Einwohnern von Eichenbach ging die Sage um, dass der Bauer Hannes Oesterlund dort auch die Leichenteile der gedroschenen Kinder einlagerte, die er beim Spielen auf seinen Feldern und in seinen Wäldern erwischte. Es hieß, die Seelen der Gedroschenen würden nach Sonnenuntergang um den Speicher herumspuken und jeden, der sich dort in der Nähe befindet, heimholen – hinter die dicken Fachwerkmauern und rein in den Berg aus verwesten Körperteilen und zermalmten Getreidekörnern.
Diese Sage konnte niemals bewiesen – noch widerlegt – werden.
Weitere Sagen ranken sich um die alte Wassermühle, die in früherer Form am Gohbach im Jahre 1220 errichtet wurde. Gegen 1863 wurde die heutige Mühle gebaut und erst um 1968 ging der letzte Müller in den Ruhestand und verließ das alte Gemäuer am Mühlenteich. Nachdem vor einhundert Jahren eine Gruppe Kinder am besagten Mühlenteich spielte und dann spurlos verschwand, wurde auch die Spukgeschichte von den ertrunkenen Kindern brav unter den jungen Bürgern Eichenbachs weitergetragen.
Es war ein Julitag im Jahr 1895, als Gerhard Kaufmann zusammen mit den Freunden Hein Ölping, Emma Müller, Margarete Eiksen und Fritz Bröckelmann am Teich und Bachlauf von Eichenbach ein Sommerbad nehmen wollte. Der Sommer 1895 war warm und drückend, die Schule hatte über den Monat geschlossen und die Kinder genossen ihr Leben zwischen Heuballen, Pferdeweiden, Räuberspielen und Sonnenbrand. Die meisten von ihnen mussten natürlich zu Hause mithelfen, die Ställe ausmisten oder auf dem Feld arbeiten, doch immer nachmittags, wenn die Arbeit für den Tag erledigt war, genossen viele Kinder den kühlen Strom des Baches, der sein erfrischendes Wasser gnädig durch das Dorf führte.
Gerhard war der Anführer der Bande und marschierte mit seinem großen Birkenstock freudig vorweg. Hinter ihm stolzierten Hein, Emma, Margarete und Fritz barfuß durch die Wiesen und lachten fröhlich auf, wenn ein erster Schwapp von kaltem Wasser aus dem Bach auf ihre nackten Füße traf. Sie spielten ausgelassen im Bach und kamen dabei dem Mühlrad bedrohlich nahe, welches zu dieser Zeit noch in Betrieb war und arbeitsam seine Runden drehte, um die Mühle im Inneren des Backsteingebäudes anzutreiben.
Ein paar Mal musste Gerhard seine Freunde warnen und rief: »He, passt auf, die Mühle macht euch noch tot!« Und jedes Mal, wenn der Anführer der Gruppe die anderen Kinder warnte, erschauderte er, denn der Umstand, tot zu sein, war für die Jungen und Mädchen so erschreckend weit weg und abstrakt wie die Stadt Paris für die bäuerlichen Eltern. Keiner wusste, wie es geschah, und die Legenden besagen, dass ein Geist mit langen roten Haaren aus der Mühle herausschnellte, um die Kinder im Bach zu ertränken. Sicher war nur, dass niemand der fünf jungen Leute am Abend wieder nach Hause kam. Man fand ihre toten Körper am nächsten Tag einige Meter weiter von der Mühle entfernt, wo sie in der Nähe des kleinen Dorffriedhofes an Land gespült wurden. Man wollte die Kinder auf dem Friedhof begraben, doch in der Nacht vor dem Begräbnis verschwanden sie aus der Leichenhalle und wurden nie mehr aufgefunden.
4
(Das Martinshaus)
Das Haus am Rinnsal wurde im Jahre 1894, ein Jahr vor dem Unglück an der Wassermühle, erbaut. Der Platz am Wald war zu dieser Zeit ein mit Unkraut überwuchertes trostloses Gelände gewesen, welches den meisten der einheimischen Bauern nutzlos und auf unbestimmte Weise auch fremd erschien. Nur eine kleine Holzhütte stand einsam und verlassen am Rand der wilden Wiese, hinter der sich der Wald mit dem kleinen Bachlauf anschloss.
