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Kapitel 3

Hunde

1

Die Kinder kamen nach Verden in die Schule und Paul trat seine Stelle in der Praxis an. Kati verbrachte die Vormittage damit, einkaufen zu gehen und das große Haus in Ordnung zu halten. Es pendelte sich eine gewisse Normalität und Stück für Stück Alltag bei Familie König ein, was natürlich dazu beitrug, dass jeder nun mit seiner Aufgabe im neuen Heim beschäftigt war.

Am Abend des 28. August erzählte Grace beim Abendbrot, dass sie eine neue Freundin in der Klasse gefunden habe. Sie sei für ein Landei echt cool, wie Grace es nannte. Kati erzählte, dass ihr manchmal etwas mulmig allein im Haus zumute sei, was Paul mit dem zarten Streicheln ihrer Hand besänftigte, und Ben hatte eh schon Anschluss bei den Jungs gefunden.

Pauls Arbeit verlief den Umständen entsprechend gut und die Angestellten in der Praxis, Frau Müller und Frau Specht, waren sehr freundliche und kompetente Sprechstundengehilfinnen. Zufrieden schaute er auf seinen Teller. Brathähnchen und Kartoffelbrei, schweres Essen am Abend und sicher würde er die halbe Nacht wach liegen – doch es passte einfach. Die Welt drehte sich wieder in ihren farbenfrohen Bahnen und dabei konnte man sich gut und gerne den Bauch vollschlagen, auch am Abend. Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen!

»Papa, ich möchte bitte einen Hund haben!«, kaute Ben zwischen seinem Kartoffelpüree hervor. Paul schaute hoch.

»Einen Hund? Wie stellst du dir das vor? Wir sind arbeiten und du in der Schule. Ein Hund braucht Aufsicht!«

»Aber Marvin hat auch einen Hund«, rief der Achtjährige aus. Marvin Korbach war der neue beste Freund, den Ben in Eichenbach gefunden hatte.

»Ich weiß aber nicht, wie es bei Marvin zu Hause aussieht, Benjamin. Sicher hat dort immer jemand für den Hund Zeit«, sprach Paul ruhig und gelassen aus.

»Nein, die sind immer alle unterwegs«, meinte Ben und kaute weiter. Das Thema wurde jedoch nicht weiter erwähnt und Paul sah zu Kati, die seinen Blick traf. Nach dem Essen blieben die beiden am Tisch sitzen, während die Kinder nach oben in ihre Zimmer gingen. Nein, sie rannten die Treppe hoch. Das traf es besser. Knaaarsch.

»Paul, den Platz hätten wir allemal für einen Hund. Es muss ja keine Dogge sein, aber vielleicht fällt es den Kindern hier noch leichter, wenn sie einen flauschigen Freund haben!?« Kati guckte Paul mit nachdenklichen – doch ehrlichen Augen an. Hat sie etwa schon mit den Kindern gemeinsame Sache gemacht?, dachte Paul mürrisch.

»Wir werden es sehen. Ich habe keine Lust auf Hundehaufen im Garten oder demolierte Möbelstücke, weil das Tier den halben Tag allein ist!«

»Na, Ben ist immer um eins hier. Und Gracy um drei. Meinst du nicht, dass das Tier von acht bis eins allein sein kann?«

»Ich denke darüber nach. Und jetzt, mein Schatz: Lass uns zu Bett gehen. Ich bin ganz verspannt und könnte eine von deinen unschlagbaren Massagen gebrauchen!« Dabei grinste Paul seiner Frau schelmisch entgegen. Diese setzte ein unschuldiges Grinsen auf und ging mit ihrem Mann nach oben, wo sie sich zwei Mal liebten.

Nachdem sie beide gekommen waren, kuschelte sich Kati sanft an Pauls Körper an. Sie war schon längst eingeschlafen, als Paul noch an die Decke des Zimmers starrte. Oben auf dem Dachboden rumorte etwas und Paul war sich sicher, dass ein Marder den Weg hinaufgefunden hatte und nun auf dem Speicher sein Unwesen trieb. Wird Zeit, dass ich den Dachboden ausbaue, dachte er sich noch, bevor er in einen unruhigen Schlaf fiel.

