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Kapitel 5 Die Ökonomie der Liebe
ОглавлениеKönig Salomo und die Königin von Saba – aus dem legendären Land,
das auf dem Gebiet des heutigen Jemen gelegen haben soll
Ich saß und wartete, bis meine Kommilitonen den Hörsaal verlassen hatten. „Grundzüge der Makroökonomik“ war eine beliebte Vorlesung, aber ich machte es mir zur Gewohnheit, nicht zur Tür hinauszueilen. Ich hatte keinen Grund, den Flur hinunterzustolzieren und mich zu präsentieren.
Am Ausgang drängte sich eine Traube von Studenten, in deren Mitte ein schlanker, hochgewachsener junger Mann stand. Er war die Sonne, um welche die anderen kreisten, wie angezogen von seinem Selbstbewusstsein. Ihr unbefangenes Lachen hallte durch den Saal. Ich hätte mich zu ihnen gesellen können, das wusste ich. Mich zur Schnecke zu machen war allmählich witzlos geworden, und außerdem hatte ich inzwischen gelernt, als Erster über mich selbst zu lachen. Und nicht zu vergessen: Ich hatte die beste DVD-Sammlung in ganz Sanaa. Ich hatte Freunde – Ahmed zum Beispiel – und es gab eine Handvoll Mädchen, die mich ins Vertrauen zogen. Nichtsdestotrotz fühlte ich mich nach wie vor wie ein Außenseiter. Das viele Lesen und meine Neigung zu moralisierenden Auftritten ließen mich nicht gerade wie einer von den Jungs dastehen, sondern eher wie ein „Elder Statesman“ oder gütiger Onkel.
Die Jungs klatschten einander auf den Rücken, während ich Beschäftigung vortäuschte, meine Blätter in Ordnung brachte, meine Notizen abermals überflog. Aber nach einer fünfzigminütigen Vorlesung über Mindestreservequoten war mein Gehirn so taub wie mein Sitzfleisch.
Da nun auch die letzten Nachzügler das Feld geräumt hatten, raffte ich mich auf und schulterte meinen Rucksack. Unter dem Gewicht der Bücher wäre ich fast eingeknickt und konnte mich in letzter Sekunde auf einen Tisch stützen, dessen Metallfüße auf den Fliesen laut quietschten. Ich machte ein paar Schritte Richtung Tür und hörte ein weiches, flinkes Trapsen sich nähern.
„Ich bin ja so froh, dass du da bist.“
Mein Blick fiel in ein Paar schwarzer Augen. Im Licht der Neonlampen schimmerten sie wie nasse Tusche.
„Gerade heute“, fuhr sie fort, eher zu sich selbst als zu mir sprechend. Ein Augenblick der Stille, dann holte sie tief Luft. Unter ihrem Kopftuch bewegten sich ihre Schultern auf und ab.
Sie schien den Boden abzusuchen, als hätte sie etwas verloren. Ich bemühte mich, ihrem Blick zu folgen, konnte aber nur Kratzer entdecken, die mich an die arabischen Buchstaben raá und daal erinnerten.
„Gehts dir nicht gut?“, fragte ich schließlich. Allerhand plausible Szenarien schossen mir in den Sinn – ein Krankheitsfall in der Familie, Streit mit einem Freund, ein rüder Taxifahrer …
„Doch, doch. Danke der Nachfrage, Mohammed.“
Ich grinste, als ich meinen Namen aus ihrem Mund hörte. Ihr Blick erhob sich vom Fußboden und ließ sich auf meinem Gesicht nieder. Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg.
„Darf ich dich um einen Gefallen bitten?“
Mein Kopf nickte so heftig, dass ich wie eine lädierte Puppe ausgesehen haben muss. „Ja klar. Kein Thema. Jederzeit. Wie kann ich dir helfen? Wo hängts?“
Ich war dankbar, dass sie meine Litanei beendete.
