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Kapitel 1 Schwache Verbindungen, starke Bande

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Aden, März 2015

Ich zählte meine Schritte. Drei von der Tür bis zur Wand, zwei zwischen Toilette und Spiegel. Für eine Person war meine neue Wohnung in Aden groß, doch ich hatte nicht vorgehabt, im Badezimmer Zuflucht zu suchen. Das graugrüne Licht der einsamen Glühbirne wurde vom Spiegel verstreut und ließ Wände, Decke, Fußboden erbleichen. Sonst konnte es nirgends hin.

Ich saß in der Falle.

Meine Augen, gerötet und mit geplatzten Äderchen durchzogen, fühlten sich an wie ausgehöhlt von Schlaflosigkeit und Stress. Sie hatten den Rückzug angetreten, weg von der Front, als wollten sie nicht mit ansehen, wie der Jemen sich selbst zerfleischte. In den Straßen lag der Schutt. Bewaffnete, ob Soldaten, Milizionäre oder Zivilisten, feuerten Gewehrsalven ab und schrien ihre Slogans, von denen auch die sozialen Medien voll waren: „Gott ist groß! Tod Amerika! Tod Israel! Die Juden zur Hölle! Sieg dem Islam!“

Der Strom fiel mal wieder aus. Ich schaute auf mein Handy und versuchte mich durch eine Bestandsaufnahme der jüngsten Ereignisse zu beruhigen.

Es war der 22. März 2015. Sieben Tage zuvor war ich aus meinem Zuhause in Sanaa geflohen, der offiziellen Hauptstadt des Jemen. Ich flüchtete aus Lebensgefahr und vor der Gewalt eines anbrechenden und rasch eskalierenden Bürgerkriegs. Auf der einen Seite Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi und das ihm ergebene Militär, ihm gegenüber die Streitkräfte der Opposition, der Huthi-Rebellen und ihres obersten Revolutionskomitees unter der Führung des ehemaligen Präsidenten Ali Abdullah Saleh.

Ich dachte, ich würde mich in Sicherheit bringen, doch die Gewalt war mir auf den Fersen.

Der Flughafen Sanaa, von dem ich abgeflogen war, stand bereits unter Kontrolle der Huthi. Dann begannen die Kämpfe zwischen den Gefolgsleuten Hadis und den Huthi-Rebellen am Flughafen hier in Aden. Würde die Gewalt sich von dort ausbreiten? Alle beteten für ein Ende der Kämpfe, doch sie begannen jetzt erst richtig. Sollte der Jemen, das ärmste Land der Region, nun auch noch zum Schauplatz eines üppig finanzierten Stellvertreterkriegs zwischen dem Iran und Saudi-Arabien werden?

Gerüchte machten die Runde und wurden von Tür zu Tür weitergeflüstert. Der Iran, hieß es, versorge seine Glaubensbrüder – die schiitischen Huthi, die Aufständischen aus dem Norden – mit Waffen; dagegen unterstütze Saudi-Arabien den Sunniten Hadi. Schlimmer noch: Das sunnitische Netzwerk umfasste auch Al Kaida auf der Arabischen Halbinsel (al-Qaeda in the Arabian Peninsula, AQAP) und den sogenannten Islamischen Staat (IS), die beide begonnen hatten, in verschiedenen Landesteilen die Macht an sich zu reißen. Eine Verschiebung des Gleichgewichts zwischen Sunniten und Schiiten im Jemen würde sich womöglich auf den gesamten Nahen Osten auswirken – und um diese Balance zu ihren Gunsten zu entscheiden, waren untereinander zerstrittene Gruppen bereit, gemeinsame Sache zu machen.

Von meinem Fenster aus beobachtete ich, wie Bewaffnete auf den Straßen patrouillierten. Aus der Stadt führten nur zwei Straßen heraus, die beide am Flughafen vorbei verliefen, einem Schwerpunkt der Kämpfe. Beide schienen mir also versperrt zu sein. Für so gut wie jedermann war die Lage heikel – und wenn man Verbindungen zu Israel oder Juden unterhalten oder sich um den interreligiösen Dialog bemüht hatte, war sie geradezu tödlich. Und ich war in allen drei Punkten „schuldig“.

Als Friedensaktivist, der sich um die Verständigung zwischen Juden, Christen und Muslimen bemühte, war ich schon mehrfach ins Fadenkreuz geraten. Doch diesmal war es anders. Es war schlimmer.

Was wäre, wenn jemand herausfinden würde, wer ich bin, wo ich herkam oder was ich die letzten Jahre so getrieben hatte …?

Gefangennahme.

Folter.

Hinrichtung.

Wie lange noch würde mich Adrenalin am Laufen halten? Wie lange noch würden mir Internet und Handy ein Fenster nach außen bieten?

Ich schloss die Augen und stützte mich mit beiden Händen auf das Waschbecken. Meine schweißbedeckte Stirn berührte den Spiegel und glitt zur Seite weg. Mit der Zunge fuhr ich über meine spröden Lippen und konnte gerade noch der Versuchung widerstehen, mit den Zähnen an meinem eigenen Fleisch zu nagen. Vor Hunger und Angst drehte sich mir der Magen um.