In seinen Träumen flogen gebratene Hähnchen durch den Garten, einige verloren sich im Flug und platschten auf den Rasen hinterm Haus. Manche davon brachte Paul ins Haus, um sie fürs Abendessen in der Bratröhre aufzuwärmen. Doch es waren einfach zu viele! Er nahm den Spaten und buddelte die restlichen Brathähnchen im hinteren Garten ein. Dabei hörte er Kati angestrengt stöhnen. Sie war wieder mit der Harke unterwegs und fluchte über irgendwelche alten Wurzelzweige. Die Arbeit war hart, und als alle Hähnchen verschwunden waren und Kati alle Pflanzen umgesetzt hatte, wollte Paul nur schlafen. Auf der Stelle schlafen. Er legte sich ins Bett und schlief sofort ein.

Als Paul wenig später wieder seine Augen aufschlug, stand ein schwarzer Hund an der Türschwelle des Schlafzimmers. In diesem Moment war Paul sich sicher, dass er träumte, und er ließ den Traum gewähren. Die Gespräche über einen möglichen Hund hatten sich nun in seinem Unterbewusstsein verfangen und jetzt stand er da. Es war ein Dobermann, ein edles Tier – doch recht groß! Der Hund blickte Paul mit seinen leuchtend gelben Augen an und wartete darauf, dass er aufstand und zu ihm kam. Paul gehorchte seinem Traum und stieg vorsichtig aus dem Bett. Neben ihm schnarchte Kati leise, die er auch in seiner Traumwelt nicht aufwecken wollte. Er schaffte es unbehelligt, aus dem großen Bett zu klettern und dem Dobermann gegenüberzutreten. Dieser drehte sich prompt um und ging in den Flur hinaus, dabei machte der Hund keinen Mucks. Paul bemühte sich, ähnlich still zu sein, und spürte die kalten Holzdielen unter seinen bloßen Füßen. Für einen Traum fühlt sich die Kälte verdammt echt an! Wahnsinn. Der Hund lief geradewegs die Holztreppe nach unten und befand sich schon im Erdgeschoss, als Paul noch an der oberen Schwelle stand. Vorsichtig ging er Stufe um Stufe nach unten, das Knarren der Treppenstufen konnte er jedoch auch im Traum nicht verhindern. Knaaarsch. Auch dieses Geräusch empfand er als sehr realistisch. Konnte es sein, entgegen jeder Logik, dass er gar nicht träumte? Doch das war purer Irrsinn! Woher sollte das schöne, doch unheimliche Tier so plötzlich kommen? Hatten sie vielleicht eine Tür oder ein Fenster nicht richtig verschlossen?

Als Paul unten ankam, war der Hund verschwunden. Paul König stand allein im unteren Korridor, an dessen kalten Fliesen er beinahe zu erfrieren drohte. Oder war es nur das Gefühl der totalen Unsicherheit, die ihn überkam? Langsam, doch stetig ging er weiter. Die Tür zum Keller stand offen! Daher war das Tier also ins Haus gekommen! Doch halt, es ist nur ein Traum! Es ist total irrelevant, woher der Hund kam, was er wollte oder warum er so plötzlich wieder weg war. Im Traum ist alles möglich!

Entschlossen stieg Paul die Stufen runter in den Keller. Das schwache Licht bot nicht viel Hilfe, doch das Tier blieb verschwunden, unsichtbar zwischen all den Kartons und Kisten, Gerümpel und Staub. Ihm fiel wieder die Malerfirma ein, welche sich im Haus ausgetobt hatte, bevor die Familie nach Eichenbach kam. Dass es Ärger gab … Und selbst in einem verrückten Traum wie diesem war dieser Gedanke sehr real.

Paul drehte sich noch einmal um, suchte den Hund im Keller

(die Malerfirma),

doch es war kein Hund mehr im Haus und Paul entschied sich dafür, dass es Zeit war, aus diesem Traum zu erwachen. Er drehte um und ging einen Schritt nach vorne, dann erlosch das Licht im Keller und er stand in totaler Finsternis da.

2

Angenehme Wärme empfing Paul und streichelte sanft seine Haut. Er öffnete seine Augen und lag in seinem Bett, die Sonne des Spätsommers strahlte in hellen Lichtkegeln durch das Fenster des Schlafzimmers und wärmte sein Gesicht. Wo war der Dobermann? Paul überlegte. War er nicht gerade eben noch unten im Keller, zwischen alten Holzkisten und Spinnenweben der grauen Vorzeit? Er drehte sich nach rechts und betrachtete seine schlafende Frau. Ihr braunes Haar war verstrubbelt und ihr Mund war leicht geöffnet. Rhythmisches Schnarchen entwich ihren Lippen. Das Geräusch, welches Kati beim Schlafen ausstieß, klang brummend und kratzig, fast fauchend. Es entwickelte sich zu einem Knurren wie das Knurren eines großen schwarzen Hundes. Dem Anschein nach ein wilder Hund, vielleicht gar ein Dobermann? Paul hörte das Tier nun deutlich knurren und bereitete sich innerlich auf einen Angriff vor. Er zog die Decke über seinen Kopf und wartete, dass die Bestie ihn anfallen würde.

