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Kapitel 2 Widersprüche

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Mit meinen Klassenkameraden in der Schule

Solange ich mich erinnern kann, war da etwas, das mich von anderen trennte. Meine Eltern sagten mir, ich sei von Gott gesegnet. Und sie sagten mir, auf mir liege ein böser Fluch. Ich war etwas Besonderes. Ich war ein Sonderling. Ich wurde geliebt. Ich wurde gehasst. Ich wurde bemitleidet. Ich wurde verachtet. Alles aufgrund eines Ereignisses, auf das ich keinen Einfluss hatte und von dem meine Familie kaum je sprach – und wenn doch, nur in Andeutungen.

Ich wuchs auf ohne irgendeine Erinnerung an die Zeit davor, die Zeit, als die Dinge noch normal waren. Als die meisten Kinder laufen lernten, lag ich wie gestrandet auf dem Bauch. Erst mit vier Jahren schaffte ich es, mich mit einem Laufwagen wankend und taumelnd vorwärtszubewegen. Dabei betrachtete ich voller Neugier und Zorn mein rechtes Bein, das mir den Gehorsam verweigerte. Warum war eine Seite von mir so fügsam, so willig? Warum war die andere so störrisch, so unnachgiebig?

Als ich alt genug war, um zu sprechen, fragte ich meine Mutter, warum mein Körper anders war, warum meine rechte Hand aussah wie der Schnabel eines Rebhuhns.

„Was fehlt mir?“

„Nichts fehlt dir. Du hattest einen Unfall. Dir wird es schon besser gehen.“

„Wann?“

„Bald.“

„Wie bald?“

„Mohammed, du hast Glück, zu sein wie du bist. Das macht dich einmalig.“

Das wollte mir nicht einleuchten. Ich war ungeschickter als andere, und darin sollte ich mein Glück erkennen? Wenn es mir besser ginge, würde ich dann verlieren, was mich einmalig machte? Ich war zu jung, um diese philosophischen Fäden zu entwirren, und machte also das Beste daraus, im Glauben, eines Tages würde sich das schon noch ändern. Es war 1990. Meine Eltern waren beide Ärzte. Die Medizin machte rasche Fortschritte und wir nutzten sie voll aus.

Wäre ich nicht in eine angesehene Familie hineingeboren worden, ich hätte kein solches Glück gehabt. Der Jemen war das ärmste Land im Nahen Osten, doch uns ging es verhältnismäßig gut. Mein Großvater väterlicherseits war ein geachteter Ältester in der Gemeinschaft, der als eine Art Richter Streitigkeiten schlichtete. Seine Arbeit und sein Grundbesitz brachten ihm genug ein, um seine beiden Söhne auf die Universität zu schicken. Zunächst studierten sie Jura, doch mein Vater hatte eine widerspenstige Ader und wurde schließlich Arzt. Sein Einkommen hätte uns erlaubt, im vornehmsten Viertel von Sanaa zu wohnen, doch er hatte andere Vorstellungen. Stattdessen lebten wir in einem sozial gemischten Viertel unweit der Altstadt.

Die Altstadt, in einem Talkessel inmitten der Berghöhen gelegen, mit ihren typischen Wohntürmen aus gepressten Lehmziegeln, wurde vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren erstmals besiedelt. Im siebten und achten Jahrhundert war sie ein regional bedeutendes Zentrum der islamischen Kultur, und historische Quartiere aus dem elften Jahrhundert wurden 1986 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt – im Jahr meiner Geburt.

Als ich ein Kind war, streiften meine Gedanken durch die engen Gassen und zwischen den Marktständen umher, zwischen den Bergen von Kaffeebohnen und Gewürzen, während ich doch fast jeden Augenblick in unserer Wohnung verbrachte.

Ich reichte meiner Mutter kaum bis an die Knie, als sie mich in ein Flugzeug steckte und mit mir nach Indien, Ägypten und Jordanien flog, wo ich von Spezialisten untersucht und operiert werden sollte. Jedes Mal kehrte ich zur Genesung in mein Bett zurück und jedes Mal hoffte ich, dass es nun so weit sein würde, dass ich diesmal zu den Kindern stoßen könnte, die ich in unserem Viertel herumlaufen hörte. Doch ich lag in meinem Zimmer im Erdgeschoss unseres fünfstöckigen Wohnhauses auf meiner Matratze, Gesicht und Körper mit Nadeln gespickt. „Ruhig bleiben, ruhig“, murmelte der Akupunkteur. Wie ein aufgespießter Käfer zappelte ich, war ruhiggestellt, aber nahm doch wahr, was um mich herum geschah.