„Ich hab die Vorlesung verpasst“, sagte sie, die Handflächen himmelwärts gekehrt. „Leihst du mir deine Aufzeichnungen?“
„Klar. Kein Thema. Was ich auch tun kann, kein Problem.“ Während ich das sagte, versuchte ich, meinen Rucksack von einer Schulter zu lösen, damit er mir vor der Brust hing. Mit meiner guten Hand zerrte ich am Reißverschluss, zunächst erfolglos, bis er sich mit einem Ratsch öffnete. Wie ein ziemlich schlechter Zauberer zog ich das Heft hervor.
„Du kriegt es so schnell wie möglich wieder. Ganz vielen Dank! Du hast ja keine Ahnung …“
Ich lächelte. Da hatte sie recht: Ich hatte wirklich keine Ahnung – wer sie denn war.
Als könne sie meine Gedanken lesen, sagte sie noch: „Ach, entschuldige. Ich heiße Ahlam. Das hätte ich besser gleich gesagt.“
Sie schaute über meine Schulter hinweg auf die Wanduhr. Ich drehte mich ebenfalls um.
„So schnell wie möglich“, sagte sie. „Und nochmals danke.“
Und damit war sie verschwunden.
Ich würde lügen, wenn ich behaupten wollte, diese Begegnung wäre mir nicht noch den ganzen Tag nachgegangen. Warum hatte sie denn mich ausgewählt? Vielleicht wusste sie, dass ich ein guter Student war. Sie muss bemerkt haben, wie ich mitschrieb. Dabei war ich in einen für Rechtshänder angefertigten Seminarstuhl gezwängt, aus dem ich alle Mühe hatte, mich nicht mit meinem linken Ellenbogen herauszubefördern. Ich versuchte, die Gedanken abzustellen. Sie hatte sich in schierer Verzweiflung an mich gewandt, mehr nicht.
Als Ahlam mir zwei Tage später das Heft zurückgab, nahm ich es mit gesenktem Blick entgegen. Als ich aber zu der Stelle blätterte, an der ich meine Aufzeichnungen beendet hatte, verschlug es mir den Atem. Am Rand, neben meinem Geschmiere und Gekleckse, stand Ahlams feine, zierliche Schrift. Ihre Schriftzeichen sahen für mich aus wie eine Gruppe eleganter Frauen, die sich auf einem eleganten Sofa räkelten.
Vielen lieben Dank.
Der Smiley hätte auch in Gold geschrieben sein können, aus Wolken gebildet, und dazu singt Michael Jackson sanft „You Are My Life“. Es wäre kaum verwegener gewesen, wenn Ahlam auf den Katheder gestiegen wäre und ihr Kopftuch heruntergerissen hätte. Ein Smiley auf einer Heftseite mag nicht nach viel aussehen, doch im Jemen, wo eine Frau kein offensichtliches Interesse an einem Mann bekunden darf, war es, als hätte sie offen gesagt: Ich mag dich. Es war forsch, es war gefährlich. Wenn eine muslimische Frau im Jemen noch nicht einmal ihr Haar oder ihre Haut zeigen durfte, was sollte es bedeuten, wenn sie etwas Tieferliegendes offenbarte? Was war das für eine Frau, die ihre Gefühle und Wünsche zum Ausdruck brachte? Wir lebten in einer Welt, in der ein Lächeln so viel mehr bedeutete als ein Lächeln.
Die Möglichkeiten überschlugen sich in meinem Kopf. Ich kannte Ahlam doch gar nicht. Zwei Tage zuvor hatte ich noch nicht einmal ihren Namen gewusst. Doch die Verwegenheit, die sie an den Tag legte, indem sie überhaupt erst etwas zwischen uns angestoßen hatte, war aufregend. Ich verbrachte nicht allzu viel Zeit mit Abwägungen. Wichtiger war, die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Ich riss ein Stück Papier aus dem Heft und schrieb hastig meine Telefonnummer darauf. Vor Beginn der Vorlesung ging ich ihr nach, an meinen Kommilitonen vorbei, bis in die hintere Reihe des riesigen Hörsaals, in dem wir saßen.