Das Nächste, was Paul hörte, war das Streiten von Grace und Ben. Wieder schlug er die Augen auf und wieder lag er in seinem Bett. Die Sonne war inzwischen gewandert und schien ihm nicht mehr direkt ins Gesicht. Wie spät war es? Und … wo war der Hund dieses Mal?! Mit einem leichten Stöhnen bewegte Paul seinen Kopf in die linke Richtung und erblickte seinen Wecker auf dem Nachttisch. Es war kurz nach neun! Kati war schon auf den Beinen und schlichtete nun den Streit der Kinder. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Paul herauszuhören, um was es ging. Nach einigen Sekunden begriff er, dass Grace ins Bad wollte und ihr kleiner Bruder dieses blockierte, da er der Meinung war, er müsse in der vollgelaufenen Badewanne Schiffe versenken spielen.

»Ben, ich muss mal!«, rief Grace wieder aus. »Spiel deine dämlichen Babyspiele woanders!« Und dann kam Kati dazu: »Benjamin, schließ bitte die Tür auf und lass das Wasser aus der Wanne!«

»Erst wenn ich einen Hund haben darf!«, rief Ben aus und direkt danach erklang ein »Nööööööööööööömmmmm«, das Geräusch, welches den anrauschenden Dampfer darstellen sollte. Paul schlug sich mit dem Handrücken stöhnend gegen die Stirn. Typisches Verhalten eines Kindes, das mit allen Mitteln versucht, seinen Willen durchzusetzen. Er kannte es aus seiner Praxis. Ein Kind, welches einen großen Wunsch hat und befürchten muss, dass dieser nicht wahrgenommen wird, igelt sich oftmals ein und taucht in eine Fantasiewelt ab. Diese muss für Erwachsene nicht immer logisch sein. Ohne es wirklich zu merken (denn dafür sind die Kinder oft noch zu jung), üben sie somit Druck auf ihre Eltern oder Angehörigen aus. Ben tauchte ab, indem er sich ins Bad einschloss und Schiffskrieg spielte. Und er hatte sich in den Kopf gesetzt, das Badezimmer erst wieder zu verlassen, wenn er seinen Hund haben konnte.

Seufzend stand der wissende Paul auf und ging aus dem Raum. Er konnte es aber nicht unterlassen, dabei nach den Spuren eines Hundes zu suchen. Eines Dobermanns, um genau zu sein. Doch er fand keine Hinweise auf seinen nächtlichen Besucher. Als er schließlich am Badezimmer ankam, Grace und Kati noch in ihren Pyjamas davorstehend, klopfte er entschlossen an die Tür und sprach: »Benny. Weißt du noch, als wir damals mit Opas kleinem Ruderboot unterwegs waren?«

»Ja klar!«, sagte Ben, das Plätschern des Wassers hörte in diesem Moment kurz auf.

»Es war ein schöner Tag und die Sonne schien uns herrlich entgegen, stimmts?«, erklärte Paul dann weiter.

»Mhh«, machte Ben aus dem Badezimmer. Er klang nachdenklich. Paul wusste genau, wohin er das Gespräch lenken wollte. Er blickte zu den Mädels, die sich nun langsam davonschlichen, denn sie wussten, dass er die Lage aufklären konnte. Ben verarbeitete seinen Frust nun mit einem Erlebnis, welches ihn ängstigte.

»Jedenfalls dachten wir, dass es ein schöner Tag sein würde«, sprach Paul weiter und hörte ins Bad. Es war still.

»Ja. Und dann kam uns nach einer Weile ein Schiff entgegen. Ich hatte da echt Angst, Papa!«

An jenem Tag, es war vor zwei Jahren, hatten Paul, Christian und Ben hart damit zu kämpfen, das Ruderboot ganz dicht an die Seite der Leine zu führen. Der Führer des Binnenschiffes hatte das kleine Boot mit den drei Personen überhaupt nicht wahrgenommen. Für den damals sechsjährigen Benjamin war das ein einschneidendes Erlebnis gewesen. Seitdem hatte er große Ehrfurcht vor Wasser, auf dem man sich nicht einfach schnell fortbewegen konnte – und vor Schiffen.

»Ich war heilfroh, als wir abends alle am Tisch saßen und zusammen Hot Dogs aßen!«, meinte Paul.