Wilhelm Martins war der reichste und einflussreichste Mann im Dorf Eichenbach. Er zeugte keine Nachkommen und seine Linie starb somit aus. Den Großteil seines Vermögens erbte die evangelische Kirchengemeinde von Sankt-Andreas in Verden, denn Martins war ein frommer und guter Mensch gewesen. Neben einer großen Zahl von Feldern und Weiden (und einigen Höfen) gehörte ihm auch der angrenzende Wald.
Martins hatte sein Geld durch Pferdezucht gemacht, denn Eichenbach war damals Bauerland mit vielen Pferden und Wilhelm Martins erkannte schnell, dass die nützlichen und behuften Erntehelfer gutes Geld einbrachten, wenn man sie gut pflegte und etwas Verstand für die Sache besaß. Diesen Verstand hatte er sich durch jahrelange Schulung und durch Besuche von Pferde-Auktionen angeeignet. Bis dahin galt er unter den Bauern als rebellisch und sie dachten nicht selten, dass Martins nicht ganz richtig sei. Ein Mann, der nicht körperlich arbeitete und seine Zeit lieber damit verbrachte, sich Gedanken über Pferde-Vermarktung zu machen, als auf dem Feld zu schuften, war in den Augen der Bauersleute ein Einfaltspinsel.
Wilhelm Martins gründete den ersten Zuchthof in Eichenbach und konnte schnell sein Geld vermehren. Einem ordentlichen Züchter gehörten natürlich Weiden und Wiesen und vielleicht ging es mit Martins auch etwas drüber, als er den Wald von Eichenbach für damals zweitausend Goldmark erstanden hatte. Legenden besagen, er habe den Wald gar nicht gekauft, sondern bei einer Pferdewette gewonnen, doch dieser Sage ging niemand wirklich nach.
Jedenfalls hatte sich Martins in den Kopf gesetzt, ein Herrenhaus nahe an seinem Wald zu besitzen. Es sollte ein zweistöckiges Gebäude werden mit einer Dachterrasse und einem großen Pferdestall, für dessen Gebälk nur bestes Zedernholz verwendet werden sollte. Den Import dieser Hölzer wollte Wilhelm Martins durch den Gewinn eines Zuchtwettbewerbs reinholen, den er aber kläglich verlor.
Als die Bauarbeiten auf der wilden Wiese am Waldrand begannen, tobte ein wilder Sturm über Eichenbach, der die Baustelle bis auf Weiteres lahmlegte. Martins wunderte sich zwar nicht direkt über die plötzliche Naturgewalt, doch er entschied, dass dies ein Zeichen Gottes sein musste. So beschloss er, dass er seinen Bau kleiner halten wollte.
Statt einer Dachterrasse und einem Pferdestall gab es nur einen kleinen Balkon, der später wieder entfernt werden musste, weil er absturzgefährdet war. Der Pferdestall wurde gar nicht erst gebaut, was Martins nicht nur den Import von tunesischem Zedernholz ersparte, sondern auch noch Abstand zu seiner Arbeit schaffte. Er hatte sich überlegt, dass es ganz lebenswert sei, wenn man morgens aus seinem Herrenhaus käme und nicht gleich den Geruch von Pferdeäpfeln spürte, noch bevor man den ersten Kaffee schlürfte.
Nachdem die Natur sich wieder beruhigt hatte, konnte die Bebauung der nutzlosen Unkrautwiese weiter vonstattengehen.
Die kleine Holzhütte, in welche seit 1862 niemand mehr einen Fuß gesetzt hatte, wurde abgerissen. Martins spottete über die Furcht der Bauarbeiter, die beschworen, dass grässliche Stimmen sie von dort vertreiben wollten. Er ließ die Bretterbude abreißen und staunte nicht schlecht, als ein dunkler Nebel aus dem sandigen Boden emportrieb.
Der letzte Förster (ein verschrobener Trunkenbold namens Hans Klingel), der vor über dreißig Jahren das Weite gesucht hatte, erzählte in der Dorfschenke hinterher die Geschichte, dass Klopfgeräusche ihn eines Nachts aus dem Schlaf gerissen hätten. Damals bewohnte er die kleine Holzhütte am Waldrand und es seien die Hände von toten Menschen gewesen, die in der Nacht an Fenster und Tür geklopft hatten, um ihn abzuholen. Sie riefen ihm zu, dass er den Boden des Unheils berührte.