Ich wollte mich doch nur bewegen, der Sonne nach von Gasse zu Gasse laufen. Doch der sanfte Befehl ließ mich erstarren. Um keinen Preis wollte ich die Heilung gefährden, um die ich jeden Abend Gott anflehte. Doch Gott musste jedes Mal gerade anderweitig beschäftigt gewesen sein. Anstatt mir ein Fahrrad zu kaufen, mit dem ich vor unserem Tor auf der Straße auf und ab fahren konnte, kaufte mir meine Mutter ein Buch über einen Jungen und sein Fahrrad. „Das ist doch genauso gut“, sagte sie. Sie – Nawal – und mein Vater – Khalid – fingen an, sich abends mit mir zusammenzusetzen, um mir das Alphabet beizubringen, also die 28 Zeichen zu erkennen, auszusprechen und zu schreiben, die das Abdschadsystem (die Konsonantenschrift) des modernen Arabisch bilden. Schon bald konnte ich lesen. Die Wörter eröffneten mir ein neues Universum, doch die Welt vor der eigenen Haustür blieb mir nach wie vor verschlossen.

Meine Mutter versprach, bald würde es mir besser gehen.

Bald.

Aber wie bald denn?

Am ersten Schultag stand ich auf dem Parkplatz vor der Schule, gebückt unter einem Ranzen, der wie mit bösen Ahnungen vollgestopft schien. Ich hatte keine Freunde und bisher kaum Umgang mit anderen Kindern als meinen Geschwistern gehabt: meinem älteren Bruder Hussain, meiner älteren Schwester Lial, meinem jüngeren Bruder Saif und meiner kleinen Schwester Nuha. Ich fummelte an meiner Uniform herum – einer marineblauen Baumwollhose, einem T-Shirt und darüber ein weißes Hemd – während meine Mitschüler aus den Autos sprangen. Den Weg ins Schulgebäude bahnten sich meine Mutter und ich durch eine Ansammlung von Leibwächtern hindurch, die sich auf und in den Limousinen und Toyota Land Cruisers der Reichen lümmelten. Ich schaute hoch zu meiner Mutter. Außer ihr waren kaum Eltern zu sehen.

Die Schule befand sich im wohlhabenden Viertel Al-Seteen, eine Dreiviertelstunde von unserem Haus entfernt. Die staatliche Schule war zwar ungleich näher, doch ihr Angebot blieb hinter dem der Azal-Alwadi-Schule zurück. Dort lag der Schwerpunkt auf der Vermittlung islamischer Glaubensinhalte. Die durften freilich auf keinem Lehrplan fehlen, doch hier wurden auch noch andere Fächer unterrichtet: zum Beispiel Erdkunde, Naturwissenschaften, Geschichte und Mathematik. Als Ärzte wussten meine Eltern den Wert einer umfassenden Bildung zu schätzen.

Bevor wir das Klassenzimmer betraten, lächelte meine Mutter mir Mut zu. Doch als sie sich bückte, um meine Ansteckkrawatte geradezurücken, zitterten ihr die Hände. Ihre Nerven lagen blank – kein Wunder, denn auch für sie war es der erste Schultag. Sie hatte beschlossen, diesen ersten Tag am hinteren Ende des Klassenzimmers zu verbringen, um zu beobachten, wie die anderen Schüler mich behandelten.

Wir traten also zusammen ein, und ich fand einen Platz in der ersten Reihe, während meine Mutter sich einen Stuhl nahm und sich an den Rand setzte. Ich nahm meine Hefte aus dem Ranzen und versuchte, wichtig auszusehen, indem ich meine Stifte mit großer Geste vor mir aufreihte. Wie erleichtert ich war, als der Lehrer mit einem Händeklatschen die Stunde einläutete!