»Ja ich auch. Der blöde Kapitän wollte uns umnieten!«, rief Ben und das Geräusch des Wannenstöpsels erklang. Er ließ das Wasser aus der Wanne.

»Papa, ich will euch alle nie verlieren. Versprichst du das?«, meinte Ben. Paul grinste. »Na, es wäre ein Anfang, wenn du das Badezimmer aufschließt und deinem Vater mal richtig Guten Morgen sagst«, brachte er dann freundlich lachend hervor. Ein paar Sekunden später ging die Tür auf und Ben legte seine Arme um Pauls Körper. »Ich wollte gar nicht die blöden Schiffe spielen. Ich wollte nur … also … Ich glaube ich …«, stammelte Ben.

»Schon gut. Ich weiß, du möchtest einen Hund haben, Ben. Ich weiß auch, dass dir manchmal vielleicht etwas, na ja, langweilig ist!? Als ich in deinem Alter war, ging es mir auch oft so!«

»Kann ich denn einen Hund haben? Einen klitzekleinen, der gar nicht bellt und der gar nicht dreckig ist und der, der einfach nur lieb ist?« Ben blickte seinen Vater aus großen Augen heraus an. Paul dachte an das Gespräch mit seiner Frau am Vorabend. Vielleicht wäre es ja doch in Ordnung, auch auf lange Sicht, wenn ein Hund das Haus (und die Kinder) bewachen würde. Seinen nächtlichen Hundetraum ignorierte Paul dabei völlig.

Später fuhren Sie zu einer Tierpension und verliebten sich in einen Golden Retriever, der zwei Jahre alt war und welcher der Familie König mit treuen und lieben Augen entgegenblickte. Er wedelte aufgeregt mit seinem Schwanz und schleckte Ben mit seiner Zunge überall ab, bis der Junge ihn nicht mehr hergeben wollte. So kam Maxi zur Familie.

3

Es war schwierig zu sagen, wie die ersten Tage mit Maxi verliefen. Der Hund kam aus der Tierpension, was schon oft genug dafür sprach, dass die Tiere eine eventuelle schwierige Vergangenheit haben konnten. Doch trotz des Risikos (oder vielleicht auch gerade deswegen) haben sich die vier Königs für einen Hund aus dem Tierheim entschieden. Denn jedes Tier oder Lebewesen hatte das Recht auf ein gutes Zuhause! So wurde die Entscheidung an jenem Tag schnell für die Tierpension Einsame Herzen gefällt. Natürlich nicht ohne eine kurze örtliche Recherche von Paul, der genau wissen wollte, ob die Tiere dort gut behandelt wurden. Das Tierheim bestand seit knapp fünfzehn Jahren und hatte ausschließlich gute Kritiken bekommen.

Gute Tierhaltung, artgerecht und fair! So lautete ein Eintrag im Familienbuch an der Eingangspforte zum Tierheim. Ein anderer verkündete: Unser kleiner Schatz war eine echte Bereicherung für die ganze Familie! Danke an das Team von Einsame Herzen!

Die Bilder an der Pinnwand im Eingangsbereich machten einen weiteren guten Eindruck, und so betrat die Familie voll positiver Erwartung die Pension.

Bereits während der Fahrt zum Tierheim Einsame Herzen war Ben total von der Rolle gewesen. Doch auch Grace freute sich darüber, dass sie sich einen Hund ansehen würden. Als Paul den VW Kombi die Landstraße am Waldstück bei Dörverden vorbei manövrierte, dachte er insgeheim darüber nach, dass auch er sich über die Entscheidung freute. Tiere waren ihm schon seit Kindheitstagen wichtig gewesen, vielleicht war es das Unbekannte, was ihn anfangs zögern ließ!? Denn Paul hatte in den vierzig Jahren seines Lebens kein Tier, geschweige denn einen Hund, besessen. Seine Eltern waren nicht per se gegen Tiere, nein, das auf gar keinen Fall! Aber in der Stadt war es nicht immer leicht, sich Hunde zu halten. Natürlich wuchs Paul in keiner der kleinen muffigen Hochhauswohnungen auf, denn Christian König brachte als Psychologe ein gutes Gehalt mit nach Hause. Doch war Hannover eben nicht Verden – oder Eichenbach! Ja, der Umzug nach Eichenbach war der Startschuss für ein neues gutes Leben. Und wann wäre der richtige Zeitpunkt für einen Hund gewesen, wenn nicht in einem neuen Leben!? Mit diesem Gedanken im Kopf und einem Lied der Ramones im Ohr musste Paul plötzlich grinsen. Das fiel natürlich auch Kati auf, die verstohlen zu ihrem Mann herüberblickte.