»Da war ein Dutzend von bleichen Händen, manche schon halb verfault«, hatte er gesagt und sich einen Schnaps bestellt. »Vielleicht auch ZWEI Dutzend. Und dann riefen die Stimmen nach mir. Sie kannten meinen Namen!«
Während Hans Klingel diese Geschichte erzählte, spülte er seine Angst mit etlichen Bieren und noch mehr Schnaps hinunter. Niemand glaubte ihm, doch trotzdem hatte seitdem keiner mehr die Tür der kleinen Holzhütte geöffnet – geschweige denn den Willen gehabt, dort zu wohnen. Man musste sich ja nicht mutwillig mit dem Teufel einlassen!
Auch Martins hatte später von diesem Märchen gehört, doch er kümmerte sich nicht um die Erlebnisse eines alten Säufers. Er schaffte es, sein Haus zu vollenden, und lebte nur einen Monat lang in dem Gebäude mit den hellen Holzbrettern. Er genoss die Nähe des Waldes und das beruhigende Rauschen des Baches. Er hatte sein Haus gebaut. Es war zwar nicht das Herrenhaus geworden, das es einmal werden sollte – doch es war groß und ruhig gelegen. Die Ruhe wurde nur ab und zu gestört, und zwar immer dann, wenn der eigenartige dunkle Nebel wieder aus dem Boden drang und ein kleiner Sturm die Läden der Fenster zum Klappern brachte.
Wilhelm Martins verschwand plötzlich und wurde nach einigen Jahren offiziell für tot erklärt. Mancher der mürrischen Bauersleute vermutete, dass der Waldbesitzer einfach nur fortgegangen war, weil ihm das Leben auf dem kleinen Dorf einfach zu unpassend erschien. Andere waren der Ansicht, dass Martins gar nicht verschwand, sondern sich einfach nicht mehr unter das Fußvolk begab. Doch das große Haus mit den hellen Holzbrettern verkam mit der Zeit und wirkte bald trostlos und leer. Als die Polizei es aufbrach, fanden sie im Inneren nichts, außer einer Welle aus Kälte und Gestank. Martins blieb verschwunden.
So begannen die Rätsel um das Gebäude und ein kleiner Junge namens Albert Oskar Franke wuchs mit den Geschichten des Hauses auf. Wer damit anfing, eine dunkle und böse Hexengestalt mit dem Wald und dem Haus am Rinnsal in Verbindung zu bringen, wurde nirgends festgehalten. Doch der Glaube an das Hexenhaus wuchs und Albert sog die Geschichten förmlich auf, die er Jahrzehnte später seinem Sohn Jörg weitertragen konnte. Vermutlich, weil es das Natürlichste der Welt war, dass man in Eichenbach darüber Bescheid wusste.
5
(Jörg Frankes Kindheit)
Jörg Franke wurde am ersten Oktober 1921 in Eichenbach als Sohn des Eisenbahners Albert Oskar Franke und der Hausfrau Gerda Franke geboren. Schon während seiner Kindheit entwickelte der kleine Jörg eine gewisse Neugier für Bücher und Geschichten aller Art und verbrachte so manche schlaflose Nacht mit einer Kerze an seinem Bett, um die Abenteuer von Moby Dick oder Tom Sawyer zu lesen. Dabei achtete der damals Neunjährige vornehmlich darauf, dass sein Vater ihn nicht erwischte. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war angespannt, doch trotz allem von genügend väterlicher Fürsorge geprägt. Es kam, dann und wann, schon einmal vor, dass Albert seinem Sohn den Hintern versohlte oder über Nacht nach draußen in den Schuppen sperren musste, damit der Bengel wieder zur Vernunft kam. Meistens ging es dann um ungenügend gemachte Aufgaben in der Schule oder die träumerische Art des kleinen Jörg. Im Laufe seines Lebens konnte Franke diese Träumerei zwar etwas ablegen, doch kam es auch viele Jahre später immer wieder vor, dass der Sohn des Eisenbahnarbeiters in wilde Tagträume verfiel.
