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ОглавлениеKapitel 4
Das Einleben
1
In der Praxis war es noch still, doch das würde sich gleich ändern. Es war kurz vor acht und um acht würde Frau Müller die Tür öffnen. Paul war seit einer halben Stunde da, um sich mit den Akten seiner Patienten vertraut zu machen. Er kannte noch nicht alle und weiß Gott, er konnte auch noch nicht jeden Patienten von vorn bis hinten kennen, den er nun in den letzten Tagen schon betreut hatte. Als alleiniger Psychologe war die Verantwortung größer – das war zwar Pauls Wunsch, doch auch ein Grund dafür, um früher zur Arbeit zu erscheinen.
Auf der Fahrt von Eichenbach nach Verden ging er seinen Tag im Kopf noch einmal durch. Diese Tradition pflegte er schon seit Beginn seiner Arbeit, jeden Tag. Auf der Landstraße gab es eine kleine Baustelle und Paul hatte Zeit gehabt, sich die Kinder vor Augen zu führen. Zuerst war da das Kind von Viktor und Rafaela Pichler. Der kleine Joshua Pichler würde heute erst zum zweiten Mal in die Praxis kommen. Kinder, die noch neu beim Psychologen sind, haben oft noch Angst – entwickeln daraus dann einen Trotz. Und diese Trotzköpfe (ich will nicht zum Psychomann) musste man für sich gewinnen. Das geht bei Kindern natürlich einfacher als bei einem Erwachsenen – aber trotzdem brauchte es gute Vorbereitung und Auffassungsgabe. Joshua hatte ein Aggressionsproblem, konnte sich nicht mit Autoritäten anfreunden und war hyperaktiv. Manchmal dachte Paul sich, dass er nach so einer Sitzung selbst zum Psychologen musste – doch das konnte er natürlich niemals irgendjemandem erzählen!
Wenn er um neun mit Joshua fertig war, hatte er eine Stunde zur Aufarbeitung Zeit, dann kamen um zehn die Jahnson-Zwillinge. Generell lagen die Therapiestunden eher in der Nachmittagszeit, jedenfalls nicht vor ein Uhr mittags. Manche Kinder gingen normal in die Schule, waren nur wegen kleinerer Probleme in der Sprechstunde. Diese Kinder konnten selbstredend nicht am Vormittag kommen. Da platzierte Frau Specht die schweren Fälle, wie sie es selbst nannte. Unter jenen schweren Fällen waren dann Joshua Pichler oder Lenny und Jenny Jahnson aufgeführt.
Joshua ging auf eine Grundschule in eine Klasse für Förderkinder. Diese wurden stundenweise freigestellt, um ihre Therapiestunden wahrnehmen zu können. Jenny und ihr Dinodon-Bruder Lenny gingen noch auf keine Schule. Sie waren gerade sechs geworden und wurden von ihren Eltern zurückgestellt. Es war noch nicht absehbar, wie die beiden demnächst unterrichtet werden sollten. Kinder mit dem Fragilen-X-Syndrom fallen unterschiedlich aus. Das hört sich zuerst etwas komisch an, aber es stimmte. Manche waren einfach scheu und etwas hinter dem Ottonormalkind zurück. Andere waren stärker rückentwickelt, was sich vor allem in der Sprache und Bewegung zeigte. Die Zwillinge hatten bis vor einem Jahr noch regelmäßig in die Hosen gemacht, waren nun aber trocken, wie die Mutter versicherte. Dazu kam das Sprachproblem, welches für einen Schulgang eines der größten Hindernisse darstellte.
Während Paul diese Gedanken hatte, parkte er den Kombi auf seinem Parkplatz, vorne vor dem unscheinbaren weißen Praxisgebäude.
Das war nun eine halbe Stunde her und Paul König sah auf die Uhr. Er hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde und schon wenig später dröhnte Joshua Pichler durch das Gebäude: »Warum bin ich wieder hier? Papa, du hast mich angelogen! Ich WILL NICHT HIER HER!«
»Psst, Joshua. Hier will dich niemand ärgern. Es ist nur, damit du über alles reden kannst, was dich nervt«, sagte Viktor. Frau Müller erzählte später, der Vater von Joshua habe dabei einen leicht roten Kopf bekommen. Doch niemand nahm den Eltern (oder gar den Kindern) so ein Verhalten übel. Das gehörte dazu und jeder, der beruflich in diese Richtung gehen wollte, wusste das.
»Cool. Mich nervt, dass ich hier bin«, schnauzte Joshua.
Paul seufzte. Dann öffnete er die Tür seines Sprechzimmers und bat den Neunjährigen hinein. Eine Stunde später war Paul wieder um einiges schlauer – und Joshua etwas entspannter.
»Bis nächste Woche, Joshua!«, sagte Paul freundlich. Der Junge drehte sich langsam um und murmelte: »Bis dann, Herr König«. Diese Momente, in denen man die neuen Kinder knacken musste wie eine Walnuss, waren die spannendsten. Heute hatte sich die Walnussschale von Joshua Pichler etwas geöffnet. Paul sah nur noch den roten Haarschopf vom Jungen durch die transparente Glastür am Eingang. Einen Moment später war Joshua fort.
Joshuas Problem lag darin, dass er ein Gefangener war. Er steckte in einem Käfig, der sich Leben nannte. Es schien so, als nehme der Junge zwar sich selbst als reales Wesen wahr – jedoch ließ er es nicht zu, dass es auch andere Menschen gab, die ihm etwas zu sagen hatten. Das wussten seine Lehrer und auch Joshuas Eltern schienen so etwas zu ahnen. Joshua musste eingegliedert werden. Er musste spüren, dass andere Kinder Angst vor ihm hatten, dass auch andere Wesen so etwas wie Gefühle hatten. Paul wusste noch nicht genau, wie er das angehen sollte. Es war leicht, die schlauen Ratgeber zu lesen und nach Schema F irgendwelche Punkte abzuarbeiten. Am Ende saß jedoch ein Kind auf seinem Stuhl in seiner Praxis und dieses Kind erzählte eine eigene Geschichte. Es wäre wichtig, dass der Junge lernt, was Angst für andere Menschen bedeutet, dachte Paul und sah leer in den Vorraum der Praxis.