Als sie mit Maxi (so nannte Ben den Golden Retriever von Anfang an) dann hinterher an ihrem Haus ankamen, begann dieser wie verrückt mit seinem goldenen Schwanz zu wedeln. Natürlich sah der Hund den großen Garten und konnte erahnen, dass er hier mehr Auslauf haben würde als im Tierheim von Dörverden.

»Willkommen zu Hause, Maxi!«, rief Ben lachend aus. »Hier wird es dir super gefallen. Du könntest Eichhörnchen jagen oder unter der Ulme im Garten ein Nickerchen machen. Oder du …«

»Ist ja gut, Ben«, lachte Kati. »Ich glaube, Maxi wird sich hier schon umsehen und sein Lieblingsplätzchen ausfindig machen.«

»Danke Mama, danke Papa!«, rief der Junge aus und strahlte über alle Backen. Grace streichelte Maxis Kopf und grinste. Paul grinste. Ben grinste. Kati lächelte und Maxi hechelte mit seiner großen Schlabberzunge, welche Bens Klamotten ordentlich in Hundesabber getränkt hatte. Als hätte er etwas zur allgemeinen guten Stimmung beizutragen, fing der Hund plötzlich an, laut zu bellen.

4

Die Stadt Rotenburg/Wümme war nicht weit entfernt. Irgendwo dort floss das Wasser des Gohbachs in Richtung Verden, wurde von einem Rinnsal, dünn wie ein Bindfaden, zu einem kleinen Bach, wurde im Ort (an der alten Wassermühle) immer breiter und fand seinen Weg, der irgendwo in Verden sein Ende in der Aller finden musste. Paul stand am Erkerfenster des Dachbodens und begutachtete den kleinen schmalen Bach.

Die Luft oben auf dem Speicher war natürlich nicht die beste, wen wunderte es, doch Paul wollte sich genauer dort umsehen. Der Plan seiner Sternwarte nahm in seinem Kopf immer mehr Gestalt an. Während er zwischen alten Balken und uralten Kisten entlang balancierte, malte Paul sich aus, wie er den Raum am besten nutzen konnte. Zuerst hatte der Kinderpsychologe vorgehabt, die alten Kisten wegzuräumen, verschob diese Idee jedoch auf später.

An einer Stelle im Boden musste man aufpassen, hier waren die Bretter nicht mehr ganz stabil. Das wird ein Mammutprojekt, dachte Paul sich und begutachtete dabei die Bodendielen. Das Holz war nicht verwittert, aber es hatte seine besten Tage hinter sich. Das Haus war, laut dem Makler, ungefähr 100 Jahre alt und dem Anblick nach waren die Bodendielen auch von 1896! Paul seufzte (etwas genervt) auf. Von unten war Maxi zu hören. Seit vier Tagen hatten sie den Hund nun, und er wurde noch nicht ganz warm mit seinem neuen Heim, das merkte man noch ziemlich stark. Aber wen wunderte es auch!? Hatte Paul nicht klipp und klar gesagt: Ein Hund braucht Aufsicht!?

Nun, wenn er arbeiten war, Kati Erledigungen hatte (wobei sie nicht jedes Mal einen Hund mitnehmen konnte) und die Kinder in der Schule saßen, so war Maxi einige Stunden allein in einem fremden großen Gebäude. War doch klar, dass das Tier so auf die verrücktesten Gedanken kam …

Am zweiten Tag nach Maxis Ankunft hatte der Golden Retriever den halben Hausstand aufgewirbelt. Ben wollte es verstecken, als er um eins von der Schule kam, doch der Achtjährige kam gar nicht gegen den tobenden Hund an. Grace kam um drei und fand Maxi dann im Garten vor, als er an einer Stelle im hinteren Teil des Rasenstücks wie verrückt jaulte und buddelte. Die Kinder hatten den Hund dann ins Haus gelockt.

An Maxis dritten Tag, es war ein stark verregneter Spätsommertag, hatte der Vierbeiner herausgefunden, dass es nichts brachte, wen er sein eigenes Spiegelbild anknurrte und dann so tat, als wäre der Hund im Spiegel sein Rivale. Irgendwann ließ Maxi vom großen Spiegel im Flur ab und trottete schwanzwedelnd ins Wohnzimmer, wo er sich auf seinem Kuschelkissen ausbreitete.

