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Kapitel 3 Vernunft und Glaube

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Eine Darstellung des Königs des Jemen aus dem 16. Jahrhundert

Als ich in ein zweistelliges Alter kam, lernte ich eine enorm wichtige Lektion: Vernunft und Glaube passen nicht immer zusammen. Ich war beinahe zehn, als meine Mutter auf die Idee kam, dass der Glaube richten sollte, was Wissenschaft und Medizin nicht zustande brachten. Mir sollte es recht sein. Ich hatte schon ein Leben lang zu Gott gebetet und wartete noch auf meine Belohnung.

Eines Morgens, nachdem ich mich auf den Weg zur Schule gemacht hatte, ging meine Mutter, die Ärztin, zum Imam und kaufte ihm etwas Weihrauch ab. Als ich nach Hause kam, fasste sie mich am Arm und führte mich den Flur entlang durch das Wohnzimmer in eine kleine Diele. Sie legte einen Finger auf ihre Lippen – ich sollte still sein. In der Mitte des kleinen Raumes ragte aus einem Teller ein Räucherstäbchen empor. Meine Mutter bückte sich, um es anzuzünden, und kaum dass sie aufstand, stieg schon eine kleine Rauchsäule empor. Es roch wie in der Moschee.

„Mohammed“, flüsterte sie ernst und knapp, „du hast den bösen Blick abbekommen.“

So was hatte ich schon jahrelang gehört. Die islamische Kultur neigt deutlich zur rechten Hand. Es ist ein religiöses Gebot, jede gute und ehrbare Tätigkeit mit der rechten Hand auszuführen: Schreiben und Händeschütteln, Essen und Trinken. Im Umkehrschluss ist die linke Hand allein dem Umgang mit Ausscheidungen vorbehalten. Solche Regeln werden einst ihren guten Sinn gehabt haben: Wo man isst, soll man nicht hinsch… und so weiter. Aber hatten nicht Seife und andere Segnungen der Moderne diese Logik hinfällig gemacht? Nichtsdestotrotz, ich wollte rein sein. Also verrenkte ich mich, um mit meiner rechten Seite die Hand geben zu können; ich wusch die Finger meiner Linken, bis sie spröde wurden. Doch es war nicht genug. Mit meiner linken Hand zu essen, sei sie auch noch so sauber, galt als ein Gräuel, als eine Art Blasphemie, als Beleidigung Allahs. Es gab Leute, die an meinem Glauben zweifelten, weil ich mich „weigerte“, so zu essen wie von Gott befohlen. Fremde schrien mich an, ich solle aufhören, Gott zu lästern, und mit der richtigen, der rechten Hand essen. Immer wieder erklärte ich meine Notlage, doch fromme Männer und Frauen ignorierten meine körperlichen Einschränkungen und forderten von mir, Gott die angemessene Ehre zu erweisen. „Dich hat der böse Blick verflucht“, riefen sie, während meine Mutter mich fortzog und mir zuflüsterte, ich solle doch die Ignoranten ignorieren. Verflucht – jedenfalls bis jetzt …

„Dir wird es nur dann besser gehen“, sagte sie, „wenn du auf mich hörst und tust, was ich dir sage.“

Der Gedanke an eine Heilung versetzte mich in einen Rausch. „Natürlich“, antwortete ich, „ich werde alles tun.“

Die nächsten Minuten brachte ich damit zu, in einem engen Kreis um das brennende Räucherstäbchen herumzulaufen. Währenddessen rezitierte meine Mutter einige Passagen aus dem Koran. Ich weiß nicht, ob es an den ständigen engen Umrundungen lag, am Duft des Weihrauchs oder an meiner eigenen Schusseligkeit, jedenfalls kam ich ins Taumeln. Ehe ich mich fangen konnte, war das Räucherstäbchen auf den Boden gefallen und hatte die Fransen des Teppichs in Brand gesetzt. Das Feuer breitete sich der Länge des Teppichs nach im Flur aus und in der ohnehin rauchgeschwängerten Luft lag nun auch noch der Geruch verbrannter Wolle.