Das Grollen von Geschützen, die in einiger Entfernung abgefeuert wurden, brachte mich wieder zur Besinnung.

Barfuß stand ich auf den Fliesen und fragte mich, ob der Einschlag einer Granate auf der Straße mich noch hier oben im dritten Stock erreichen könnte.

Aus dem Bad eilte ich zurück zum Fenster. An die Wand gepresst spähte ich durch eine kleine Lücke zwischen den Vorhängen. Die Strom- und Telefonleitungen bildeten ein wirres Geflecht. Am Ende der Straße hielten zwei Männer Wache; es sah nach einem AQAP-Kontrollpunkt aus. Ihre schwarzen Shemags oder Kufijas verhüllten ihre Gesichter, und der Wind wickelte ihre weißen Gewänder um die Patronengurte, die sie über Kreuz auf der Brust trugen. Vor ihren Füßen tänzelten kleine Staubwirbel. Ihre Gewehrläufe zeigten gen Himmel.

Warum habe ich mich in diese Lage gebracht?, fragte ich mich. Warum bin ich von Sanaa weg, von zu Hause?

Ana hemar. Ich bin ein Esel.

Ich wünschte, ich wäre wieder bei meinen Schwestern, in der Sicherheit meines Zimmers, im Fernseher läuft ein alter Hollywoodfilm. In dem die Guten gewinnen. Das Problem war, dass hier, unter Schicht um Schicht von Dreck und Blut, Gut und Böse manchmal kaum zu unterscheiden waren. In ihren öffentlichen Stellungnahmen gab sich jede Seite friedfertig, doch hinter den Kulissen waren sie einander in Gewalt verbunden. Die Huthi, die sogenannten Rebellen aus dem Norden, galten den einen als Helden, den anderen als Terroristen. Die Kämpfer von Al Kaida, die Truppen aus dem Süden, hatten ihre eigenen Sympathisanten, ihre eigenen Gegner. Gut oder böse, rechts oder links – der Schein trog hier wie da.

Was würde passieren, wenn die beiden Armeen aufeinanderträfen? Die Huthi hatten gerade Taiz eingenommen, die drittgrößte Stadt des Landes, die strategisch wichtig zwischen Norden und Süden lag. Sie waren damit nicht viel mehr als 150 Kilometer von Aden entfernt und bereiteten sich von ihrem neuen Stützpunkt aus auf ihren Angriff vor. Schon waren sie in meine Richtung unterwegs.

Mit geschlossenen Augen und zusammengebissenen Zähnen hörte ich, wie das Licht wieder anging, noch ehe ich es sah. Ein Zeichen Gottes? Für solche Überlegungen blieb keine Zeit. Strom war ein knappes, kostbares Gut.

Im Wohnbereich hockte ich vor meinem Laptop. Endlich konnte sich der Akku wieder etwas aufladen. Ebenso mein Handy in der Küche.

Ich ging auf Facebook, und immer wieder aktualisierte ich meine Timeline bei Twitter. Ich studierte die Seite von Al-Masdar News. Zwar wusste jeder, dass es sich um das Sprachrohr der islamistischen Islah-Partei handelte, doch außer ihnen berichtete niemand direkt vor Ort – außer ihnen und Adam Baron, einem amerikanischen Journalisten. Die staatlichen Nachrichtenkanäle konnte man vergessen. Glaubte man ihnen, gab es keinen Krieg und schon gar nicht kam jemand zu Tode.

Furcht und Fakten zugleich ließen mich erschaudern. Ich klappte meinen Laptop zu und schaute mich in meiner Wohnung um. Mein Blick fiel auf den kläglichen Vorrat an Lebensmitteln: Wenige Flaschen Wasser und Saft, Schokoriegel und Dosen mit Thunfisch, ein paar Packungen Chips und Kekse, das war alles.

Ich hörte mein Magenknurren in den Rippen widerhallen. Hunger und Durst. Das Wasser aus dem Hahn war untrinkbar. Da es sonst nichts zu tun gab, klappte ich den Rechner wieder auf. Ein sichereres Fenster zur Außenwelt gab es nicht.

Keine neuen Nachrichten. Nichts. Ich hatte schon den ganzen Tag vor dem Laptop verbracht, so lange krumm davorgehockt, dass ich mir wie eine Garnele vorkam. Ich ging meine letzten Gespräche durch, meine E-Mails, meine Freunde auf Facebook, und schrieb jedem, der mir sonst noch in den Sinn kam. „Helft mir. Bitte.“ Doch niemand wusste, was zu tun war. Jeder hatte schon genug zu tun, sich selbst und die eigene Familie in Sicherheit zu bringen. Niemand war bereit, mit dem Auto durch ein Kriegsgebiet zu fahren, um einen Fremden zu retten – oder einen Freund. Man äußerte Bedauern, bedachte mich mit Gebeten. Das war gut gemeint, aber auf einem Gebet würde ich nicht davonfliegen können.