Doch das Sonderbarste war an jenem Tag geschehen, an dem Paul abends auf dem Speicher stand und durch das Fenster raus zum kleinen Bach blickte. Maxi, der liebe und harmlose Retriever, stellte sich Paul in den Weg. Er wollte nicht, dass sein Herrchen die Treppe nach oben ging. Jedes Mal, wenn Paul den Hund mit seinem Bein von sich wegdrückte, schnellte Maxi wieder nach vorne, um mit einem lauten Wau Paul davon abzuhalten, den oberen Teil des Hauses zu erklimmen.

»Max, verdammt, geh nach draußen und such dir ’ne Katze!«, sagte Paul verärgert und ging weiter die Holztreppe in das Obergeschoss hinauf. In einer wütenden Situation vermied Paul es immer, andere bei ihren Verniedlichungen zu nennen. Ben (Benjamin) kannte das zu gut. Maxi jaulte und warf sich auf den Fliesenboden im Erdgeschoss. Dann hatte Paul sich umgedreht und den Hund mit zweifelnden Augen angesehen. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, ein Haustier aus der Tierpension zu holen? Wer wusste denn schon genau, was Maxi (oder Hansi oder Goldie oder wie er früher hieß) schon erlebt hatte? Jetzt jedenfalls hieß er Maxi und Maxi setzte seinen besten treudoofen Hundeblick auf, um Herrchen zu beeindrucken. Doch Paul ließ sich nicht beirren und ging die Treppe nach oben, um von da aus geradewegs weiter hoch auf den Dachboden zu gelangen. Dort angekommen, musste er erst einmal husten und niesen, so sehr staubte es auf dem alten Speicher. Das einzige Licht, welches ihm aushalf, war die bald untergehende Sonne, die ihr orangerotes Licht durch das große Erkerfenster warf. Jenes Fenster, welches Paul öffnete, um den Staub der letzten Jahre (oder Jahrzehnte?) hinauszubefördern, jenes Fenster, das den Bachlauf gut im Blick hatte. An diesem Fenster stand Paul nun noch immer und dachte nach.

Elektrisches Licht gab es hier oben keines, was den Sohn von Christian und Irene König zwar verwunderte, doch nicht aus der Bahn warf. Für eine Lampe werde ich wohl auch noch ein paar Mark auftreiben können, dachte er sich.

Die Stimmung auf dem Speicher war irgendwie besonders. Das ganze Haus hatte eine erdrückende Magie, das bemerkte Paul ja bereits am ersten Abend, als ihn das Haus herausfordernd anzusehen schien. Es hüllte einen in eine besondere Atmosphäre ein, schon wenn man durch die weiße Haustür eintrat. Es herrschte Leben im Haus, wenn die Familie da war, doch es gab eine bedrohliche Stille von sich, wenn man allein war. Maxi bellte unten wieder.

Stille, dachte Paul und grinste. Der Golden Retriever sorgte dafür, dass die stillen Momente weniger wurden.

Wieder aus seinen Gedanken erwacht, blickte sich Paul weiter um. Die alten Bodendielen würde er entfernen. Die rohen Sparren und Balken würde er mit Gipsplatten verdecken und vorher Dämmwolle einbringen. Das Erkerfenster bot den Platz für die Hauptattraktion der Sternwarte König: das große neue Spiegelteleskop. Von hier oben hatte man einen fantastischen Ausblick in den Himmel und die Weite der Galaxie!

Etwas huschte über den Dielenboden des Speichers. Im ersten Moment war Paul sich nicht sicher. Bei dem dämmerigen Licht hätte es auch pure Einbildung sein können und durch die alten Dachziegel mochte, gut und gerne, auch mal ein kleiner Windstoß wehen! Doch er war sich nach kurzem Hadern weiterhin im Klaren, dass er einen Schatten gesehen hatte. Vermutlich eine Ratte oder sogar doch der Marder, der hier nachts sein Werk vollbringen wollte. Paul machte eine kampfbereite Faust und rief: »Ich werde mein Werk zuerst vollbringen! Gib dich geschlagen! Der Speicher gehört mir!« Die Antwort kam prompt aus einer dunklen Ecke am Schornstein. Es verschlug Paul fast die Sprache. Dort aus dem Dunkel war sein Gegner aufgetaucht, es funkelten nur die kleinen Augen im staubigen Licht der untergehenden Sonne. Paul stand kerzengerade da und fasste sich mit der rechten Hand an den Bund seiner Jeanshose. Dann trat es (das Ungeheuer) hinaus in den Kampf und fauchte Paul grell entgegen. Dieser zuckte kurz zusammen, dann schrie er, total erschrocken, auf. Er schrie und dann trat er nach der …

5

»Katze«, murmelte Kati. »Wo sollte die denn herkommen?«, sie blickte ihren Mann amüsiert in die Augen.