Meine Mutter blickte mich entgeistert an. „Was hast du nur angestellt?“

Sie klemmte sich den Koran unter den Arm und stampfte auf dem schwelenden Teppich herum. Ana asif, ana asif, entschuldigte ich mich immer wieder. Ich weiß nicht mehr, wer aufgebrachter war. Ich war immer noch behindert, und meine Mutter würde nun meinem Vater erklären müssen, wie ein wunderschöner und sehr teurer Teppich beschädigt worden war. Es schien, als hätte ich in der Tat den bösen Blick abbekommen.

Also beschloss ich, den Teufel auszutreiben, indem ich mich ganz und gar Gott hingab. Ich verpflichtete mich zum Studium des Korans – der Worte Allahs, wie sie der Engel Gabriel dem Propheten Mohammed diktiert hatte – sowie des Hadith, einer Sammlung der Worte und Taten des Propheten. Mein Vater ermutigte mich bei diesem Vorhaben. Jeden Freitagnachmittag nahm er mich (und meine Brüder) in die Moschee mit und abends beim Essen sprachen wir über die Predigt des Imams. Ich wollte wie mein Vater sein. Ich bewunderte die Geduld seiner Andacht, seine völlige Hingabe, und das umso mehr, weil er den größeren Teil seines Lebens kein religiöser Mensch gewesen war. Er muss ein ganz anderer Mensch gewesen sein – bis zu dem Tag, als ich beinahe gestorben wäre.

Als ich noch ein Kind war, trank mein Vater Alkohol. Das war haram, verboten. Obwohl der Verkauf von Schnaps im Jemen illegal war, besorgte er sich auf dem Schwarzmarkt Wodka und lud zu Partys ein. Währenddessen verkroch sich meine Mutter in der Küche, verletzt, verwirrt und unschlüssig, was sie tun sollte. An einem Wochenende – ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein – nahm mein Vater mich mit ins Hotel Sheba, eines der vielen Hotels, die westlichen Besuchern Alkohol ausschenkten. Die Polizei und die Imame drückten da ein Auge zu. Die Männer saßen am Rand des Swimmingpools und das Gespräch wurde zunehmend mit ausladenden Gesten und in Grunzlauten geführt.

Ich sah zu, wie sich das Sonnenlicht im kristallklaren Wasser fing, und fragte meinen Vater, ob ich hineindürfe. Ich konnte nicht schwimmen, hatte aber Hussain und Lial dabei beobachtet und dachte, ich könne ja auf dem Rücken liegen oder am seichten Ende des Beckens etwas herumplanschen. Ich würde schon aufpassen, versprach ich. Ich tauchte die Zehen ins Wasser, dann meine Füße, dann Waden und Beine. Als ich ganz vom Wasser umgeben war, schwammen alle meine Hemmungen davon. Es war, als hätte ich mein Wunder gefunden. Im Wasser fühlte ich mich leicht und unbeschwert. Ich konnte mich bewegen, wie es auf dem festen Boden unmöglich war. So muss sich das Leben für alle Welt ständig anfühlen, stellte ich mir vor, schwerelos, schwimmend.

Mit meiner guten Hand hielt ich mich an den kühlen Kacheln des Beckenrandes fest und ließ mir das Wasser um Lippen, Nase, Augen, Kopf spülen. Dann verlor ich den Halt, trieb fort vom Rand. Mit meinem guten Arm paddelte ich herum, was mich vom sicheren Bereich aber nur noch weiter entfernte. Ich schrie und schrie, bis das Wasser meine Stimme ertränkte. In der dröhnenden Stille hörte ich die Stimme meines Vaters: „Helft ihm! Helft ihm! Mein Sohn! Er kann nicht schwimmen!“ Dann fühlte ich, wie ich nach unten sank, ganz langsam. Und ganz langsam verloren sich die Geräusche der Oberfläche in einer Explosion von Luftblasen.

