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ОглавлениеProlog - 1962
Das beklemmende Gefühl, wieder die Luft der dreckigen Stadt einatmen zu müssen, versetzte Paul in eine große – ja scheinbar überdimensionale – Trauer.
Die Tür des Wagens, ein flotter orangefarbener VW 1500, knallte mit einer ungeheuren Wucht ins Schloss. Der Motor heulte laut auf und Pauls Vater, der Psychologe Christian König, trat entschieden aufs Gaspedal. Die Mutter saß auf dem Beifahrersitz und schlug erschrocken mit beiden Handflächen auf ihrem Schoß auf. »Christian, du sollst langsam fahren! Wir haben doch Zeit!« (Das war zwar eine Lüge, denn Irene König war müde und wollte nach Hause, aber dennoch störte sie das energische Getue ihres Mannes.)
»Zeit ist Geld, meine Liebe! Aber was rede ich? Damit kannst du ja sowieso nicht umgehen!«, doch brachte Vater König diesen Satz mit einem schelmischen Grinsen hervor. Er war kein schlechter Mensch. Paul konnte sich wirklich nicht beklagen, fuhren seine Eltern doch regelmäßig an den Sonntagen mit ihm raus aufs Land.
Der Sechsjährige war kein Stadtkind, obwohl er schon immer mitten in Hannover, Niedersachsen, lebte. Doch seit er denken konnte (Paul konnte sich vage an die letzten drei Jahre erinnern), liebte er es, draußen in der Natur zu sein. Im Gras liegen, durch die Felder toben – oder mit seinen Eltern durch immergrüne Wälder spazieren. Da sangen die Vögel, es summten die Bienen und es roch einfach nach Freiheit!
FREIHEIT, UNBESCHWERTHEIT. Paul wusste es damals nicht, doch er glaubte, dass genau so ein Teil von glücklicher Kindheit verlaufen sollte.
Die Stadt, in der er gefangen war, kam ihm auch genau so vor: wie ein graues Gefängnis. Er hatte seinen Radius, den er gehen konnte; immer entlang der Zellenwand, doch niemals hindurch. So durfte der sechsjährige Paul (wenn überhaupt) nur auf der Straße entlanggehen, in der er wohnte. Die Nebenstraßen waren wie eine feindliche Nachbarzelle, in der ein böser Vergewaltiger oder Mörder vegetierte. Willkommen im Gefängnis namens Hannover.
»Mama, Papa, können wir nächste Woche wieder hierherkommen? Ich mag es nicht, in der Stadt zu sein!«
»Nächste Woche bin ich leider auf einer Fortbildung, mein Junge«, Christian König blickte in den Rückspiegel und bemerkte, dass Paul traurig aussah. »Ich glaube, unser Sohn wird einmal ein hervorragender Landwirt, mit einem großen Hof draußen auf dem Feld!«, sagte Christian lachend zu Irene. Dann trat er wieder etwas kräftiger auf das Gaspedal, doch dieses Mal hielt Irene sich zurück. Der Tag hatte sie müde gemacht, ihre Beine fühlten sich matt und schwer an. Irene König war heilfroh, wieder nach Hause zu kommen, um sich noch etwas auszuruhen.
Im Radio lief Elvis Presley mit seinem Song Love Me Tender. Die Mutter summte mit, der Vater sang mit und Paul blickte aus dem Fenster und zählte die Bäume, die zu seiner Seite am Straßenrand vorbeirauschten. Bei fünfundzwanzig war er eingeschlafen. In seinen Träumen bewohnte er als erwachsener Mann ein großes altes Haus, hinter dessen Garten ein reißender Fluss verlief. Es war das erste Mal, dass Paul so etwas träumte, und der Traum gefiel ihm auch nach dem Aufwachen besonders gut, als der Lärm eines vorbeidröhnenden Busses ihn wieder aufweckte. So war die Stadt. Laut und dreckig.
Die Ausflüge an den Wochenenden wurden mit den Jahren immer seltener, und als Paul schon elf Jahre alt war, konnte er sich nur noch schwach an das unbeschwerte Leben zwischen Ulmen, Fichten und Tannenzapfen erinnern.
Paul König beendete die Schule und begann ein Studium, für das er sich schon früh interessierte. So wurde aus dem jungen Mann kein Landwirt, wie sein Vater vermutet hatte, sondern ein Psychologe mit dem Schwerpunkt auf Kindertherapie, wie sein Vater es niemals vermutet hätte.