Dieser erste Tag bestand aus einer Einführung ins Grundwissen: das Alphabet, zählen, einige Eckdaten zum Jemen und zum Islam. Ich konnte schon schreiben und ein wenig rechnen. Warum konnten es die anderen Kinder denn nicht?

Am zweiten Tag saß meine Mutter außerhalb des Klassenzimmers; durch die Fenster konnte ich sie sehen. Meine Klassenkameraden zeigten auf sie und stupsten einander an, flüsterten hinter vorgehaltener Hand.

Ich verstand nicht, wo das Problem lag. Meine Mutter nahm mich überallhin mit. Zugegeben, ich war oft das einzige Kind – und die einzige männliche Person – in einer Gruppe von Frauen. Und selbst auf Hochzeiten, wo Kinder oft ausdrücklich nicht erwünscht waren, war ich dabei. Ich bekam viel Aufmerksamkeit von den Erwachsenen. Ich fühlte mich wie etwas Besonderes, geliebt und umsorgt. Mein sechs Jahre älterer Bruder war oft eifersüchtig und suchte Streit mit mir, was mir aber nur zu beweisen schien, dass die Aufmerksamkeit meiner Mutter ein begehrenswertes Gut sein musste. Hier aber schien sie mir erstmals ein Problem zu sein. Und nach den ersten paar Wochen waren meine Mutter und ich uns einig, dass sie mich nicht weiter begleiten sollte; stattdessen würde mich unser Fahrer, Taha, zur Schule bringen.

Doch es war schon zu spät. Ich hatte den Ruf weg, der Behinderte zu sein, das Muttersöhnchen, der Kümmerling. Ich brauchte eine neue Identität, ein neues Bild von mir selbst. Also besann ich mich auf meine Stärken: Ich konnte weder laufen noch Fahrrad fahren, aber lesen, das konnte ich. Zu Hause büffelte ich, was ich nur konnte. Ich schnappte mir Hussains Mathebücher ebenso wie Lials Romane. Den akademischen Wettlauf immerhin konnte ich gewinnen und im Klassenzimmer würde ich der Spitzenspieler sein. Ich wollte morgens der Erste vor Ort sein, der Erste, der sich bei einer Frage des Lehrers meldete, der Erste, der mit der Klassenarbeit fertig war. Jeden Tag feierte ich den Abschluss meiner Aufgaben damit, dass ich den Stift demonstrativ hinlegte, aufstand und mich umsah, wie die anderen denn vorankämen. Flugs wurde mir die Aufsicht übertragen, wenn der Lehrer einmal aus dem Raum musste. Als er zurückkam und fragte, ob sich jemand danebenbenommen habe, erstattete ich vollständig Bericht und wies auf Mitschüler, die trotz der Anweisung, ruhig zu arbeiten, getuschelt hatten.

Bald lernte ich, dass es mir nur Ärger einbrachte, wenn ich mich auf jede Frage des Lehrers meldete, und meinen Stolz bezahlte ich mit Einsamkeit. Ich wusste nicht, was schlimmer war – wenn die Leute mich anstarrten oder wenn sie mich übersahen. Mit den Jahren lernte ich, mich zurückzunehmen. Stellte der Lehrer eine Frage, so setzte ich mich auf meine gute Hand und wartete, dass jemand anderes die großen internationalen Flughäfen in der arabischen Welt aufzählte. In der Stille, die auf die Frage folgte, spulte ich die Antwort in meinem Kopf ab: Dubai International, Hamad International, King Abdulaziz International, Abu Dhabi International. Viele davon hatte ich schon auf dem Weg zu diesem oder jenem Arzt passiert.

Das waren düstere Jahre in meinem Leben – auch wörtlich. Das Erdgeschoss, in dem mein Zimmer lag, war beinahe fensterlos, sodass ich Hussain nicht einmal dabei zuschauen konnte, wie er mit seinen Freunden Fußball spielte. Ich hörte, wie sie ächzten und schrien, aber sehen konnte ich nichts. Wann immer die älteren Jungs ins Haus kamen, um sich mit Wasser und Keksen zu stärken, humpelte ich zu ihnen, denn irgendwie wollte ich doch mit von der Partie sein. Doch Hussain rollte nur mit den Augen, ehe er mich an die Hand nahm und mich zu unserer Mutter brachte. Die Rufe, die durchs Haus hallten, änderten sich kaum. Ich stand daneben und fühlte mich noch kleiner und unbedeutender als ohnehin, während meine Mutter auf meinen älteren Bruder schimpfte und am Ende weinend zurückblieb.