Als ich die Augen öffnete, lag ich auf der Terrasse. Auf meine Brust drückte jemand mit den Händen und ich spuckte einiges an Wasser aus. Ich keuchte und röchelte. Mein Hinterkopf juckte innen wie außen. Meine Augen brannten und es rann mir das Gesicht herunter – ob Wasser oder Tränen, ich weiß es nicht. Ich sah die Umrisse meines Vaters bald deutlich, bald wieder verschwommen.

Soweit ich weiß, hat mein Vater seitdem nie wieder Alkohol getrunken. Er war schon immer ein ernsthafter Mann, und als Abstinenzler wurde er es umso mehr. Nach dem Zwischenfall am Pool neigte er eher zum Schimpfen als zum Lachen, schenkte der Sünde mehr Beachtung als der Schönheit. Er nahm den Glauben ernster und in seinen Ansichten wurde er traditioneller.

Abends holte er seinen Koran hervor und erzählte mir von meinem Großvater Hakim, einem Richter. Im Jemen war das Recht im Wesentlichen islamisches Recht, die Scharia. Wörtlich heißt das „der rechte Weg“ oder „Wegweiser“. Und obwohl Fundamentalisten die Gesetze der Scharia so wörtlich verstanden, wie sie vor Jahrhunderten formuliert worden waren, begriffen die meisten Leute, die ich kannte, dass das Gesetz sich mit der Zeit weiterentwickeln musste.

Diese Auffassung teilten viele Muslime, was dabei half, dass wir jahrelang im Jemen in Frieden lebten, auch wenn es Unterschiede gab hinsichtlich gewisser Glaubenssätze und wer als rechtmäßiger Nachfolger des Propheten zu gelten habe. An der Frage der Nachfolge hatten sich die Anhänger des Propheten früh aufgespalten. Manche waren der Ansicht, der Prophet habe seinen Vetter und Schwiegersohn Ali zum rechtmäßigen Erben bestimmt. Das sind die Schiat Ali, die Gefolgsleute Alis – kurz Schiiten. Zu dieser Konfession gehört auch die Familie Al Samawi, genauer zum Zweig der Zaiditen, benannt nach Alis Urenkel Zaid.

Die Sunniten hingegen glaubten nicht, dass die Kalifen, die religiösen Führer, aus der Familie des Propheten stammen mussten. Sie glaubten, dass das Volk seine religiösen Führer bestimmen sollte.

Im nördlichen Jemen, wo wir lebten, bilden die Zaiditen die Mehrheit, doch in vielerlei Hinsicht galt das mehrheitlich sunnitische Saudi-Arabien als die geistige Urheimat des Islams. Um als gute Muslime zu gelten, war es unsere Pflicht, wenn wir denn konnten, die Pilgerfahrt nach Mekka zu absolvieren, den Hadsch – eine religiöse Pflicht von solchem Gewicht, dass sie eine der fünf Säulen des Islams bildet. Ein weiterer heiliger Ort unserer Religion liegt ebenfalls in Saudi-Arabien: Medina, wohin Mohammed mit seinen Gefolgsleuten nach der Vertreibung aus Mekka gezogen war und wo er begraben wurde.

Weil die Stätten und Denkmäler des Islams in Saudi-Arabien liegen, verfügt das Königreich in unserer Region über beträchtlichen Einfluss, politisch wie geistig. Nicht dass diese Sphären sauber getrennt werden konnten. Saudi-Arabien galt als Vorreiter islamistischen Denkens, als Land, in dem das Bedürfnis, unseren Glauben und unsere Kultur von westlichen und modernen Einflüssen rein zu halten, besonders stark war. Mir wurde in der Schule beigebracht, dass Saudi-Arabien die Ashaqiqah Alkoubra des Jemen sei – die große Schwester, die ihren weniger begünstigten Geschwistern unter die Arme greifen wolle.

Diese Unterstützung breitete sich in unseren Schulen und Moscheen aus, von denen viele mit dem Geld der Saudis gebaut wurden. Auch auf unsere Lehrpläne übten sie starken Einfluss aus. Schon früh wurde mir beigebracht, dass die drei Flaggen, die über unserer Schule wehten – die des Jemen, des Irak und Saudi-Arabiens –, zu ehren waren und niemals den Boden berühren durften. Ich lernte, Saddam Hussein sei ein Führer, der sich bemühte, seinem Volk – unseren irakischen Brüdern und Schwestern – ein besseres Leben zu ermöglichen. Und freilich achtete unsere große Schwester Saudi-Arabien darauf, dass uns nichts zustieß. Der Jemen mag arm gewesen sein, aber es gab andere, die auf uns aufpassten. Wir waren eine muslimische Familie.