„Ahlam“, sprach ich sie an und fürchtete sogleich, ich hätte versehentlich gebrüllt. Ich blickte umher. Niemand hatte etwas gemerkt. „Ich hab da etwas für dich.“ Ich hielt ihr den zerknitterten Zettel hin. „Falls du noch Fragen zu den anderen Vorlesungen hast …“, brachte ich gerade noch raus, ehe mich zugleich Mut und Stimme verließen.
Ahlam nahm das Papier mit ihren langen, feingliedrigen Fingern. Ihre hellbraune Haut ließ sie so aussehen, als trüge sie Handschuhe aus besonders weichem und feinem Stoff.
„Danke dir“, antwortete sie mit heller, trällernder, fröhlicher Stimme. „Das ist aber wirklich nett.“
Und wallah, bei Gott, mein Herz fühlte sich an wie ein Fisch, der in meiner leeren Brust wie auf dem Trockenen zappelte.
Ich schrieb mit und war immer wieder zu abgelenkt, denn dauernd sah ich Ahlams Hand so nah der meinen, hörte ihre Stimme. Bei der Stange hielt mich nur noch der Gedanke, dass sie womöglich auf meine Notizen würde zurückgreifen wollen. Vielleicht würde ja mein makroökonomisches Wissen ihr Herz erobern.
Den restlichen Nachmittag verbrachte ich mit dem verzweifelten Versuch, meine Gedanken zur Ordnung zu rufen. Bei jedem Rascheln entfernter Schritte, bei jedem Windhauch um mich herum. Doch Ahlam war nicht da. Jedes Niesen, jedes Hupen ließ mich aufschrecken. Doch Ahlam war nicht da. Schließlich ging ich nach Hause, wo die Teller klirrten und der Fernseher rauschte. Als dann aber das Telefon klingelte, holte ich tief Luft. Zweimal ließ ich es klingeln und hob dann ab. Ich versuchte, meine Stimme so lässig wie männlich klingen zu lassen. Denn diesmal wusste ich: Ahlam würde am anderen Ende der Leitung sein.
Als ich ihre Stimme hörte, fühlte ich mich mit einem Mal schwebend leicht, verschwunden war mein ungelenker Körper. Real war für mich in diesem Moment nur Ahlams melodisches Lachen. Ich klammerte mich an den Klang ihrer Stimme, wie sie „Mohammed“ sagte. Jeden Buchstaben ihres Namens ließ ich von der Zunge und über die Lippen gleiten. Ihr Name war wie ein Seufzen, ein Gefühl des Wohlbehagens, Ahlam. Ihre Stimme verwandelte Worte in Songtexte, und ich fühlte mich wie eine gezupfte Saite, die in Einklang mit der Welt schwang.
Wir sprachen über die Uni und über die Kurse, über unser Lieblingsessen und unsere Hobbys. Makroökonomik erwähnten wir mit keinem Wort.
In den nächsten gut vierzehn Tagen verbrachten Ahlam und ich Stunde um Stunde am Telefon. Sie neckte mich, indem sie mir erzählte, dass viele andere Mädchen mich mochten. Ich lachte nur. Ich hatte genug Filme gesehen, um zu wissen, dass ich der Kumpeltyp war, der beste Freund, der Nebendarsteller, der dem Hauptdarsteller gute Ratschläge erteilt. Der Mädchenschwarm war ich nicht.
Sie erzählte mir, wie gut ich aussähe und wie beliebt ich sei. Und dann kam die unvermeidliche Frage: „Und ich? Bin ich denn bei den anderen beliebt?“
„Ja“, sagte ich, „das ist so.“ Ich nannte den Fußballer Wayne Rooney, den Sänger John Mayer. Leonardo DiCaprio.