Frau Specht, die mit Vornamen Laura hieß, kam auf Paul zu. Mit einem koketten Lächeln fragte sie ihn, ob er später etwas zum Mittag vom Chinesen nebenan haben wollte. Paul erwachte aus seinen Gedanken und lehnte dankend ab. »Meine Frau hat mir etwas mitgegeben. Aber danke, Frau Specht!«
»Oh, nennen Sie mich doch ruhig Laura!«
»In Ordnung, Laura. Bring mir bitte die Akte der Jahnsons, okay?«
»Gern.«
In diesem Moment ärgerte sich Laura Specht etwas, doch sie war insgesamt zufrieden. Der attraktive Psychologe würde noch weich werden! Stefanie Müller musste schmunzeln, sagte aber kein Wort. Laura war mit ihren fünfundzwanzig viel zu jung für König und obendrein war der verheiratet!
Die Jahnsons kamen ein paar Minuten nach zehn an, da es sich an der Baustelle vor Verden nun staute. Die Stunde mit den Zwillingen verlief wie erwartet. Lenny hatte neue Bissspuren an seinem Unterarm, die er sich ab und zu selbst zufügte (beim Dinodonspielen). Jenny hatte zwei Pferdefiguren mitgebracht und erklärte Paul schüchtern, dass die beiden Pferde Geschwister waren. Dabei sah sie angestrengt auf die braunen Stoffpferde und wich Pauls dunklen Augen gekonnt aus. Beide Kinder malten ein Mandala aus und dann konnten sie wieder gehen.
»Bis morgen!«, sagte Jenny. Paul lächelte, dann sagte er: »Wir sehen uns erst am Dienstag wieder.«
»Oh, dann bis dann. Ich mag dich.«
Die Kinder gingen langsam aus dem Zimmer und wurden von ihren Eltern in Empfang genommen. Ich mag dich, dachte Paul und lächelte mild. Das, genau DAS, war der Grund, warum er sich für die Arbeit mit Kindern entschieden hatte. Sie waren so dankbar und freundlich, so entgegenkommend und offen für Neues! Er überlegte, wann (und ob) sein Vater jemals von einem seiner erwachsenen Patienten ein Ich mag dich zu hören bekommen hatte. Er schätzte, dass es nie der Fall gewesen war.
Der restliche Tag verlief erwartungsvoll gut. Ein paar Gespräche mit Eltern, die in Abwesenheit der Kinder die häusliche Situation beschrieben, damit Paul mit den Kindern besser arbeiten konnte, dann einige Stunden mit den üblichen Patienten: Entwicklungsverzögerte Kinder, schüchterne und verschlossene Jungen und Mädchen. Wichtig war, dass man die Arbeit nicht mit nach Hause nahm! Wenn er am Abend mit Grace und Ben am Küchentisch sitzen würde, würde er gerne in zufriedene und lachende Kindergesichter blicken. Natürlich waren alle seiner Patienten tolle Kinder und auf ihre Art besonders. Doch sie hatten alle etwas gleich: den trüben Blick und die unsicheren Äuglein, die ein lachendes Kinderherz hinter ihren glasigen Pupillen versteckten. Gracys blaue Augen oder Bens verschmitztes Lächeln waren nach einem Tag voller trüber Blicke eine wahre Medizin und Balsam für Pauls Seele.
In der Mittagspause waren Laura und Stefanie wie geplant beim Chinesen zum Essen. Paul stellte sich vor, wie sich beide am großen Buffet anstellten und dann je drei volle Teller mit gebratener Ente, Hühnerbrust, Reis und Sojasoße vertilgten. Dabei wurde dem Vierziger leicht übel und er hätte sich um ein Haar an seinem Caesar Salad verschluckt. Natürlich hatte Kati ihm nichts zum Essen mitgegeben (was nicht heißen sollte, dass sie das niemals tat), doch Paul fand es besser, Laura Specht noch einmal darauf hinzuweisen, dass er verheiratet und in festen Händen war. Es wäre nicht so gewesen, dass Paul unter Paranoia litt und sich durch ein Essensangebot schon belästigt gefühlt hätte. Die Blicke von Laura hatte er aber von seinem ersten Tag an bemerkt. Laura war hübsch, Mitte zwanzig und hatte eine ausgesprochen gute Figur – Paul hätte gelogen, wenn er gesagt hätte, dass ihm das nicht aufgefallen wäre. Stefanie Müller hingegen war rund zehn Jahre älter und mit dem ortsansässigen Fußballtrainer verheiratet. Sie wirkte gegen Laura wesentlich ruhiger und gestandener und Paul war es auch aufgefallen, dass Stefanie sich heimlich über Lauras Schwärmereien lustig machte. Nicht böse, versteht sich. Die beiden verstanden sich ausgesprochen gut, aber es hatte den Anschein, als würde die große Schwester über die kleinere lächeln.
Zum Feierabend stieg Paul in seinen dunkelgrauen Volkswagen ein und machte sich auf den Heimweg. Heimat bedeutete nun nicht mehr Hannover, sondern Verden. Eichenbach. Die Baustelle war nun weniger frequentiert und nach einer kurzen Wartezeit an der roten Ampel rollte der Kombi weiter.
Plötzlich wusste Paul, was er an diesem Abend machen wollte! Er würde den schmalen Weg zwischen Büschen und Bäumen entlanggehen und dem alten Franke einen Besuch abstatten. Bei diesem Gedanken drehte Paul das Radio auf, entschied sich aber, auf den CD-Spieler zu wechseln. So dröhnten die Ramones aus den Boxen und Paul fuhr weiter nach Eichenbach, immer die dunkle und vom Wald umgebene Straße entlang.
Beat on the brat with a baseball bat – oh yeah, sang Joey Ramone und Paul dachte wieder an den Fußballtrainer Guido Müller. Wie gut, dass er nicht wusste, dass dieser seiner Frau Stefanie manchmal tatsächlich mit einer Baseballkeule drohte. Doch zugeschlagen hatte Guido bisher noch nie.
2
Von der Haustür aus auf der rechten Seite des Gartens ging ein schmaler Weg entlang – wie bereits erwähnt, zwischen Büschen und Bäumen, Sträuchern und Zweigen. Das Gras war hier etwas höher und kämpfte sich gerade wieder auf dem Weg nach oben, scheinbar ist seit Wochen niemand mehr auf diesem schmalen Pfad gelaufen. Außer vor Kurzem, als Jörg Franke die neuen Nachbarn Paul und Kathrin König überraschend im Garten besucht hatte. Paul hatte den Weg bis dahin nicht entdeckt, und wenn der Nachbar an diesem Tage nicht rübergekommen wäre, würde Paul höchstwahrscheinlich noch immer nicht wissen, dass jener Weg überhaupt existierte. Sie hatten soeben zu Abend gegessen, doch sofort nach dem Essen verabschiedete sich Paul von Kati und den Kindern, um dem Nachbarn einen Abendbesuch abzustatten.