»Was weiß ich, aber jetzt weiß ich, warum der Hund immer so verrückt ist! Sicher hat er die Mieze seit Tagen im Visier!« Paul gähnte und schenkte sich eine weitere Tasse ein. Die Kinder waren schon im Bett, Kati und er waren in der Küche und tranken ihren heißen Kräutertee – ohne Zucker!

»Na, wir sind nicht mehr in der Großstadt. Hier gibt es nun einmal Katzen, Mäuse und … Blindschleichen!« Kati lachte. »Kein Grund, den Verstand zu verlieren.«

Paul rieb sich das schmerzende Knie. Beim Versuch, die schwarze Katze zu verscheuchen, landete sein rechtes Knie gegen einen Dachsparren. Er hatte nichts gegen Katzen – ganz im Gegenteil! Er mochte alle Tiere. Doch war er im Moment, als die Katze ihm fauchend und schrill entgegensprang, schon etwas erschrocken! Wer wusste denn schon, was (oder wer) einem auf so einem alten Dachboden auflauern konnte? Einem Dachboden ohne Licht!? Beinahe inhalierte er seinen Kräutertee. Der Geschmack von Pfefferminze, Salbei, Fenchel, Kamille und Malve brachte ihn wieder runter und beruhigte den vierzigjährigen Psychologen. Dem Tier hatte er natürlich nichts getan. Als er sich das Knie stieß und vor Schmerz und Wut aufschrie, war es durch eine Ritze im Dach wieder nach draußen geflüchtet. Diese Ritze würde er schon sehr bald schließen. Der Dachboden schien sich zu einer Großbaustelle zu entwickeln und Paul vermutete, dass er auch etwas wütend auf Thomas Freche, den Makler, war.

Das Haus war selbstverständlich super und die Räume mehr als bewohnbar, nachdem die Malerfirma im Voraus ihren Dienst getan hatte. Wer verlangte denn auch schon ein komplett ausgebautes Dachgeschoss? Nicht für den Preis, den die Familie bezahlt hatte – oder vielmehr die Bank. Und gemessen an den Spottpreis war es ein großes schönes Haus mit einem riesigen Garten, und wer konnte schon von sich behaupten, dass er fließendes Gewässer und einen Wald am Garten hatte!? Also konnte man über den ausbaufähigen Speicher doch hinwegsehen! Und trotzdem: Wäre es zu viel verlangt gewesen, wenn der Makler gesagt hätte, dass man auf dem Dachboden nicht einmal eine Glühbirne vorfindet? Paul trank seine Tasse leer und sah auf die Küchenuhr – halb elf.

(Die Malerfirma hatte etwas erwähnt.)

Maxi schlief auf seiner Decke unten im Flur, den restlichen Abend benahm er sich normal.

»Was meinst du, sollte ich Jörg mal besuchen?«, fragte Paul seine Frau. Kati hatte ihr braunes Haar gerade zu einem Nest gewickelt.

»Jörg? Ach, den Nachbarn … heute Abend noch?«, sagte sie etwas verwirrt.

»Nein. Morgen vielleicht. Irgendwie lässt mich der alte Mann nicht los. Er wirkt so stark und fit und trotzdem geheimnisvoll. Und wir wissen gar nichts über ihn. Seit dem Nachmittag vor zwei Wochen haben wir ihn nicht mehr gesehen!«

»Stimmt. Aber wir waren auch sehr beschäftigt. Geh doch morgen mal zu ihm rüber – das heißt, wenn du sein Haus findest!« Und während sie das sagte, wusste sie nicht, ob es ein Scherz oder eine ängstliche Aussage sein sollte. Kati tippte auf Ersteres.

Wo das Haus von Franke stand, konnte Paul sich schon denken. Zwischen den Büschen, aus denen Jörg an jenem Nachmittag herüberkam, führte ein kleiner Weg. Der Weg war zwar verdammt zugewachsen mit Sträuchern und Zweigen, doch er führte scheinbar direkt zum Nachbargrundstück. Als er vor wenigen Stunden aus dem Fenster des Dachbodens geblickt hatte, konnte Paul das Dach eines Hauses ausmachen, das von der Lage her das Haus des Nachbarn sein musste! Man konnte es von der Straße her nicht sehen (wobei man das Haus der Königs auch nicht sehen konnte), aber es gab keinen Zweifel daran. Es war ungefähr zweihundert Meter entfernt, vielleicht auch nur hundertfünfzig. Um zum Haus des Nachbarn zu gelangen, musste man jenen Trampelpfad zwischen den Büschen nutzen (sicher gab es auch einen offiziellen Weg, aber den kannte Paul noch nicht).