Vaterland, Religion, Erbe bildeten eine Einheit, verbunden und gefestigt durch den Koran. Ich unterteilte meinen Glauben in Grundprinzipien:

Islam, das „göttliche Gesetz“.

Iman, der „Glaube“.

Ihsan, die „Ethik“ und der „sittliche Charakter“.

Doch immer wieder kam ich auf ein weiteres Grundprinzip zurück: Rahmah, die Barmherzigkeit. Wie Allah im Koran spricht: „Und dich [O Mohammed] gesendet haben wir / Nur aus Erbarmung für die Welt.“ (21:107)1 Oder wie der Prophet in einem Hadith sagte: „Den Barmherzigen ist Allah barmherzig. Seid barmherzig gegenüber denen, die auf Erden sind, dann sind auch die im Himmel euch gegenüber barmherzig.“ (Abû Dâwûd, Adab, 58)

In der Schule sitzend oder in der Moschee kniend, fragte ich mich, ob meine Peiniger diese Worte vernommen hatten. Und wenn ja, warum hatten sie sie dann nicht verstanden? Warum übten sie nicht Barmherzigkeit, wie Gott es ihnen befohlen hatte?

Auf der Suche nach einer Antwort stürzte ich mich in meine religiösen Studien. An jedem Tag jedes Schuljahres war eine Unterrichtsstunde der Scharia gewidmet. Uns wurde beigebracht, dass das islamische Recht zwei Quellen entspringt: göttlichem Ratschluss und menschlicher Vernunft. Die Scharia entspricht hauptsächlich ersterer, während Fiqh im Wesentlichen aus letzterer hervorgeht. Zusammen helfen die beiden uns, unsere Lebensführung auszurichten. Wir können die Regeln nicht einfach als geschrieben hinnehmen; wir müssen unsere unabhängige Vernunft gebrauchen und unseren Geist und unseren Verstand so weitgehend einsetzen wie nur möglich. Mit anderen Worten: Den Kindern, die mich quälten, hatte man vielleicht Rahmah beigebracht, aber es war an ihrem Verstand, die richtigen Entscheidungen zu treffen und sich entsprechend zu verhalten. Ich versuchte, sie nicht zu verurteilen, sie nicht dafür zu hassen.

Aber Vergebung und Barmherzigkeit waren nicht unbegrenzt.

Ich war an der Schwelle zum Teenageralter, als unser Lehrer zu einem Vortrag ans Pult trat: „Wie die Juden versuchten, den Propheten Mohammed zu bekämpfen und zu töten“. Jeden Teil der Geschichte legte der Lehrer sorgfältig dar: Wie die Juden Mohammed durch die Straßen gefolgt waren, ihm Schmähungen zuriefen und ihn mit Steinen bewarfen, bis er blutete. Und wie Steine verletzten mich die Worte, die ich da hörte. Die Juden hatten Mohammed gequält, sie töteten ihn, ehe er einen männlichen Nachkommen zeugen konnte.

Ein anderer Lehrer gab uns eine Lektion zum Thema „Wie die Juden den Propheten Mohammed verrieten“. Sie hatten versprochen, ihm zu helfen, während er in Mekka weilte, doch hinter seinem Rücken hatten sie sich verschworen, ihn umzubringen. Folglich, sagte der Lehrer, sollten wir keinem Juden trauen. Das Wort eines Juden sei nichts wert. Als die Stunde endete, lag Stille über dem Klassenzimmer. „Die Juden sind Füchse“, fügte der Lehrer noch hinzu. „Selbst wenn sie den Anschein der Güte erwecken, so führen sie doch immer etwas im Schilde.“

Ich hasste die Juden. Hasste sie, ohne zu fragen warum.