Nun aber, auf halben Weg zum benachbarten Grundstück, blieb Paul kurz stehen. Er kannte Franke noch gar nicht so gut. War es in Ordnung, ihn noch abends nach neunzehn Uhr zu besuchen? Er wollte schon fast wieder umkehren, da fielen Paul wieder die Worte seines neuen Nachbarn ein. Sie könnten immer rüberkommen, auch am Sonntag, hatte er gesagt. Da war ein Donnerstagabend doch vollkommen okay!? Mit diesem Gedanken stampfte Paul seinen Weg weiter. Er musste sich förmlich durch das urwaldähnliche Dickicht hindurchkämpfen, bis er am Ende des (schier endlosen) Weges endlich ein kleines graues Haus erblickte. Vor diesem tat sich noch ein winziger, leicht verwilderter Garten auf und Paul ärgerte sich fast, dass Kati und er sich so viel Mühe mit dem Mähen und Jäten des Gartens gegeben hatten. Während er so auf Frankes Garten schaute, dachte er sich, dass wohl jeder Garten im Ort so aussah und dass die Königs irgendwann auch so einen wilden Garten haben würden! Allein schon wegen der großen Fläche …
Paul stiefelte weiter durch das Gras, wo es von Butterblumen und Gänseblümchen nur so wimmelte. Jörg Frankes Haus lag komplett im Dunkeln. Nein! Im hinteren Fenster brannte ein schwaches Licht. Es war mittlerweile September geworden und die Tage wurden kürzer. Zwar war es um diese Zeit noch ziemlich hell, doch der Tag war grau und trüb gewesen. Sicher liegt das kleine Wohnzimmer zum hinteren Teil des Hauses raus, dachte sich Paul. Er malte sich aus, wie Franke in einem alten grauen Sessel saß und eine Pfeife rauchte. Im Fernsehen würde bald die Tagesschau beginnen und der alte Mann würde die Geschehnisse in Kabul verfolgen. Zum Teufel mit den Taliban! Die Demokratische Republik von Afghanistan drohte unterwandert zu werden und keine Religion der Welt sollte jemals durch Gewalt ihrer Anhänger an die Staatsmacht kommen! Da drohte die Gefahr eines weiteren chaotischen Zustandes in den arabischen Ländern, von dem auch Europa befallen werden könnte. Wusste man, wozu dieser Bin Laden noch fähig war?
Während Paul diesen Gedanken fasste, hatte er kurz das Gefühl, im vorderen Fenster des Hauses eine Gestalt zu erblicken, doch nach einem erneuten Hinsehen war diese verschwunden. Er schüttelte kurz seinen Kopf, dann ging er die beiden Holzstufen nach oben. Vor der Haustür lag eine kleine Veranda, auf den grauen Holzdielen standen ein kleiner Tisch und ein Stuhl. Die Pflanze auf dem Tisch war eingegangen und Franke hatte sicher vergessen, sie auszutauschen. Der eine Stuhl und die leblose Pflanze waren ein Indiz dafür, dass der Nachbar allein lebte. Paul wollte gerade an der Tür klopfen, als diese sich öffnete und ihm im Dunkel des Hauses ein trübes Augenpaar entgegensah. Er hatte gar nicht bemerkt, dass hinter der Tür ein Licht eingeschaltet wurde.
»Ich habe dich schon kommen hören, Paul«, sagte Franke und blickte freundlich zu ihm nach draußen. »Komm nur, komm doch rein! Aber nicht wundern: Ich habe nicht aufgeräumt.«
Paul musste lachen. »Guten Abend, Herr Fr …, Jörg!«, beinahe hätte er den netten Mann wieder beim Nachnamen genannt! Ob Franke es etwa war, der ihn vom Fenster aus beobachtet hatte?
»Wie nett, dass du mich besuchen kommst! Wir kriegen hier in Eichenbach nicht allzu oft Besuch, nicht wahr?« Dabei sprach der Nachbar, dessen Stimme merkwürdig schleppte, mit Paul so, als wäre dieser schon sein halbes Leben dort sesshaft gewesen.
»Also, da ich unter der Woche arbeite, kriege ich tatsächlich nicht mit, wie hoch die Besuchsrate hier ist«, scherzte Paul und kratzte sich am Kinn. »Man hat die Nachbarshäuser aber auch nicht dauerhaft im Blick!« Dabei lachte der Kinderpsychologe laut auf. Das Eis schien gebrochen! Franke verstand Pauls Anspielung auf die weitläufigen Grundstücke im Ort und nickte freundlich. »Komm doch bitte herein. Möchtest du ein Bier, Paul?« Und Paul nickte.
Seinen Vorstellungen entsprechend war das Haus ziemlich altmodisch eingerichtet. Die Tapete im Flur war verblichen und der braune Teppich war an vielen Stellen regelrecht durchgelatscht. Franke führte ihn nach hinten ins Wohnzimmer, auch mit dieser Vermutung lag Paul demnach goldrichtig. Es gab allerdings keinen grauen Sessel und Franke schien Nichtraucher zu sein! Der Fernseher war an, doch anstelle von US-Soldaten im Irak lief eine Quizshow, die dieser komische Kerl mit seinen schrillen Anzügen moderierte. Paul kam nicht auf den Namen des Moderators. Franke trat ein und gab ihm eine Dose Bier. »Bitte sehr, setzen wir uns!« Dabei zeigte der Nachbar auf das grüne Sofa. Neben diesem stand eine Stehlampe mit hölzernem Fuß, die schwaches Licht ins Zimmer warf. Die beiden setzten sich auf das Sofa und öffneten die zischenden Alukappen ihrer Bierdosen.
»Dann erzähl mal, Paul. Was hat dich nach Eichenbach verschlagen?«
»Also, wenn ich von vorne anfangen soll, dann werden es wohl mehr als eine Dose Bier«, sagte Paul und lächelte.
»Oh, ich habe genug im Haus. Dabei trinke ich nicht oft. Allein trinken ist nicht gut, weißt du doch!?« Und Franke zwinkerte ihm zu.
Paul nickte. Dann begann er zu erzählen.