Der Pfad! Ich muss da ein Tor einbauen, sonst läuft Maxi noch in Nachbars Garten, um sein Geschäft zu machen, fiel es ihm plötzlich ein. Und obwohl er immer auf dem Land leben wollte, bemerkte er, dass es hier mehr Baustellen gab als in der Stadt. In Hannover zum Beispiel. Leise stöhnend stand Paul vom Küchentisch auf. Das verdammte Knie tat ziemlich weh und am nächsten Tag hatte er wieder die Zwillinge der Jahnsons in seiner Praxis.

Familie Jahnson hatte es sicherlich nicht einfach, erst verstarben die Großeltern der Zwillinge, dann wurde dem Vater der Job als Angestellter bei einer großen Lebensmittelfirma gekündigt. Die Mutter hatte nur eine Putzstelle und musste aufsatteln. Die beiden Kinder, Lenny und Jenny (wer denkt sich so was aus!?), glichen sich wie ein Ei dem anderen. Aber nicht nur äußerlich waren sich die beiden sechsjährigen Zwillinge sehr ähnlich. Auch spukte in ihren Köpfen derselbe Feind. Dieser nannte sich Fragiles-X-Syndrom. Diese Form der intellektuellen Behinderung glich dem Autismus. Die beiden sahen niemandem in die Augen, hatten Angst vor fremden Menschen und entwickelten eine Art eigene Sprache. So eine Geheimsprache, das machten mit großer Wahrscheinlichkeit viele Zwillingspaare, doch bei den Jahnson-Kindern entwickelte sich die normale Sprache immer mehr zurück. Pauls Aufgabe war es nun, den Kindern soziale Kontakte wieder schmackhaft zu machen. So verbrachte er in den Sprechstunden immer viel Zeit damit, mit den Kindern zu spielen und diese an die altersgerechten Aufgaben heranzuführen. Bei den Sechsjährigen hieß das oft, dass man mit ihnen Geschichten las, Bilder zu den Geschichten malte oder auch an die Grundschule anknüpfte, was bedeutete, dass man den Kindern Zahlen und Buchstaben näherbrachte. Eine normale Grundschule konnten die Jahnson-Zwillinge jedoch noch nicht besuchen. Dafür waren sie noch zu verschlossen. Auch war damit zu rechnen, dass die Kinder dem Unterricht nicht folgen konnten. Lenny liebte Dinosaurier oder wie er sie nannte: Dinodons. Jenny mochte Pferde, Einhörner und Ponys. Sie war in ihrer Traumwelt immer auf einer Weide, nah bei den Pferden und weit weg von den Menschen. Ihr Bruder hingegen spielte immer das gleiche Spiel: Dinodons fressen Menschen auf. Zuerst war Paul schockiert über die mörderischen Gedanken eines Sechsjährigen. Aber das war halt Lennys Umgang mit den Menschen, die ihm fremd und unwirklich vorkamen. Er machte sie einfach zu Dino-Futter.

»An was denkst du, Schatz?«, fragte Kati, die ihren Mann beobachtet hatte. Paul war bei seinem Versuch, vom Tisch aufzustehen, ein paar Schritte gelaufen und stand nun vorm Küchenfenster. Er kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, sein braunes Haar war schon wieder mächtig gewachsen!

»An die Arbeit. Morgen habe ich Zwillinge in der Praxis. Es ist für Eltern schon schwer genug, mit einem auffälligen Kind, aber mit zweien …«, sagte Paul. »Eine Art Autismus!«

»Wie siehst du die Chancen?«

»Ich kann nur stundenweise auf die Kinder eingehen. Schwer zu sagen, wie es sich entwickelt. Manchmal ist es schwer, Kinder zu behandeln. Man baut ja auch eine Art der Freundschaft auf, und ich glaube, die Zwillinge werden noch länger in die Sprechstunde kommen müssen!«

Einen kurzen Moment bereute er es, dass er den Spuren seines Vaters gefolgt war. Vielleicht wäre er doch gar kein so übler Landwirt geworden!? Oder ein Sternenforscher, der in seiner Sternwarte die Geschehnisse in der Galaxie erforschte. Das musste eine wunderbare Sache sein! Aber wer wusste das schon?

Eichenbach

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