Zu Hause und in der Moschee bezichtigten unsere religiösen Führer sie: Juden würden Schweinefleisch essen. Juden würden ständig Unzucht treiben. Juden würden Alkohol trinken. Die Juden raubten das Wort Allahs und verdrehten es. Der Imam zitierte einen Hadith: „Die Stunde wird nicht eintreten, bis die Muslime gegen die Juden solange kämpfen und sie töten und sich der Jude hinter einem Stein und einem Baum verstecken wird. Da sagt der Stein oder der Baum: ‚O Muslim! O Diener Allahs! Dieser ist ein Jude hinter mir, so komm und töte ihn!‘“2

Ich wälzte den Koran und er schien dasselbe zu sagen: „Weil sie nun brachen ihren Bund, / Fluchten wir ihnen und verstockten ihre Herzen. / Nun rücken sie die Worte / Der Schrift von ihren Stellen, und vergaßen / Das beste Teil von dem des sie gemahnet worden, / Und unaufhörlich nimmst du wahr Betrug von ihnen, / Nur wenige ausgenommen. Drum / Entzieh dich ihnen und entschlag! / Denn Gott liebt die schönhandelnden.“ (5:13)3 Das war die Bestätigung. Genau so hatte es Allah gesagt. Nachprüfen konnte ich diese Charakterisierung nicht, denn ich kannte keine Juden. Aber die Worte waren Gesetz.

Ich war kein Richter, nicht von Amts wegen, wie mein Großvater, doch die Beweislage schien klar. Und bald sollte sie sich als erdrückend erweisen.


Die Sonne eines späten Septembertags drang an den Rändern geschlossener Jalousien ins Klassenzimmer und bildete eine Pfütze auf dem Fußboden. Abdelsalam, unser Lehrer, war noch nicht im Raum. Es war das letzte Jahr der Grundschulzeit und mit 13 und 14 Jahren waren wir herangereift. Wir warteten still, niemand mehr war abgestellt, um die Namen derjenigen zu notieren, die sich danebenbenahmen. Ich schaute hinüber zu Ahmed, der einst mein schärfster Rivale im Unterricht gewesen war. Doch der Umstand, dass wir beide Väter hatten, die in der Schule Leistung und zu Hause Ruhe verlangten, brachte uns einander näher. Ich nahm mir meine Aufzeichnungen zu einem Thema vor, das wir nächste Woche in Physik behandeln würden – lieber früher als später, dachte ich mir.

Gerade war ich mit einem Abschnitt über potenzielle Energie zu Ende, als unser Lehrer ins Klassenzimmer trat. Er war ein strenger Mann, in dessen Gesicht man seltener ein Lächeln sah als am Himmel einen Vollmond. Heute aber wirkte er noch grimmiger als sonst. Sein Gesicht hatte etwas von einem Greifvogel, eine Wirkung, die durch seine buschigen Augenbrauen, die sich V-förmig über seiner Nase trafen, noch verstärkt wurde. Ohne ein Wort zu sagen, stand er mit bebenden Fäusten vor der Klasse.

„Hört alle her“, sagte er und einen Augenblick lang schien seine Stimme zu stocken. „Da gibt es etwas, was ihr wissen müsst. Etwas, was ihr sehen müsst. Wenn ihr nach Hause geht, schaltet den Fernseher ein. Lernt daraus.“

Auf dem Bildschirm an jenem Abend war zu sehen – und jeder Sender strahlte es aus –, wie zwei Gestalten gegen eine Mauer gedrückt standen, hinter irgendeinem Vorsprung Schutz suchend. Es war ein statisches, grobkörniges Bild, es dominierten Weiß und Blau. Die Lautstärke war zu niedrig eingestellt, als dass ich etwas hören konnte, aber die Bildunterschrift ließ keine Fragen offen: „Ausschreitungen im Gazastreifen: Israelische Soldaten erschießen palästinensischen Jungen“. Ich schaute näher hin und sah, dass es sich bei den zwei Personen um einen Jungen handelte, der etwas jünger sein musste als ich, und einen Mann. Der Junge weinte, sein Mund stand offen vor Angst und Schrecken, während der Mann (es war, wie sich später herausstellte, sein Vater) ihn am Arm packte, versuchte, das Kind gegen die Mauer zu drücken und damit vor Schlimmerem zu bewahren.