»Ich bin in Hannover geboren und aufgewachsen, habe mein komplettes Leben dort verbracht. Mein Vater und meine Mutter sind mit mir immer raus aufs Land gefahren, meistens am Sonntag. Ich mochte das schon immer, Jörg. Also die Ruhe und die Natur. Hannover ist keine Metropole wie Berlin oder Hamburg, aber doch zu groß. Ich fühlte mich immer wie ein kleiner Käfer, den man unter einem Einmachglas gefangen hielt. Hannover – das transparente Glas, mit dem erlaubten Blick nach draußen. Aber rauskommen konnte man nicht. Wie dem auch sei, ich habe dort nach der Schule noch studiert und gearbeitet. Kati habe ich während der Zeit meines Studiums kennen und lieben gelernt. Wir bekamen die Kinder und dann tat sich diese Chance auf. Eichenbach hatte das Haus zu bieten, welches ich nun mein Eigen nennen darf. Hier und da muss ich noch etwas Hand anlegen, aber im Großen und Ganzen bin ich zufrieden!«
Franke lehnte sich zurück und hörte gespannt zu. »Was hast du studiert, Paul?«
»Psychologie. Ich habe nun eine Stelle in Verden angenommen.«
»Oh, wie schön, einem Psychologen kann man nichts vormachen.« Während der Nachbar diesen Satz aussprach, sah er kurz nachdenklich aus. »Die merken immer alles.«
»Nun ja«, sagte Paul – »Alles vielleicht nicht, aber ich kann einen schlechten Menschen von einem Guten unterscheiden.« Und Paul wusste, dass Jörg Franke ein guter Mensch war! Er wusste es einfach. Franke tat, als wäre er erschrocken, packte sich mit seinen kräftigen Händen ins Gesicht und rief: »Er hat mich ertappt!« Dann prosteten sich beide zu und schwiegen eine Zeit lang. Paul kam es wie eine halbe Ewigkeit vor, das Ticken der alten Stubenuhr wurde in seinem Ohr immer lauter und lauter.
»Ich wohne schon immer in Eichenbach. Manch Auswärtige sagen Hexenbach. Merke dir Paul: Die Hexe vom Bach ist eine alte Sage.« Franke kratzte sich am Hinterkopf.
Paul verstand nicht ganz, nickte jedoch trotzdem. »Der Briefträger erwähnte, dass Eichenbach viele Namen hat. Na, mir soll es recht sein, Hauptsache er weiß, wo er meine Post einwirft, und ich weiß, wo ich mein Haus stehen habe.«
»Ja, ist ein schönes Haus. Ich wollte es auch mal kaufen Paul. Aber ich habe mir gedacht, dass ich hier auch ein schönes Plätzchen habe.«
Paul schaute hoch. »Du wolltest es kaufen, Jörg? Wann? Nicht, dass ich dir einen Strich durch die Rechnung gemacht habe!«
»Oh, das ist schon einige Jahre her. Nachdem meine Frau Renate verstarb, Gott hab sie selig, suchte ich eine neue Bleibe. Die vielen Erinnerungen, weißt du? Ich wollte aber in Eichenbach bleiben, weil ich immer in Eichenbach war. Ich kenne nichts anderes. Deshalb hatte ich damals dein jetziges Haus im Blick. Aber es war mir doch zu groß. Zum Glück wurde dieses Häuschen hier frei. Die Familie zog nach Dörverden um.«
Paul stellte sich vor, wie der einsame Franke allein im großen Haus mit dem großen Garten gelebt hätte. Dann dachte er an Jörgs jetzigen Garten, der wesentlich kleiner war und trotzdem verwildert. Ihm wurde klar, dass Franke mit dem König-Haus komplett untergegangen wäre.
»Ich glaube, du hast hier eine gute Wahl getroffen, Jörg!«, sagte Paul und trank sein Bier leer. Franke suchte Pauls Blick und sagte: »Man tut, was man kann, nicht wahr? Und wenn man mal nicht weiterkann, hat man es wenigstens versucht!« Und in seinem Kopf stimmte Paul den Worten des Nachbarn zu.
»Weißt du, wann das Haus gebaut wurde? Der Makler sagte, es sei an die hundert Jahre alt!«
»Das kommt hin«, sagte Franke ruhig. »Es wurde von einem Mann namens Wilhelm Martins erbaut. War ein reicher Pferdezüchter aus Eichenbach. Ihm gehörte auch der Wald hinter dem Haus.«
Paul pfiff leicht durch seine Zähne. Er hatte anscheinend wirklich einen ehemaligen Palast für sich und seine Familie gefunden.
Sie tranken beide noch eine weitere Dose Becks, redeten über Pauls Familie (Paul betonte, dass die Kinder die Freiheiten auf dem Land lieben würden) und dann verabschiedete sich Paul wieder. »Ich muss morgen wieder in die Praxis, Jörg. Danke für den netten Abend! Das sollten wir bald mal wiederholen!«
»Jederzeit bereit Paul. Grüß doch deine nette Frau von mir und … pass auf dich auf! Der Weg zu euch herüber ist dunkel. Es gibt zwar nicht viele gefährliche Tiere hier – aber ein paar Kreuzottern habe ich schon gesehen.«
Paul versicherte, dass er aufpassen würde, und ging aus dem Haus. Kühle Nachtluft empfing ihn und das Gras des Nachbarn schien in den letzten zwei Stunden noch wilder geworden zu sein. Sicher ein Herbstwind, der seinen Weg nach Eichenbach fand. Paul stolperte durch die Büsche und hätte beinahe eine Bauchlandung gemacht, da er eine Wurzel nicht rechtzeitig bemerkte. Nach einigen Minuten stand er wieder in seinem eigenen ordentlichen Garten. Im Erdgeschoss des Hauses brannte kein Licht. Nur oben bei Gracy und im Bad war noch Licht zu sehen. Mit leichten Schritten ging er durch die Stille über seinen kurzen Rasen und ignorierte die Angst, die sich langsam in ihm breit machte. Wenn hier einmal irgendetwas passieren sollte, würde es keiner mitbekommen. Niemand!
3
Paul ging die Stufen zu seiner Haustür hoch und musste sich kurz am Geländer festhalten. Er trank nicht allzu oft Bier oder anderen Alkohol, doch der nette Plausch mit Franke war ein guter Grund gewesen, um sich ein kühles Blondes zu genehmigen. Nun musste er sich aber stützen, er merkte, wie sich der Alkohol in seiner Blutbahn ausbreitete. Der fremde Feind im Körper, sein Organismus kannte ihn fast gar nicht mehr. Diese Angst … Die Angst vor der Einsamkeit und Hilflosigkeit, die er gerade noch verspürt hatte – und schon wieder dieses große herausfordernde Haus. Das alles machte der Alkohol mit ihm. Man durfte es natürlich niemanden erzählen, dass zwei Büchsen (halbliter wohlgemerkt!) ausreichten, um den vierzigjährigen Paul aus der Bahn zu werfen – selbst Kati nicht. Aber auch, wenn er dieses Geheimnis für sich behielt: Der Alkohol war schuld an seiner Melancholie!