Ana hemar, hielt ich mir dann vor. Ich bin ein Esel.

Mit sieben oder acht Jahren hatte ich gelernt, mir im Kopf eine andere Welt zu erschaffen. Jeden Morgen wartete unser Fahrer Taha darauf, dass ich ins Auto kletterte, und dann ging es auf und davon. Fünfundvierzig Minuten lang, umgeben vom lärmenden Gewusel des Straßenverkehrs in Sanaa, konnte ich aus dem Fenster starren, hinab auf das Labyrinth der Minarette und bis zu neunstöckigen handgemauerten Häusern. Die Bauten aus gebrannten Ziegeln und gepresstem Lehm, manche von ihnen weiß getüncht, backten wie Lebkuchenhäuser aus dem Märchen vor sich hin. Unter dem Brummen des Motors erging ich mich in Fantasien, in Visionen eines anderen Lebens. Dort war ich Arzt, Anwalt oder Hollywoodschauspieler. Oder und am besten: Fußballstar.

Fußball war mein Moby Dick, mein weißer Wal, dem ich noch in meinen Träumen nachjagte. Keinem Ereignis fieberte ich so entgegen wie der Fußballweltmeisterschaft; knapp dahinter folgte die internationale Buchmesse von Sanaa. Wann immer möglich, starrte ich gebannt auf den Bildschirm, auf die Spieler, wie sie dribbelten und sprinteten, wie ihre Beine auf dem Weg zum Tor wie sich öffnende und schließende Scheren durchs Gras schnitten. Auch wenn ich keine Spiele anschaute, sondern auf dem Schulweg im Auto saß, verlor ich mich in einer Welt, in der ich der Superstar war, der auf dem Grün des Platzes alle Abwehrspieler hinter sich ließ und das Siegestor schoss. Zu bald kam der Augenblick, an dem Taha an der Zitadelle des Bösen vorfuhr – an meiner exklusiven Privatschule.

An einem besonders perfekten Tag hielt es meine Klassenkameraden kaum noch auf ihren Stühlen. Wie eine goldene Kugel strahlte die Sonne am Himmel und mit jedem Ticken der Uhr rückte die Sportstunde näher. Endlich war Erdkunde vorbei! Meine Klassenkameraden rannten aufs Spielfeld, während ich mich auf die harte Holzbank setzte und regelmäßig mein Gewicht verlagerte, bevor ich jedes Gefühl im Sitzfleisch verlor. Der schwarz-weiße Ball rollte auf dem Gras, und ich schaute zu, wie meine Mitschüler ins Leere traten, nach einem Ball, der sich zwischen ihren Beinen verlor. Nach holprigen Schüssen reckten sie die Arme gen Himmel, wie um die Ungerechtigkeit der Fußballgötter anzuklagen. Was wussten sie schon von Ungerechtigkeit. Ich saß wie versteinert auf der Bank und verzog keine Miene, als sie auf mich zukamen.

„Mohammed der Krüppel“, sagte einer.

„Mohammed das Muttersöhnchen“, ein anderer.

Ich schaute zu unserem Lehrer, der mit dem Rücken zu uns in Hörweite stand. Weder zückte er die rote Karte, noch pfiff er ein Foul. Stattdessen drehte er sich um und lächelte über eine der originelleren Beleidigungen.

Während der gesamten Heimfahrt blickte ich in den klaren, wolkenlosen Himmel hinauf. Warum ich?, fragte ich Gott. Soll das eine Art Prüfung sein? Ich öffnete die Tür zu unserem Haus und grüßte meine Pflegerin, eine Frau aus Indien. Ich vermied es, meine Mutter zu treffen, und ging auf mein Zimmer, um dort in meinem Lieblingscomicbuch Majid zu lesen. In Comics konnte ich mich verlieren, mich in den Jungen hineinversetzen, den Titelhelden der Reihe. Anders als ich erlebte er allerhand Abenteuer; doch wie ich bekam er dabei fast immer Ärger.