Am nächsten Morgen, noch vor Unterrichtsbeginn, stand Abdelsalam vor uns. Immer noch bebte er, immer noch war er aufgewühlt.

„Das machen sie also“, sagte er. „Die Unschuldigen ermorden sie. Was hatte der Junge getan? Warum musste er sterben? Weil er Palästinenser ist? Weil er Muslim ist? Weil die Juden keine Gnade kennen? Ja. Ja. Ja.“

Verstohlen blickte ich zu Ahmed hinüber. Mit großen Augen und halb herabhängendem Mund saß er da, schüttelte langsam, kaum vernehmlich den Kopf, wie um unser aller Entsetzen zu bestätigen.

Dieser Junge – das hätten wir sein können.

Schon seit Jahren hatte ich gehört, dass die Juden in Israel wahllos Kinder erschießen würden, wenn es denn ihren Zielen diente. Nur zwei Tage zuvor, am 28. September 2000, hatte die zweite Intifada begonnen. Mit meinem Vater hatte ich zugeschaut, wie der israelische Premierminister Ariel Scharon den Tempelberg in der Jerusalemer Altstadt besuchte – eine klare Provokation, handelte es sich doch um eine der heiligsten Stätten des Islams. Was hatte sich dieser widerliche Mann dabei gedacht, in einer ohnehin schon angespannten Lage diese Stätte zu besuchen? So etwas konnte nur als Beleidigung gemeint sein. Es folgten Proteste, dann Ausschreitungen.

Nun saß ich zusammen mit meinen Klassenkameraden und rang mit den Tränen. Ich verdeckte mein Gesicht, denn man hatte mir beigebracht, nicht zu weinen. Weinen war etwas für Mädchen. Aber ein kurzer Seitenblick genügte, um zu sehen, dass wir alle versuchten, unsere Tränen hinter unseren Schulbüchern zu verbergen.

Bald sollte ich mehr über den Jungen erfahren. Er hieß Muhammad al-Durrah und war nur zwei Jahre älter als ich. Wie ich war er ein Autonarr. An jenem Tag war er mit seinem Vater unterwegs, weil dieser gerade seinen alten Fiat, Baujahr 1974, zur Versteigerung gebracht hatte. Muhammad sollte nicht mehr nach Hause kommen.

Als ich nachmittags von der Schule kam, begrüßte meine Mutter mich schon an der Haustür. Lange umarmte sie mich und fuhr mir mit dem Handrücken über die Schläfen und durchs Haar. Am Abend saß mein Vater wie gewöhnlich vor dem Fernseher, doch er versammelte uns um sich herum und sein Gesichtsausdruck changierte zwischen Entsetzen und Empörung.

Wo immer man in den nächsten Tagen auch hinkam, hielten die Leute inne und sprachen über Muhammad al-Durrah. Die Kreuzung, an der er umgekommen war, hieß bei uns al-Shohada, die Kreuzung der Märtyrer. Der Vater, Jamal, war ein fleißiger Schreiner, ein guter, anständiger Mann. Mit den Demonstrationen und Ausschreitungen hatten sie nichts zu tun; sie kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Sie waren die Opfer. Wenn es dort passieren konnte, dann auch bei uns. Die Hunde.

Ein paar Tage später in der Schule: Vor der Klasse standen drei Vertreter der Muslimbruderschaft. Sie hatten uns etwas zu sagen. Wie wir wüssten, sei der Jemen das ärmste Land der Region, doch sei es an vorderster Stelle, wenn es darum ging, unseren muslimischen Brüdern in Palästina zu helfen. Die Einwohner der Emirate, die Saudis, die Kuwaiter, die Katarer – alle hatten sie weit mehr Geld, doch waren sie damit nicht so großzügig wie wir.