Nachts war es im Schuppen kalt und aus jeder Ecke kam ein Knistern, das den fantasievollen Jungen erschreckend aufhorchen ließ. Er hasste die Nächte allein im Schuppen! Immer wenn der Vater die Worte sprach: »Ab in den Holzschuppen mit dir!«, brach für Jörg Franke ein Stück Welt zusammen. Viele Jahre später würde er durch eine berühmte Geschichte der schwedischen Schriftstellerin Astrid Lindgren wieder an seine Strafzeit im Schuppen erinnert werden. Doch die Nächte im Holzschuppen wären nur halb so schlimm gewesen, wenn Vater Albert nicht öfter die Geschichte der Hexe erzählt hätte, die in Eichenbach lebte und die furchtbar alt, hässlich und grauenvoll sein sollte.
Zum ersten Mal hörte Franke im zarten Alter von fünf Jahren von der Hexe. Er hatte beim Kaffeekränzchen der heimischen Bauern nicht an sich halten können und die gesamte (für die damalige Zeit sehr teure) Sahnetorte verputzt. Jörg bezahlte mit starken Bauchschmerzen, Übelkeit und einer Horrorgeschichte von Vater Albert dafür. Er lief, so schnell er konnte, aus der Stube hinaus auf die Diele. Doch die Pranke des Alten packte ihn an der Schulter und hielt den kleinen Jungen eisern fest.
»Ich möchte dir mal etwas erzählen, Junge«, raunte Albert und drehte seinen Sohn heftig zu sich herum. »Ich muss hart schuften für unser Geld! Ich arbeite sechs Tage in der Woche bei der Bahn, damit wir Essen und Trinken haben. Deine arme Mutter ist sechs Tage lang allein und muss das Haus sauber halten. Für die Torte, die ich dir am liebsten aus deinem Bauch herausprügeln würde, muss ich viele Tage unterwegs sein!«
Jörg gluckste: »Das tut mir leid, Papa!«, doch Vater Albert war noch nicht fertig. »Draußen am Wald steht doch das große alte Haus.« Jörg nickte.
»Bisher fand ich, dass du zu klein warst, um das zu erfahren, vielleicht bist du es immer noch …«, Albert holte tief Luft. »Im Haus am Wald wohnt eine Hexe, Anna! Anna lebt schon seit vielen hundert Jahren dort und ja, sie mag kleine Jungen am liebsten, hat einen großen Ofen im Haus, da gibt es bei ihr immer wieder mal Kinderbraten!«
Der junge Jörg blickte seinem Papa fassungslos in die großen dunklen Augen. »Das hast du dir ausgedacht, Papa!«, rief er und weinte. Doch sein Vater war anscheinend noch nicht fertig mit seiner Geschichte: »Der Sohn von Tante Frieda, dein Vetter Karl … Die Hexe hat ihn gefressen!«
Jörg holte panisch nach Luft. »Karl ist weggezogen, weil er krank war und an der Ostsee besser leben konnte!«, heulte der Fünfjährige. »Mama hat es mir erzählt.«
»Mama hat gelogen! Die Hexe Anna hat ihn geholt! Und wenn du dich nicht bald besserst, werde ich dich persönlich zu ihr bringen, Junge!«, Albert hob die Hand mahnend und zeigte auf die Tür, die nach draußen führte. »Ab in den Schuppen mit dir! Bis morgen will ich nichts mehr von dir sehen und hören!«
Und dann kam die erste und wirklich schlimme Nacht zwischen altem Feuerholz, Mausefallen und Sensen. Immer, wenn Jörg die Augen schloss, konnte er die Hexe lachen hören und immer, wenn er die Augen wieder öffnete, war er allein im dunklen Schuppen, nur die schwarzen Umrisse der Geräte in seinem Blickfeld. Es war eine schier endlose Nacht im Schuppen und später, als Erwachsener, würde man sie als nicht vergnügungssteuerpflichtig bezeichnen.
Vater Albert erzählte noch oft von der Hexe.
Der Sohn von Albert und Gerda Franke wurde älter und vergaß alle Geschichten seines Vaters. Er heiratete und blieb sein Leben lang in Eichenbach.