Ich musste weg von hier.

Kurz vor Mitternacht schrieb ich noch eine Nachricht.


Datenpakete rasten ein Netzwerk aus Netzen hindurch. Sie sprangen von einem Router zum nächsten und schließlich zum Ziel. In Sekundenschnelle fügten sie sich auf der anderen Seite der Welt wieder zusammen.

MOHAMMED AL SAMAWI: Hallo Daniel, ich hoffe alles ist super bei dich!

Ich hoffe du erinnerst dich an mich … Ich dachte es ist gute Idee dich fragen ob du mich kannst helfen … Wenn du siehst Nachrichten, hast du vielleicht gehört was geschieht in Jemen. Deshalb schreibe ich folgende Bitte. Wenn du kennst jemand der mir kann helfen bitte sag Bescheid.

Daniel Pincus stand etwas abseits, während auf einer jüdischen Hochzeit in Brooklyn der Aperitif gereicht wurde. Er war hochgewachsen und voller Energie und das Schicksal stellte ihn immer wieder vor die vertracktesten Herausforderungen. Mit einer Hand fuhr er sich durchs Haar. Auf dieser Hochzeit kannte er niemanden und zwischen Häppchen und Schnittchen warf er einen Blick auf Facebook. Dort sah er eine kurze, verzweifelte Nachricht von einem Typ, an den er sich kaum erinnerte. Doch er war dankbar für jeden Vorwand, die Feier kurz zu verlassen, und trat hinaus auf den Flur, um mit dem Jemen zu skypen.

Unterdessen saß Megan Hallahan vor ihrem Laptop in ihrer Tel Aviver Wohnung, eine Amerikanerin mit großen Augen und einem braunen Lockenkopf. Ein junger Mann, den sie drei Jahre zuvor auf Facebook kennengelernt hatte, steckte im Jemen fest, in einem Kriegsgebiet. Seit zwei Wochen suchte sie nach einem Weg, ihn außer Landes zu schaffen, doch nichts war dabei herausgekommen. Langsam ging ihr die Hoffnung aus. Eine E-Mail schrieb sie noch und schickte sie an eine weitere Gruppe in ihrem Netzwerk. Dann schlief sie ein.

Natasha Westheimer, eine Australo-Amerikanerin, war noch wach. Sie hielt sich ebenfalls in Israel auf, wo sie für die Organisation EcoPeace Middle East E-Mails beantwortete. Unter den Absendern fiel ihr Megan ins Auge, die sie drei Wochen zuvor auf einer Tagung zivilgesellschaftlicher Initiativen in Jordanien kennengelernt hatte. In der Betreffzeile stand „Dringend: Mein Freund im Jemen“. Sie rückte ihre Brille zurecht und kämmte sich das dichte rote Haar hinter die Ohren. Im Herbst würde Natasha in Oxford ein Masterstudium in Hydrologie beginnen. Einen Brunnen graben, das konnte sie – aber dieses Kind aus dem Brunnen zu ziehen, das war etwas ganz anderes. Dennoch zögerte sie nur kurz, ehe sie auf „Antworten“ klickte.

In Utah saß Justin Hefter, der gerade seinen Abschluss in Stanford gemacht hatte, in einem Taxi zum Flughafen. Er hatte ein Wochenende mit seinen Kumpels hinter sich, Ski fahren und Party machen, doch mit Blick auf den Flug in aller Herrgottsfrühe war er am Vorabend etwas früher zu Bett gegangen. Nun war es 4 Uhr morgens und er öffnete sein E-Mail-Postfach:

Liebe Freunde,

entschuldigt bitte die Störung, aber ich habe einen Freund, dessen Leben in Gefahr ist und der einen Vorwand braucht, irgendeinen Vorwand, um aus dem Jemen herauszukommen. Er ist bereit, überallhin zu gehen und alles zu tun, was ihm das Existenzminimum sichert. Jede Idee, jeder Kontakt kann helfen. Bitte leitet die Nachricht weiter und lasst mich eure Vorschläge wissen.

Vielen Dank im Voraus, Megan

Justin wühlte ein wenig in seinem Portemonnaie, bis er die Visitenkarte eines Jemeniten fand, so etwa Mitte 20, den er auf derselben Tagung in Jordanien drei Wochen zuvor getroffen hatte. Er schrieb Megan eine kurze Mail:

Hey Megan, Mohammed Al Samawi lebt im Jemen und war auf der GATHER-Konferenz. Vielleicht hat er Ideen … du erreichst ihn auf Facebook unter: [Link].

Megans Antwort folgte umgehend:

Hi Justin, es ist Mohammed, um den es hier geht …


Es ging um mich. Der fragliche Mohammed bin ich.

Dies ist meine Geschichte.

Sie beginnt mit einem Buch, und mit einem Buch endet sie.

Fuchsjagd

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