Mit suchenden Fingern tastete Paul nach dem Hausschlüssel, der sich irgendwo in der Tiefe seiner Jackentasche vergraben hatte, einmal hatte er ihn schon zwischen seinen Fingerkuppen gespürt – und dann doch wieder verloren. Als er ihn fand und die Tür mit einem leisen Knacken aufschloss, betrat er wieder diese magische Stille des Hauses am Rinnsal. Ein kalter Stoß Luft wehte ihm entgegen, wie immer, wenn man die Tür ahnungslos öffnete.
(Die Maler bemerkten Kälte.)
So stand er einen kurzen Moment da, lauschte mit geschlossenen Augen ins Gebäude hinein und versuchte, ruhig zu atmen. Als er vollständig ruhig war, nahm er die Geräusche im Haus wahr. Da waren das Knacken und Knistern des Kühlschranks, das selbst hier im Hausflur noch klar und deutlich zu hören war. In regelmäßigen Abständen sprang das Kühlaggregat an und löste jenes Geräusch aus, das bei kleineren Kindern für große erschrockene Augen sorgte. Wenn man sich an das Geräusch aus der Küche gewöhnt hatte, hörte man noch andere Dinge. Von oben drang ein Föhn und Paul vermutete, dass Kati sich nach dem abendlichen Duschen die Haare trocknete. Die (verfluchte) Uhr im Wohnzimmer tickte lautstark ihren sekündlichen Takt und Maxi schnarchte von irgendwo her. Sicher lag der Hund wieder auf seinem Kissen und hatte seine wirren Träume.
Aus dieser andächtigen Starre erwacht, machte sich Paul auf den Weg nach oben. Er wollte jetzt nur noch schlafen, sich vorher schnell waschen und dann neben seiner Frau in den Schlaf sinken. Sex würde es nicht geben, Kati würde riechen, dass er Bier getrunken hatte. Es war zwar ein freies Land – aber sie mochte es nicht, wenn er unter der Woche trank. Für einen wie ihn, der selten etwas trank, umso weniger.
Behutsam betrat Paul die hölzerne Treppe – Knaaarsch. Er zuckte für einen Augenblick zusammen. Dann ging er weiter, bis er schließlich im oberen Korridor angekommen war. Im Bad war noch immer das Geräusch des Föhns zu hören und deshalb beschloss Paul, noch kurz bei Gracy ins Zimmer vorbeizuschauen und seiner Tochter eine gute Nacht zu wünschen. Er stand schon vor ihrer Zimmertür, als er innehielt. Grace war nun zwölf Jahre alt und entwickelte sich langsam zu einer jungen Frau. Er durfte nicht einfach die Tür aufreißen, wie er es früher ungeniert gemacht hatte. Man musste kein Psychologe werden, um zu wissen, dass pubertierende Kinder sich eine Intimsphäre aufbauen und dass diese auch respektiert werden musste. So klopfte Paul zaghaft an Graces Tür und wartete, bis sie ihn zu sich hereinbat. Doch niemand reagierte. Pauls Augen wanderten nach unten – unter der Tür drang Licht nach außen und auch draußen, vom Rasen aus, hatte er gesehen, dass in Gracys Zimmer ein Licht brannte.
»Grace? Alles in Ordnung bei dir? Ich wollte dir nur eine gute Nacht wünschen!« – Stille. Nein, da war doch etwas zu hören, Grace wimmerte. Paul klopfte erneut, diesmal weniger zaghaft. »Schatz, ist alles in Ordnung?«
»Komm rein, Papa.«
Er öffnete die Tür. Grace saß auf ihrem Bett mit einem kreidebleichen Gesicht. Besorgt musterte Paul König seine Tochter.
»Ist dir schlecht? Soll ich dir etwas bringen?«
»Nein. Also, ja… Papa, hier war jemand in meinem Zimmer!«
Verdutzt blickte Paul zu seiner Tochter hinab. Sie war ein schönes Mädchen mit langen blonden Haaren und großen klaren Augen, welche tiefblau strahlten. Doch jetzt war der Blick eher trüb und grau. Wie bei den Kindern in der Praxis, dachte er leicht erschrocken.
»Hat Ben dir wieder einen Streich gespielt?«, fragte Paul und musterte das Zimmer seiner Tochter. Es war ein übliches Chaos, wie man es sich in einem Teenie-Zimmer so vorstellte. Auf dem Schreibtisch lagen Schulhefte und Stifte, daneben stand ein Teller mit einem angebissenen Sandwich. Auf dem Boden lagen alte Socken und auf dem Stuhl in der Ecke war der Rest der schmutzigen Wäsche lieblos aufgetürmt.
»Grace, du bist eine Chaosnudel! Räum morgen bitte dein Zimmer auf und bring die schmutzige Wäsche in die Waschküche! Und iss bitte dein Sandwich auf!«, plötzlich merkte Paul nicht mehr viel von seinen beiden Bieren, die er sich vor kurzer Zeit noch mit Franke verabreicht hatte. Nun ärgerte er sich viel zu sehr über das Durcheinander im Zimmer seiner Erstgeborenen.
»Ja, Paps. Aber Ben war es nicht. Ich weiß nicht, wer es war. Ich habe ihn nur kurz gesehen, als ich aus dem Badezimmer kam. Er oder sie – oder es, huschte aus meiner Tür hinaus.«
»Und wohin ist er, sie oder es dann gehuscht?«, sagte Paul und bemühte sich, nicht zu sehr in seiner üblichen beruflichen Tonlage zu sprechen.
»In das Dunkel des Flurs. Es ging so schnell … oh ich habe echt Angst. Ich habe doch von Anfang an gesagt, ich will an keinen Ort ziehen, an dem es gruselt!«
Paul überlegte kurz, dann streichelte er seiner Tochter durch die hellen Haare. Sie waren frisch geföhnt. Nach einem kurzen Moment sagte er: »Schlaf jetzt, du bist müde. Ich werde mich im Flur umsehen. Und Grace? Ich hab dich lieb!«
Grace gab ihrem Vater einen leichten Kuss auf die Wange und stieg in ihr Bett. Paul stand auf und löschte das Licht im Zimmer. Dann trat er in den dunklen Flur hinaus. Der Föhn im Badezimmer war verstummt. Kati ist also im Bett, dachte er sich und schlug selbst den Weg ins Bad ein. Dort war alles ruhig, der Föhn hing an seinem Platz im Halter an der Wand und letzte Wassertropfen im Waschbecken zeugten davon, dass sich vor kurzer Zeit jemand das Gesicht gewaschen hatte.