„Salam, Mohammed.“ Meine Mutter stand in der Tür. „Und wie war heute dein Tag?“

Ich wollte nicht gleich mit einer Klagelitanei anfangen. Mir war klar, dass ein Eingreifen meiner Eltern nichts bringen würde. Schon früher hatte meine Mutter sich an die Eltern meiner Klassenkameraden gewandt und mein Vater hatte sogar versucht, die Lehrer zu bestechen, dass sie besser aufpassten, doch die Hänseleien nahmen dadurch nur zu. Ich hatte nicht die Kraft, vollständig Bericht zu erstatten oder mich mit Halbwahrheiten aus der Affäre zu ziehen. Stattdessen fragte ich, ob ich mir im Laden um die Ecke ein paar Süßigkeiten kaufen dürfe. Sie schüttelte den Kopf.

„Hussain darf aber allein hingehen!“, brüllte ich, und darin lag der ganze Schmerz des bisherigen Tages.

„Aber Lial darf nicht.“

„Lial ist ein Mädchen. Ich bin ein Mann. Das ist unfair!“

Meine Mutter schaute mich an, als ob mein Schmerz der ihre wäre.

„Hussain?“, rief sie, noch unentschlossen. „Geh mit deinem Bruder raus. Er will Süßigkeiten.“

Eine Minute später erschien Hussain mit verzogenem Gesicht und herabhängenden Schultern und musterte mich angewidert. „Warum denn ausgerechnet ich?“, beschwerte er sich.

Meine Mutter hatte die Hände in die Hüften gestützt und strahlte Schmerz und Schuld aus. „Was bist du denn für ein Hund? Was fragst du für Sachen?“

„Ich will nicht mitgehen.“ Hussain presste die Worte heraus.

„Geh.“

Hin- und hergerissen zwischen Pflichtgefühl und Trotz machte er kehrt und winkte mir hinter dem Rücken zu, ihm zu folgen.

Ich versuchte, den Rhythmus seiner Schritte nachzuahmen, während wir durch das Tor gingen. Auf der Straße hielt er an und blickte sich um. Ein paar Straßen weiter stand eine Bande Jungs an der Ecke, deren lange Schatten sie größer wirken ließen. Hussain atmete laut aus.

„Nicht da …“, fing ich an.

„Hier lang.“ Hussain packte mich an der Schulter. Ich zuckte zusammen und folgte ihm.

Wir waren vielleicht fünfzig Meter weit gekommen, ehe das Geräusch von Schritten näher kam. Ein gellendes Pfeifen. Und dann noch eins.

Als Nächstes hörte ich ein Keuchen, ein Grunzen. Hussain fasste mit seiner Hand an den Hinterkopf. Dann hielt er sie vor sein Gesicht. Von dem Häutchen zwischen Daumen und Zeigefinger floss ein Rinnsal Blut sein Handgelenk hinunter und weiter unter die Manschette seines Hemdes. Er murmelte allerhand Flüche.

Von den Mauern um uns herum hallte Lachen und Geschrei wider. Noch ein paar weitere Steine pfiffen uns um die Ohren und schlitterten harmlos noch einen Meter auf der Erde entlang. Mit einem Rattern ging neben mir ein Stück Holz zu Boden, seine Kante so schartig wie Haifischzähne. Ich wollte es mit einem Tritt wegschaffen, doch mein rechter Fuß ließ mich im Stich. Mein Schuh kam mit der rauen Oberfläche in Kontakt, zitterte und zuckte ein wenig, doch das Holz bewegte sich kaum ein paar Zentimeter. Mein Atem kratzte mir in der Kehle, während ich sah, wie Hussain sich klein machte, das Kinn auf die Brust gedrückt. Zitternd fuhr er noch mal mit der Hand zu seinem Kopf und hielt sie dann hoch, um unseren Feinden zu zeigen, was ihr Schlag angerichtet hatte.