Doch das genügte ihr nicht. Also fragte sie dann: „Und was ist mit dir? Magst du mich denn?“
Ich kam mir vor wie in einem Hollywoodfilm! Zum ersten Mal in meinem Leben bot sich mir die Gelegenheit, die romantische Hauptrolle zu spielen. Ich wusste zwar nicht, was ich wirklich von Ahlam hielt, doch ich wusste, dass sie mich glücklicher machte, als ich es je zuvor gewesen war. Noch eine Woche später und ich sprach drei der gefährlichsten Wörter, die ein Mann nur sagen kann.
„Ich liebe dich“, entfuhr es mir.
Kaum ein Herzschlag verging, ehe sie sagte: „Ich liebe dich auch.“
Ana hemar. Ich hatte gar nicht vorgehabt, das zu sagen. Ich war nur ganz im Augenblick gefangen. Doch kaum waren mir die drei Wörter über die Lippen gegangen, glaubte ich schon, dass sie wahr seien. Nicht dass ich wirklich wusste, wie sich Verliebtsein anfühlte. Ich war noch nie mit einer Frau allein im Zimmer gewesen und ein Date hatte ich schon gar nicht gehabt. Aber ich war euphorisiert und folgte dem einzigen Drehbuch, das ich kannte.
Ich war 22, doch – wie die meisten jemenitischen Männer meines Alters – war ich mit romantischen Komödien besser vertraut als mit romantischen Gesprächen im wirklichen Leben, mit Frauen außerhalb der eigenen Familie. Anständige Damen unterhielten sich nicht in privatem Rahmen mit Männern. Das gab es einfach nicht. Man ging nicht zusammen ins Kino, nicht ins Restaurant, man besuchte einander nicht in der Wohnung und ging auch nicht gemeinsam auf Partys … Und selbst wenn wir auf dieselben Schulen oder Universitäten gingen und in denselben Klassenzimmern oder Seminarräumen saßen, herrschte doch zumeist eine strikte Geschlechtertrennung. Das galt selbst dann, wenn die Ehe unmittelbar bevorstand. Am Tag der Hochzeit gab es zwei Feiern – eine für die Männer, eine andere für die Frauen.
Doch ich hatte nun ganz heimlich eine Frau an der Strippe und verliebt waren wir anscheinend auch noch! Von Mut war es ein kurzer Schritt zu Übermut. Ich wagte, noch eins draufzusetzen: „Ahlam“, sagte ich, „ich würde gern dein Gesicht sehen.“
Da schwieg auch sie einen Augenblick lang. Der Augenblick dehnte sich und ich spürte das dumpfe Schlagen meines Herzens. Die Zeit selbst schien an Gestalt zu verlieren, wie eine der schmelzenden Uhren Dalís.
„Triff mich eine Viertelstunde vor dem Ökonomieseminar“, sagte sie. Das Trällern ihrer Stimme klang auf einmal gepresster. „Vorher ist der Raum nicht belegt und sollte also leer stehen. Dann zeige ich dir mein Gesicht.“
Ich war aufgeregt; ich hatte eine Heidenangst; mir war speiübel. Ich erschien eine halbe Stunde früher am vereinbarten Ort und ließ mich in einen Stuhl fallen. Mein linker Fuß zitterte und klopfte unablässig Salven wie aus einem entfernten Maschinengewehr auf den Boden. Plötzlich öffnete sich die Tür und Ahlam trat in den Raum. Sie marschierte stracks auf mich zu und zeigte mir ohne Zögern ihr Gesicht.
Kurz gesagt, Ahlam war wunderschön. Atemberaubend. Ihre mandelförmigen Augen waren eingebettet in ein ovales Gesicht, das in einem fein geschnittenen Kinn endete. Ihre prallen Lippen hatten die Farbe von Wüstenrosen, und als sie in einem Lächeln ein wenig auseinandergingen, blieb mir schlicht die Spucke weg. Nach ein paar Sekunden zog sie den Vorhang ihres Nikab wieder vor ihr Gesicht und marschierte zur Tür hinaus.