Paul wusch sich kurz ab, zog seine Kleidung aus und putzte seine Zähne. Beim Gurgeln legte er den Kopf in seinen Nacken und sah zur Decke hoch. Von oben blickten ihm teuflische Augen entgegen. Sie leuchteten rot und lagen in einem bleichen Gesicht, welches durch die Badezimmerdecke zu ihm herabschaute. Vor Schreck ließ Paul die Zahnbürste fallen und spie die Mischung aus Speichel und Odol auf den weißen Fliesenboden. Er drehte sich nach oben hin um – und sah nichts mehr. Kein Gesicht, keine roten Augen – nur die helle Lampe der Badezimmerdecke, die kräftig vor sich hin strahlte. Schnell stand Paul auf, verfluchte alle Biere dieser Welt und ging aus dem Bad. Er wollte schnell ins Schlafzimmer huschen, als er Ben im Flur antraf. Der kleine Kerl geisterte durch den Flur und war kurz davor, zu Grace ins Zimmer zu schleichen. Also war es doch Ben, der seiner großen Schwester einen Schrecken eingejagt hatte! Paul packte seinen Sohn gerade noch rechtzeitig an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. Mit flüsternder Stimme sprach er: »Guten Abend, junger Mann. Ab ins Bett mit dir und lass deine Schwester schlafen! Du hast ihr heute schon genug Angst eingejagt!«
Ben kicherte und flüsterte, dass er nur für Halloween üben wollte. Dann ging er leise zu seinem Zimmer zurück. Ein strenger Blick von Paul trug dazu bei, dass der Achtjährige auch wirklich brav in sein Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss. Seit kurzer Zeit sprang das amerikanische Halloween-Fieber auch nach Deutschland über. Er schüttelte seinen Kopf, dann konnte Paul auch endlich ins Bett gehen.
Kati murmelte Unverständliches, als er sich neben sie legte, doch es klang wie etwas von der Art: Wenn du getrunken hast, dann atme mich nicht an. Das hatte Paul auch gar nicht vor und so lag er noch eine Weile im Bett und durchdachte den Abend. Das Gespräch mit Franke war nett, Eichenbach ist malerisch ruhig und die Kinder gehen ihren Weg. Und das Gesicht aus der Badezimmerdecke: Er hatte es nur kurz gesehen und unter dem Einfluss von Alkohol und dem hellen Licht der Lampe war es ein gelungener Streich seines Gehirns. Doch wenn er sich vorstellte, wie das Gesicht jenes alten Mannes aussehen würde, welchen Paul vor einigen Wochen im Schlafzimmer gesehen hatte, als dieser durch die Wand ging, so würde die Fratze des Kerls sicher genau so aussehen wie das Ding, das aus der Badezimmerdecke kam.
4
Im Klassenraum der siebten Klasse wurde es still. Am Verdener Domgymnasium wurden gerade die Herbstklausuren geschrieben. Grace hatte sich gut eingefunden und schaute zu ihrer neuen Freundin Elly herüber. Diese war damit beschäftigt, die Aufgaben der Mathematikklausur eifrig zu lösen. Graces verstohlener Blick blieb nicht unbemerkt und mit einem mahnenden Gesicht sah ihr Frau Nebel direkt in die Augen. »Grace, bleib bitte mit deinen Augen bei deinem Arbeitsblatt!« Grace errötete daraufhin leicht. Sie nickte und begann ihre Rechenaufgaben zu lösen. Doch sie konnte sich nicht auf das Prozentrechnen konzentrieren.
Immer wieder schweiften ihre Gedanken an den Abend vor vier Tagen zurück, als sie sich geduscht und geföhnt hatte, ihren Pyjama anzog, um dann in ihr Zimmer zu gehen. Abends las Grace noch gerne in ihrem Bett, doch am Donnerstagabend war ihr die Leselust gründlich vergangen. Jemand war in ihrem Zimmer, das war nun einmal Fakt! Die restliche Nacht war es ruhig und auch am Abend darauf hatte Grace nichts Sonderbares bemerkt (mit Ausnahme von Maxis nervigem Gejaule, welches er abends gerne zum Besten gab). Doch trotzdem ließ es Grace König nicht los. Hatte Ben nicht im August einen Mann in seinem Zimmer gesehen? Mama und Papa hatten es auf einen Gruselfilm abgeschoben und Grace glaubte das auch. Bis jetzt, wo sie selbst etwas bemerkt hatte. Der Haken an der Geschichte war, dass Grace nicht wusste, was sie gesehen hatte. Es ging viel zu schnell und das schattige Etwas war auch nicht besonders groß. Es konnte durchaus Ben gewesen sein, wie ihr Vater es vermutet hatte.
Plötzlich begann Elly, versteckte Handzeichen in Gracys Richtung zu geben. Erschrocken sah Grace zu Frau Nebel, die ihren Kopf jedoch nach unten beugte und etwas in ihr dunkelgrünes Lehrerbuch schrieb. Dann drehte sich Grace zu Elly um. Nach einigen Augenblicken verstand sie, was ihre Freundin von ihr wollte. Ellys Tintenpatrone war leer und sie hatte keinen Ersatz mehr. Grace gab ihr zu verstehen, dass sie sich ruhig bei Frau Nebel deswegen melden könnte, doch Elly begriff nicht. Also kramte die Blondine nun doch in ihrer Schlampermappe und entdeckte eine volle Patrone. Grace hatte selbst nicht mehr viele und wollte Elly gerade eine Tintenpatrone zuschieben, als die Lehrerin sich räusperte. »Grace, ich glaube, für dich ist hier jetzt Ende. Gib mir bitte deine Klausur. Du kannst dann draußen warten, bis die anderen fertig sind!«
Erschrocken sah Grace auf ihr fast leeres Blatt. Sie hatte es gerade einmal geschafft, eine Aufgabe zu lösen. Ärgerlich sah sie zu Elly herüber, die sich nun meldete, um den Fall zu klären.
»Elenore, was ist los?«, fragte Frau Nebel.
»Grace hat nichts getan, meine Tintenpatrone war leer und ich wollte mir von ihr eine leihen!«
Irgendein Kind machte verärgert Pssst und Elly sprach leiser weiter. »Darf sie bitte weiterschreiben?«
Die Lehrerin sah Grace an und seufzte. »Also gut, hier Grace. Aber ab jetzt keinen Mucks mehr!«
Dankend sah Grace zu Elly. Sie war wirklich eine gute Freundin! Mit neuem Elan begann Grace die Aufgaben zu lösen. Es fiel ihr nicht unbedingt leichter, aber sie hatte Ablenkung gefunden. Sollte es wirklich Ben gewesen sein, der ihr einen Streich gespielt hatte, würde sie ihren Bruder verprügeln! Das war Fakt.