Wieder zu Hause ergriff mein Bruder die Initiative, meiner Mutter zu erklären, was vorgefallen war. Es waren die Kinder aus der Nachbarschaft. Die Hälfte von ihnen ging schon nicht mehr zur Schule, teils um zum Auskommen der Familie beizutragen. Das war ein Problem: Nur die Hälfte aller jemenitischen Jungen besuchten nach der Grundschule eine weiterführende Schule. Von den Mädchen war es sogar nur ein Drittel. Sie hatten also nun Zeit, und die Zeit brachten sie damit zu, Krawall zu machen. Meine Mutter hatte schon mit ihren Eltern gesprochen, aber geändert hatte sich nichts. Dummköpfe, die von nichts eine Ahnung hätten, seien das, erklärte mir meine Mutter. Aus der Art, wie sie es sagte, schloss ich, dass sie eigentlich zu bemitleiden waren. Mir sollte es weniger darum gehen, diesen Leuten aus dem Weg zu gehen, sondern um jeden Preis zu vermeiden, so wie sie zu enden.

Hussain konnte sagen, wer die Jungs waren, doch in jedem Namen, der ihm über die Lippen ging, hörte ich nur Mohammed, Mohammed, Mohammed. Er gab mir die Schuld. Was sollte ich also tun? Ich gab die Schuld meiner Mutter.

Nach dem Abendessen saß ich aufrecht im Bett, neben mir meine Mutter. Sie verteilte etwas Massageöl zwischen ihren Händen und knetete damit meine verknorzte und verknotete rechte Hand. Nach ein paar Minuten ging sie zu meinem Bein über. Das Ritual war vertraut, beruhigend, frustrierend. Wir beide verbrachten so jeden Abend. Nachdem meine Mutter ihr Abendgebet gesprochen hatte, kam sie zu mir ins Zimmer. Diese Physiotherapieeinheiten waren Fluch und Segen zugleich. Sie halfen, doch sie taten auch weh. Sie symbolisierten eine besondere Verbindung zwischen meiner Mutter und mir – und sorgten für Bitterkeit bei meinen Geschwistern.

Bevor meine Mutter mit dem schmerzhaften Dehnen und Bearbeiten meiner Glieder begann, fand ich den Einstieg.

„Warum kannst du mir denn nicht die Wahrheit sagen?“

Unwillkürlich zuckten ihre Augenlider, so als sei ihr ein Staubkörnchen oder eine Fliege ins Auge geraten. Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort, mein Bein zu massieren. Ihr Mund bildete ein nicht ganz rundes O, durch das sie ausatmete, während die Luft durch ihre Zähne pfiff.

„Es wird sich nie ändern, stimmts?“

„Es tut mir leid, Mohammed“, begann sie mit gleichmäßiger, nüchterner Stimme. „Ich dachte, es wäre zum Besten. Ich habe gehofft, dass …“ Ein Schluchzen unterbrach sie. Sie blickte hoch zur Decke und schüttelte den Kopf. Tränen fließen über ihr Gesicht, manche wurden vom Saum ihres Kopftuches aufgesogen.

Ich sei noch kein Jahr alt gewesen, erzählte sie. Sowohl sie als auch mein Vater waren bei der Arbeit, behandelten ihre Patienten. Ich war zu Hause mit Hussain, der noch keine sieben war, und Lial, die auf vier zuging. Mein Bruder merkte, dass mir etwas fehlte. Ich war ungewöhnlich ruhig. Aber das war doch gut, nicht wahr? Dass ich mal nicht heulte? Das ich einfach ganz still dalag? Bis meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam, war es geschehen. Ich hatte in der linken Gehirnhälfte einen kleinen Schlaganfall erlitten, der meine rechte Seite verkümmern ließ – Arm, Hand, Bein und Fuß.

Gleich danach hörte meine Mutter auf zu arbeiten. Sie gab sich selbst die Schuld. Wäre sie wie die anderen Mütter zu Hause geblieben, wäre das nie passiert. Ihr wäre aufgefallen, dass ich krank war, sie hätte mich sofort ins Krankenhaus gebracht. Aber statt um ihren eigenen Sohn kümmerte sie sich um Fremde.

Mir würde es nicht schon bald besser gehen, wie meine Mutter es mir versprochen hatte. Nur ein Wunder würde mich heilen. Also fingen wir an, Wundern hinterherzujagen.

Fuchsjagd

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