Während ich allein dasaß, lief das Bild ihres Gesichts wie ein Film in Endlosschleife in meinem Kopf. Ich dachte an die Lücke zwischen ihren Lippen, an das Fältchen in ihrem Augenwinkel … Ich war jung und vom Flirten wie berauscht; ich ging völlig auf im Schauspiel der Balz. An die Ehe hatte ich keinen Gedanken verschwendet, und ganz sicherlich nicht daran, was diese naive Mutprobe für Ahlam bedeutet haben könnte.
Später in der Woche klingelte mein Telefon und ich beeilte mich abzuheben. Es war Ahlam. Ich spürte ein Prickeln in der Brust. Sie sagte, sie habe mich beim Mittagessen gesehen und sei eifersüchtig auf die Leute, die mir nah sein durften. Sie sagte, sie wünsche sich, dass auch sie an meinem Tisch sitzen könnte, doch das sei natürlich unmöglich. Dann sagte sie: „Was würdest du tun, wenn ich in diesem Augenblick in deiner Nähe wäre?“
Ich hielt den Hörer eng umklammert und sagte: „Dann würde ich dich umarmen.“
Kaum waren die Schallwellen verklungen, als ich den Schatten meiner Mutter in der Tür wahrnahm. Ihr Gesicht war zu einem Fragezeichen verzogen. Ana hemar, dachte ich. Esel, Esel, Esel.
„Mit wem sprichst du da?“, wollte sie wissen.
„Niemand, niemand“, schwindelte ich. Ahlam war noch in der Leitung.
„Nein. Ich habe gehört, wie du mit einer Frau sprachst. Wer ist sie?“
Rasch legte ich den Hörer auf.
Meine Mutter fing an zu weinen. Sie patschte nach mir. „Wer ist es, wer ist es denn? Ich habe gehört, wie du Zärtlichkeiten geflüstert hast!“
„Niemand“, beharrte ich. Noch nie im Leben hatte ich mich derart geschämt.
Meine Mutter ließ nicht locker. Sie redete auf mich ein, bis ich endlich zugab, mit einem Mädchen von der Uni gesprochen zu haben. Plötzlich lächelte sie wie ein kleines Kind.
„Liebst du sie?“
„Ich weiß es nicht.“
„Willst du sie denn heiraten?“
„Ich weiß es nicht.“
Auf einmal war sie wie erstarrt. „Hast du etwas Sexuelles mit ihr angefangen?“
„Nein!“, rief ich. „Ich unterhalte mich erst seit ein paar Wochen mit ihr. Ich weiß selber nicht, wo das hinführen soll.“
Wieder fing sie an zu weinen, sie rief nach meinem Vater, sie schrie und schrie. Ich flehte sie an, die Sache unter uns zu belassen, doch sie sagte Nein, mein Vater müsse Bescheid wissen. Sie lief nach oben. Sekunden später fing mein Vater an zu schreien. Er war genervt, weil ihm schwante, dass er wieder einen Streit würde schlichten müssen.
„Mohammed hat mit einem Mädchen gesprochen und da fielen sexy Wörter!“, schrie meine Mutter.
„Was?“, brüllte mein Vater.
Ehe ich michs versah, kamen auch schon meine Schwestern ins Zimmer gelaufen und fragten: „Was ist los? Was ist passiert?“
Was zuvor ein Prickeln in meiner Brust gewesen war, hatte sich zu einer Luftblase aufgebläht, die jetzt mit einem Schluckauf platzte. Die Angelegenheit machte keinen Spaß mehr. So hatte es nicht im Drehbuch gestanden. Ich saß auf meiner Bettkante und drückte mir die Ballen meiner Hände gegen die Augen, bis ich nur noch Sternchen sah. Noch ein Hicks.
Ich versuchte, Lial und Nuha die Lage zu erklären. Sie schüttelten langsam die Köpfe, als wüssten sie nur zu gut, was Sache war.
„Was immer du auch tust“, sagte Lial, „geh nicht nach oben, damit er gar nicht erst in Fahrt kommt. Du weißt ja: Dann gibts kein Zurück mehr.“
Ich nickte langsam – hicks! – und die beiden hüpften Arm in Arm und kichernd davon.