5
Ben lief lachend über den Pausenhof der Grundschule. Marvin und er spielten gerade ausgelassen, als sich plötzlich drei Jungs aus der vierten Klasse vor Ben aufbauten. Es waren Tim, Aaron und Specki, der eigentlich Michael hieß, aber weil er so dick und so weich wie Mäusespeck war, nannten ihn alle Kinder nur Specki. Tim war der Anführer der Bande und grinste Ben nun mit einer höhnischen Fratze an. »Hey Benny, hast du gestern wieder schön auf einem Schwein geritten? Oder einer Kuh am Euter gespielt?« Dabei lachten Aaron und Specki laut auf. Tim war der Meinung, dass Leute, die in kleinen Dörfern wie Eichenbach lebten, allesamt Bauern und Knechte waren.
»Oh, ich rieche schon den Hühnermist!«, rief Specki und rieb sich seinen Wanst. »Mhh, Hühnchen …«, dabei schmatzte er sabbernd.
»Haut ab, ihr Idioten!«, rief Marvin ärgerlich aus. »Sucht euch wen in eurer Größe!«
»Hat hier einer gesagt ‚Brillenschlange, melde dich‘?«, fragte Tim scharf. Dann trat er auf Ben zu. »Ich möchte meine Zeit nicht mit euch Zwergen vergeuden. Man sieht sich!« Dabei grinste er überlegen drein. Die drei zogen davon und kurze Zeit später klingelte die Pausenglocke.
Tim war hin und wieder mal Patient in der Kindertherapiepraxis gewesen, noch bevor Bens Vater dort angefangen hatte. Er wusste nicht, dass der Vater seines Pausenhof-Opfers nun jene Praxis führte, zu der er sonst immer nur ungern gegangen war. Doch seine Eltern hatten verlauten lassen, dass sie bald mit ihm wieder dort aufschlagen werden, denn das Sozialverhalten von Tim und seine aufgestauten Aggressionen nahmen mehr und mehr zu. Doch davon wusste Ben nichts und es war gut, dass Tim auch nicht wusste, wessen Sohn Benjamin König war. Für Tim war Ben nur ein kleiner Junge aus diesem Dorf, von dem sein Opa immer schaurige Märchen erzählte. Für Ben war Tim nur ein Junge aus der Kleinstadt, der es mit elf Jahren noch immer nicht in die fünfte Klasse geschafft hatte.
6
Maxi hatte es sicher nicht leicht gehabt in seinem bisherigen zweijährigen Hundeleben. Der Golden Retriever kam sicher aus einem Haushalt, in dem Liebe und Fürsorge keine große Rolle gespielt hatten, anders konnte sich Paul das Verhalten des Hundes mit dem goldgelben Fell nicht erklären. Es gab Tage, an denen Maxi einfach freundlich und artgerecht die Familie begrüßte, sein Futter fraß, nebenbei mit treudoofem Hundeblick in der Küche lungerte, um vielleicht doch noch etwas abgreifen zu können. Aber dann waren da auch diese anderen Tage, an welchen der Hund aus der Tierpension von Dörverden die Familie König wie eine fremde Armee betrachtete. Allen voran Truppenführer Paul, der die Meute der unheimlichen Soldaten namens Kati, Grace und Ben anführte. Maxi tat dann immer so, als sei er Gefangener in einem überdimensionalen Hundezwinger, bestehend aus hellen Holzbrettern und großen dunklen Fenstern – stets wartend auf die nächste Peinigung und das nächste Unheil.
Einmal hatte Marvin seinen Freund Ben gefragt, ob sie zusammen mit ihren Hunden in den Wald gehen wollten – die Hunde könnten durch das Laub der Bäume toben und die Jungen würden spielen, sie wären einsame Ausreißer, die mit den Wölfen (den beiden Hunden) zusammen im Wald lebten. Die Idee gefiel Ben und trotzdem musste er ablehnen: Maxi ist momentan sehr schreckhaft, ich weiß nicht, ob ich ihn im Wald laufen lassen kann, hatte er gesagt und Marvin dabei mit einem Schulterzucken angesehen. Marvin hatte sich am Kopf gekratzt und seine braune Brille mit dem Zeigefinger wieder zurück auf die Nase gestupst.
Marvins Hund – ein Mischling, der auf den Namen Fips hörte, war so, wie Ben sich einen Hund immer vorgestellt hatte. Maxi war manchmal auch so. Maxi konnte auch toben und hecheln, sich schwanzwedelnd streicheln lassen und lieb auf seinem Kuschelkissen schnarchen. Oder aber, und das kam bald häufiger vor, konnte Maxi paralysiert in der Ecke sitzen, den Kopf dabei leicht nach unten gesenkt, und Winselgeräusche machen. Immer, wenn Ben dann seinen Hund kraulen wollte oder ihm gut zureden wollte, erschrak dieser und schüttelte seinen Körper.
Grace meinte einmal, dass der Hund nicht ganz richtig sei, was Ben zutiefst ärgerte. DU bist nicht ganz richtig, hatte er seiner großen Schwester ins Gesicht gerufen und spürte, wie ihm Tränen der Ungerechtigkeit in die Augen stießen. Was wusste Grace denn schon? Sie traf sich mit ihren Freundinnen, hörte blöde Musik und sie redeten immer über Jungs. Das wusste Ben ganz genau und zu Marvin hatte er mal gesagt, die Mädchen seien verwirrt, weil sie nun Brüste bekamen. Der Achtjährige hatte keine Ahnung, woher er diesen Satz (oder dieses Wissen) hatte, doch es passte ganz gut! Er bekam es immer wieder mit, dass Grace sich im Badezimmer einschloss, das tat sie früher nie. Und sie trug nun nicht mehr die T-Shirts mit den Pferdeköpfen oder die Leggins mit den Blümchen. Stattdessen besaß Grace schon einen BH, diese Dinger, die man sich als Frau um die Brust stülpte. Ben hatte einmal heimlich in ihrem Zimmer gestöbert, als sie noch in Hannover waren. Dabei hatte er den BH gefunden und eine Packung von den weißen Wattetorpedos, die seine Mutter auch hatte. Und nur weil Grace nun BHs trug, sollte sein Hund nicht ganz richtig sein!? Pfff!
Okay, der Vorfall vor einigen Tagen war vielleicht doch nicht ganz so harmlos. Im Grunde genommen schauderte es Ben, wenn er daran dachte, aber das musste Grace ja nicht so genau wissen. Sonst würde sie ihren Eltern vielleicht noch einreden, dass Maxi wieder ins Tierheim müsste!