6
(Kurt Becker, 1958)
Becker stemmte sich mit ganzer Kraft nach oben. Vor wenigen Minuten noch war er gemütlich auf seinem Sofa eingeschlafen, Hector an seiner Seite treu und wohlgesonnen auf dem Boden liegend. Seit einigen Tagen zerrte die magische Kraft stark an ihm und so wurde er immer schneller müde und ausgelaugter. Nun war wieder der Punkt gekommen, an dem der Alte sich gegen das Kraftfeld und die tückischen Dämonen stellen musste. Wie war er überhaupt hier hingekommen? Was trieb den ehemaligen Kurier dazu, sich in die Fänge des unbeschreiblich Bösen zu begeben? Becker horchte auf, rieb sich den Schlaf aus den übernächtigten Augen und sah zu dem schwarzen schlanken Freund hinab, der den Kopf unter seinen Pfoten vergrub. Es knallte auf der Treppe und mit einem Satz war Kurt Becker auf den Beinen. Er musste weg! Raus aus dem Haus und raus aus dem trostlosen Nest, in das sich niemals jemand verirrte, außer dieser Jemand verirrte sich wirklich.
Schwere Schritte drangen durch das Haus und schlurften auf ihn zu. Leicht stupste er Hector mit seinem Fuß an, der sofort wachsam den Kopf hob und voller Abscheu den Blick auf die geöffnete Tür richtete, in ängstlicher Erwartung, welche merkwürdige Gestalt sich nun offenbaren würde. In dem Moment, in dem die Schritte der Tür bedrohlich nahekamen, schlug diese knallend zu. Hector jaulte und Kurt beugte sich nach unten herab, um ihn zu beruhigen. Lange Finger kratzten auf der Tür und ein markzerreißendes Gackern erklang hinter dem geschlossenen Türblatt.
»Hau ab!«, schrie Becker. »Lass mich in Frieden!«
Kichern
Plötzlich fasste er einen Entschluss. Was auch immer ihn seit Tagen heimsuchte und verfolgte, er würde sich dem Etwas nicht kampflos geschlagen geben. Dass er wegwollte und niemals mehr einen Fuß auf die Schwelle dieses Hauses setzen würde, stand für Kurt außer Frage. Doch nun war er gefangen, gefangen in seiner eigenen Wohnstube, niemand weit und breit der ihm helfen könnte (und würde!).
»Hector, auf drei! Eins …, zwei …«
DREI kam es als Antwort von der Tür und Becker stand seinem Dämon gegenüber. Doch er sah nichts als gleißendes Licht und spürte eine ungeheure Kraft, die von diesem Licht ausging. Becker rannte los, doch der Schwarze blieb am Boden liegen. Mit gebeugtem Kopf versuchte Kurt die Lichtgestalt zu durchbrechen, doch er prallte ab wie an einer Wand aus Beton und Stahl. Als er die ersten schwankenden Sekunden am Boden überstanden hatte, blickte Kurt Becker wieder auf. Er wurde am Kragen gepackt und fortgeführt. Hector betrachtete das Szenario mit großen dunklen Augen.
7
(Ein weiteres Opfer)
Man fand Kurt Becker erdrosselt im Keller am 17. September 1958.
8
(1959 und später)
Die Sonne stand hoch am Himmel, als Jörg Franke seiner Renate das Ja-Wort gab. Er war achtunddreißig Jahre alt und lebte mit Renate am Rand von Eichenbach. Die Geschichten von seinem Vater hatte er längst vergessen und spätestens, als Renate in sein Leben trat, sah Franke wieder einen Sinn in diesem. Das Haus, vor dem er sich als Kind immer gefürchtet hatte, war selten bewohnt – stand gerne auch mal ein Jahrzehnt lang leer. Der letzte Bewohner hatte sich das Leben genommen und wurde vor einem knappen Jahr geborgen. Das half zwar nicht gegen die ureigene Abneigung gegen das Haus, doch Franke verspürte nicht mehr Schauer als sonst auch, wenn er an der langen Einfahrt vorbeikam. Er machte seinen Frieden mit dem Gebäude und den Geschichten der alten Dorfbewohner.