Keine zwei Minuten waren vergangen, ehe Nuha zurückkam. Sie setzte sich neben mich und flüsterte sanft: „Vater will dich sprechen.“ Vor lauter Schrecken verging mir der Schluckauf.
Ich weiß nicht mehr, wie ich dorthin kam, aber bald stand ich vor meinem Vater in seinem Arbeitszimmer.
„Deine Mutter sagte mir, du hättest dich mit einem Mädchen unterhalten“, begann er. „Liebst du sie?“
„Ich habe sie gerade erst kennengelernt“, antwortete ich.
„Ist sie zaiditisch?“, wollte er wissen. Weder seiner Stimme noch seiner Miene war eine Gemütsregung anzumerken.
„Ich weiß es nicht genau. Ich denke schon.“
Er nickte. „Gib deiner Mutter ihren vollständigen Namen, und sie wird herausfinden, wie es um ihre Familie bestellt ist. Wir wollen nicht, dass du denselben Fehler machst wie dein Bruder. Du musst wissen, wer sie ist. Was sie für ein Mädchen ist.“
Mit hochrotem Kopf starrte ich auf meine Schuhe. Vor lauter Wagemut hatte ich gar nicht daran gedacht, dass die Sache auch für Ahlam ernsthafte Folgen haben könnte. Vor einer Verlobung zu flirten würde an mir abperlen, sie aber könnte es ruinieren. Einer alleinstehenden Frau konnte schon ein unschuldiges Gespräch einen gewissen „Ruf“ einbringen. Ein Mann konnte Hunderte Beziehungen gehabt haben und dennoch eine gute Partie machen, aber eine Frau …
Schon seit Jahren hatte ich von Mädchen munkeln hören, deren Reputation zerstört worden war, die dazu verdammt waren, ihr Leben als alte Jungfern oder als kinderlose „Tanten“ zu fristen. Ich erinnerte mich an einen Klassenkameraden, der dabei erwischt worden war, wie er ein Mädchen küsste. Seine Eltern nahmen ihn fünfzehnjährig von der Schule und verheirateten ihn flugs mit einer anderen – mit einem Mädchen, das sie ausgesucht hatten. Mit seinen Freunden konnte er eine große Hochzeit feiern, und einmal verheiratet, konnte er so oft, wie er wollte, mit seiner Frau schlafen, ohne Ärger zu bekommen. Tatsächlich konnte er drei weitere Frauen heiraten und mit ihnen allen schlafen und trotzdem blieb er ein Ehrenmann. Damals widmete ich dem kaum einen Gedanken, doch nun fragte ich mich, was bloß aus dem Mädchen geworden war.
Zur Furcht gesellte sich ein neuer Verantwortungssinn. Ich hatte Ahlam gesagt, dass ich sie liebe; ich hatte sie darum gebeten, ihr Gesicht sehen zu dürfen. Das ließ auf die Ernsthaftigkeit meiner Absichten schließen. Ich wollte die Hauptrolle spielen, doch das hier war kein Spiel mehr. Hier ging es um das wirkliche Leben. Ich dachte zurück an die Stunden, die ich mit Ahlam am Telefon verbracht hatte, an die Freiheit, die ich dabei empfunden hatte – die Freiheit, herumzualbern, loszulassen, ich selbst zu sein. So ganz ich selbst zu sein – so hatte ich mich noch nie bei jemandem gefühlt, meine kleine Schwester Nuha einmal ausgenommen.
Ich nannte meiner Mutter Ahlams vollen Namen und ihre Adresse. Ich war bereit, Verantwortung zu übernehmen.
Am nächsten Tag in der Uni erzählte ich Ahlam, dass meine Eltern sich nach ihr erkundigten. Vor Freude tanzte sie beinahe aus ihren Schuhen heraus. Das war ein klares Zeichen dafür, dass wir uns im Prozess der Verlobung befanden. Sie klatschte mit ihren feinen Händen. Wie konnte ich da nicht lächeln? Ich fragte mich schon, welchen Schmuck ich ihr wohl zur Feier unserer Verlobung kaufen würde.