Ben kam von der Schule, die Uhr zeigte kurz nach eins. Er trat ins Haus ein und bekam als Erstes den kalten Luftzug zu spüren, der immer wieder auftauchte, wenn man das Haus betrat. Sein Vater sagte, es wäre ein Durchzug – offene Fenster und Türen würden die Luftstöße verursachen. Aber an diesem Tag war kein Fenster geöffnet. Nachdem Ben den kalten Zug über sich ergehen ließ, rief er nach Maxi. Der Hund antwortete nicht. Ben rief wieder, diesmal etwas lauter. Irgendwo im Haus klapperte eine Tür – dann wieder Stille. Vorsichtig ging Ben weiter, blieb an der knirschenden Holztreppe stehen. Angestrengt lauschte Ben nach oben, von wo das Geräusch der klappernden Tür gekommen sein musste. Leichtfüßig begann der Junge die Treppe nach oben zu steigen, doch schon auf der zweiten Stufe quietschte es durch das ganze Haus. Mit klopfendem Herzen blieb Ben stehen und schloss die Augen. Wo war Maxi? Als das Quietschgeräusch im Haus verklungen war, ging er weiter. Maxi!?, rief er. Zur Antwort kam ein Rascheln von oben. Ben musste die Treppe komplett erklimmen! Rasch ging der Junge die Treppe nach oben, ignorierte dabei jedes Knaaarsch und jedes Kniiirsch und stand schon im oberen Flur. Rechts lag das Badezimmer, die Tür war verschlossen. Geradeaus lag sein Zimmer, daneben das Zimmer von Grace. Links ab das Schlafzimmer der Eltern. Dort war die Tür leicht geöffnet, sie musste also das Klappern erzeugt haben! Langsam schlich Ben den Flur entlang – und stürmte dann entschlossen ins Elternzimmer. Maxi kauerte in der Ecke und leckte sich sein Fell. Als Ben näher an den Hund herantrat, sah er, dass dieser eine Bisswunde hatte. Blut lief aus der Wunde und färbte das Fell des Golden Retrievers langsam dunkelrot. Sofort stürzte Ben zu seinem Hund, der ihm ängstlich in die Augen sah. Ben streichelte Maxis Kopf und begutachtete die Bisswunde. Sie war nicht sonderlich tief, aber sie war da. Irgendetwas hatte den Hund bedroht und angegriffen! Ben lief ins Bad und holte einen feuchten Lappen. Mit dem tropfenden Tuch ging er dann wieder zurück ins Schlafzimmer und versorgte Maxis Wunde. Der Hund zuckte im ersten Moment zurück, dann leckte er Ben durch das Gesicht. Die Dankbarkeit des Hundes löste bei Ben ein warmes Gefühl in der Brust aus. Er wusste nicht genau, wie sich Liebe anfühlte, aber wenn sie sich so gut anfühlte, wie er es einmal im Fernsehen gehört hatte, dann musste sich Liebe genau SO anfühlen! Den Großteil des Blutes konnte Ben tatsächlich abwischen, die Wunde war nur noch ein schmaler roter Strich auf dem Oberschenkel. Ihm blieben nur noch gut zwei Stunden, dann würde Grace nach Hause kommen. Bis dahin musste es Maxi wieder gut gehen! Behutsam half Ben dem Hund auf die Beine und ging mit ihm ins Badezimmer. Dort nahm er den großen orangenen Verbandskasten aus dem weißen Schrank und suchte nach einer Mullbinde. Konnte man einem Hund überhaupt den Oberschenkel verbinden – und wenn man es konnte: Konnte Ben es dann auch? Ben zweifelte daran. Trotzdem legte er Maxi vorsichtig den Verband um, Maxi ertrug es tapfer und friedlich. Als sie fertig waren, packte er den Verbandskasten sorgfältig in den Schrank zurück und ging mit dem Golden Retriever langsam nach unten. Die Treppe nahm der Hund erstaunlich gut und unten angelangt wedelte er schon wieder mit dem Schwanz. Ben gab ihm ein Leckerli und lockte Maxi dann ins Wohnzimmer, wo er sich auf dem Kuschelkissen niederließ. Der Junge ging in die Küche und machte sich eine Schüssel mit Cornflakes. Da die Milch leer war, schüttete er sich Orangensaft (ohne Fruchtfleisch!) in die Smacks. So wartete er auf die Ankunft seiner Schwester.
Um Viertel nach drei öffnete Grace die Haustür. Sie schmiss ihre Schultasche lieblos in die Ecke und ging sofort in die Küche. Ben saß am Tisch und stocherte in seinen Flakes herum – er hatte kaum etwas gegessen. Grace fragte Ben, ob er noch ganz bei Trost sei, sich die Getreideflakes mit O-Saft einzuschaufeln. Doch Ben verstand nicht, was daran so besonders sein sollte!? Dann führte er Grace zu Maxi ins Wohnzimmer, die beim Anblick von seinem Verband zuerst panisch wurde, dann aber ihren kleinen Bruder mit einem komischen Blick ansah. Ben versicherte, dass Maxi eine Bisswunde – oder etwas Ähnliches – hatte und er ihm nur so helfen konnte. Grace glaubte ihrem Bruder natürlich nicht und wollte dem Hund vom Verband befreien. Maxi sah die beiden streitenden Geschwister fragend an. Grace versprach, sie würde ihren Eltern nichts erzählen, wenn Ben sich nun vernünftig benahm. Ben setzte sich mit beleidigter Miene auf das Sofa und ließ seine Schwester machen. Sollte die Pute doch selbst sehen! Grace nahm dem Tier den Verband ab, murmelte etwas, was sich für Ben anhörte wie: Was zum Teufel soll das? Dann drehte sie sich zu ihrem Bruder um. Maxis Oberschenkel war unversehrt. Keine Wunde, kein Blut – nicht einmal ein Kratzer! Ungläubig sah Ben sich die Stelle an. Dann sah er sich das komplette Hinterbein an, den Rücken und die Flanke. Der Hund sah aus wie eh und je. Grace entsorgte den Verband und Ben sah Maxi fragend an. Dieser legte seinen Kopf auf die Vorderpfoten und sah in dem Moment so unschuldig aus, dass Ben dachte, er selbst hätte den Verstand verloren – in diesem leeren Haus, mit einer unbekannten Angst im Nacken.
Wenn Ben jetzt, Tage später, an diesen Vorfall zurückdachte, wurde ihm klar, dass irgendetwas vielleicht doch nicht stimmen konnte. Das musste aber nicht mit Maxi zu tun haben. Vielleicht stimmte ja auch mit ihm, Ben, etwas nicht!?