Als ich nach Hause kam, sagte mir meine Mutter, dass ich mich erst einmal hinsetzen solle. Das würde das Gespräch sein, auf das ich gewartet hatte. Nur Minuten trennten mich davon, ganz offiziell eine Verlobte zu haben. Sie warf mir einen Blick zu, und ich bemühte mich, sie davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung, dass ich bereit sei. Meine Mutter kam ohne Umschweife auf den Punkt. Sie hatte herumgefragt und erfahren, dass Ahlam tatsächlich Zaiditin sei. Das war schon mal gut. Doch seien ihre Eltern geschieden. Das war ganz und gar nicht gut. Ihre Familie habe viele Probleme, erzählte meine Mutter mit einem Kopfschütteln. Sie hätten kein Geld, keine sonstigen Mittel, keine Beziehungen. Die Augen meiner Mutter hielten mich auf dem Stuhl gebannt. Ahlam wisse, dass ich zu der Familie Al Samawi gehöre, sagte sie, und dass wir Geld hätten. Wegen meiner Behinderung sei ich ein leichtes Ziel. „Sie ist arm. Sie ist auf ihren Vorteil bedacht. Du bist naiv.“
Ohne noch etwas hinzuzufügen, stand sie auf und ging aus dem Zimmer. Ihre Worte trafen mich härter, als Hussains Faust es je vermocht hätte.
Es hatte mir die Sprache verschlagen. Ich blieb in meinem Zimmer, bis mein Vater mich rief. Wie in Trance ging ich zu ihm, ein lähmendes Gefühl hatte meinen Körper und meinen Geist ergriffen. Er wiederholte, was schon meine Mutter mir gesagt hatte, und fällte dann sein abschließendes Urteil: Ahlam sei nicht die Richtige für mich. „Siehst du denn nicht, wie glücklich dein Bruder jetzt ist? Und zwar dank der arrangierten Heirat!“
Ich schüttelte den Kopf. Ich brachte kein Wort heraus, doch den Sieg wollte ich ihm nicht gönnen. Schweigend saß ich da und dachte über meinen nächsten Zug nach. Aber mein Vater kam mir zuvor: „Wenn du mir die Wahl deiner Frau überlässt, bekommst du von mir ein Auto. Ich besorge dir eine Stelle im Militärkrankenhaus. Selbst wenn du an der Uni bleibst und nicht arbeiten gehst, kann ich dafür sorgen, dass du auf der Gehaltsliste stehst und ein eigenes Einkommen beziehst.“
Eine solche Macht besaß mein Vater, Chefarzt der Urologie.
„Nein“, erwiderte ich, meine Worte abwägend. „Ich mag Ahlam.“
Mein Vater zuckte ganz leicht, so als wäre ihm eine Mücke nah am Auge vorbeigeflogen. Es war ein kaum merklicher Kontrollverlust. „Denk mal darüber nach“, meinte er. Kühl, beherrscht. „Dann komm wieder.“
Abends ging ich mit Ahmed weg. Wie fuhren durchs Tal, bahnten uns einen Weg zwischen den dicht gedrängten Häusern, durch Straßen, die vor Jahrhunderten für Kamele und Esel angelegt worden waren. Ich erzählte ihm, was zwischen meinem Vater und mir vorgefallen war. Er legte mir eine Hand auf die Schulter und sah mich an, grinsend und mit großen Augen.
„Das ist doch toll!“ Er schüttelte mich. Er pfiff durch die Zähne und blickte hoch zum Himmel. „Wenn du anbeißt, hast du ausgesorgt. Du hast einen Job, eine Wohnung, und deine Eltern besorgen dir eine Frau. Und das alles kostet dich keinen einzigen Rial!“
Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. An Geld hatte ich überhaupt nicht gedacht, sondern an Liebe! Und Ehre! Was kümmerte es mich denn, wenn ich der Familie Ahlams ein Brautgeld von umgerechnet zehntausend Dollar würde zahlen müssen? Gut, bei einem Monatsgehalt von hundert bis zweihundert Dollar würde ich eine Zeit lang darauf sparen müssen, doch war das die Sache nicht wert? Nun, damit würde es nicht getan sein, es gab noch Unkosten, die Hochzeit, ihre Kleider, unsere Kinder, der ganze Haushalt …
„Und“ – Ahmed sah mich verstohlen an – „ihr werdet jeden Tag Sex haben. Das wird vielleicht etwas!“
So sehr ich mich bemühte, auf diesen Spruch mit ritterlicher Entrüstung zu reagieren, schaffte ich es nicht, ein herzliches Lachen zurückzuhalten. In diesem Moment wehte uns vom Markt der Duft der Gewürze in die Nase und das helle weiße Mondlicht schien durch die Windschutzscheibe, und plötzlich sah das Angebot meines Vaters gar nicht mal übel aus. Ich kannte Ahlam kaum. Sie liebte mich nicht. Ich war naiv. Ein leichtes Ziel. Vielleicht war ich nicht stark genug, selbst eine Frau zu finden. Vielleicht musste man mir unter die Arme greifen.
Als ich an diesem Abend nach Hause kam, sagte ich meinem Vater, dass ich mit seinen Bedingungen einverstanden sei. Er fasste mich am Arm. „In Ordnung“, sagte er. „Deine Mutter kümmert sich um den Rest.“
Ich ignorierte Ahlam. Ich hob nicht mehr den Hörer ab, wenn sie anrief, und in der Uni vermied ich den Blickkontakt. Kam sie mir im Flur entgegen, suchte ich schnell das Gespräch mit der nächstbesten Person. Ich sprach mit Leuten, mit denen ich nie zuvor gesprochen hatte. Sie lachten über meine Scherze. So baute ich mir eine Schutzhülle, in der ich mich sicher fühlte.
Als Ahlam doch einmal meine Schutzhülle durchdrang, sagte ich ihr, ich sei krank und habe Probleme mit meinen Eltern. Sie fragte, ob sie etwas für mich tun könne und ob wir uns nun verloben würden oder nicht. Ich antwortete ihr nicht. Ich wollte sie nicht verletzen – und verletzte sie dadurch hundertmal mehr. Als es offensichtlich war, dass es zu keiner Verlobung kommen würde, ließ sich Ahlam eine Zeit lang von der Universität freistellen.
Begriff ich das als Beweis ihrer Zuneigung? Nein. Ich sagte mir, sie trauere nur dem entgangenen Vermögen hinterher und dass sie sich nicht an einem Ort aufhalten wolle, der sie nur an ihren fehlgeschlagenen Plan erinnern würde. Und welch ein Glück, dass er fehlgeschlagen war! Meine Eltern hatten mich vor einer Katastrophe bewahrt. Da hatte ich mich gegen Tradition und Erwartungen auflehnen wollen, aber ich hatte mich als zu schwach erwiesen, um mir die Ausnahme zu erkämpfen. Eine Liebesheirat war für Hussain nichts gewesen und für mich wäre sie auch nichts. Ich hatte geglaubt, einen Partner fürs Leben zu wollen, aber meine Eltern hatten recht. Ich brauchte jemanden, der auf mich aufpassen würde.
Wenn ich schon sonst nichts verstand, dann verstand ich doch die Prinzipien der Wirtschaft. Risiko und Ertrag. Ich entschied mich für Letzteres. Meine Eltern fanden für mich eine Frau und wir heirateten. Wir waren sehr unterschiedliche Menschen, doch wir taten uns zusammen, um ein Leben aufzubauen. Mehr will ich dazu nicht sagen, denn das ist ihre Geschichte. Wissen müssen Sie nur das: Ich hatte eine Familie, und dann verlor ich alles.