Im Jahr 1928 in Ägypten von einigen sunnitischen Intellektuellen gegründet, war die Muslimbruderschaft zunächst eine Geheimgesellschaft, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, die islamische Welt wieder in die Hände der Muslime zu bringen. Der erste Schritt dazu war, in Ägypten eine islamische Regierung einzusetzen und die Verbindungen zum Westen zu kappen, denn das seien verderbliche, unmoralische Einflüsse, auf die sämtliche Probleme der Welt zurückgingen. Doch zur fraglichen Zeit stand Ägypten noch unter britischer Vorherrschaft, weshalb die Muslimbrüder zu einem Dasein im Untergrund verurteilt waren. Viele von ihnen flohen in benachbarte Länder, wo sie ihre Botschaft über Hunderte geheimer Ortsgruppen und Abspaltungen verbreiteten. Eine dieser Gruppen ist die militant antiisraelische Hamas, die 1978 gegründet wurde.

Als sunnitische Glaubensgenossen konnten sich die Muslimbrüder der (auch finanziellen) Unterstützung Saudi-Arabiens sicher sein. Folglich wurden sie zu einer mächtigen Organisation, die in der ganzen Region islamistische Gedanken verbreitete. Deshalb begrüßten wir ihre Abgesandten in unserer Schule auch als Vertreter einer ehrlichen und ehrwürdigen Sache, ja als Quelle des Stolzes – obwohl es sich bei ihnen um Sunniten handelte und wir zaiditische Schiiten waren.

In gewisser Weise war das eine übersichtliche Zeit im Jemen. Obwohl die Sunniten vorrangig im Süden lebten und die Schiiten im Norden, kehrten die meisten Leute diesen historischen Konflikt unter den gemeinsamen Gebetsteppich. Bei uns verstanden sich alle schlicht als Muslime. So etwas wie eine schiitische Moschee oder ein sunnitisches Geschäft – das gab es alles nicht. Wir alle aßen zusammen, sprachen miteinander und folgten gemeinsam Allah. Wir alle beteten fünfmal täglich, fasteten im Ramadan und lernten in der Schule den Koran. Die Religion vereinte uns, wie es auch Gruppen vom Schlage der Muslimbruderschaft taten. Selbst wenn es Unterschiede in der Doktrin gab: Die Muslimbrüder hatten sich der wohltätigen Arbeit zugunsten von Muslimen in der ganzen Region verschrieben.

Als die Vertreter der Bruderschaft nun vor uns im Klassenzimmer standen, erklärten sie uns, dass der Kampf gegen den Feind nur eine Art des Dschihad sei. Geld zu spenden sei eine andere. Die Kämpfer zu unterstützen sei Dschihad. Wir könnten vielleicht nicht um des Wortes Gottes willen zur Waffe greifen, aber mit Geld könnten wir doch helfen.

Ich griff in meine Hosentasche. Gerade hatte ich das Essensgeld für die Woche bekommen. Als das Körbchen an meinem Platz ankam, legte ich alles hinein. Ich fühlte mich dazu verpflichtet; nein, ich wollte es. Das hätte ja ich sein können. Man musste die Juden aufhalten. Israel durfte nicht siegen.

Als ich an jenem Nachmittag nach Hause kam, hatte ich Hunger. Als ich das meiner Mutter sagte, war sie leicht verwirrt, sie hatte mir doch Essensgeld gegeben. Also erklärte ich ihr, warum ich nicht zu Mittag gegessen hatte. Sie umarmte mich und strahlte dabei vor Glück. Als mein Vater nach Hause kam, hörte ich die beiden irgendwo reden. Einen Augenblick später kamen sie in mein Zimmer. Ich saß da und blickte sie ängstlich an. Mein Vater kam nie in mein Zimmer; allenfalls wurden wir in sein Arbeitszimmer bestellt, das sich in einem anderen Geschoss befand.

„Mohammed, ich habe gehört, was du getan hast“, sagte er und nickte mit dem Kopf. Er stand vor mir, seine Augen fixierten meine.

„Du sollst das hier haben“, fügte meine Mutter hinzu, indem sie mir ein kleines Bündel Geldscheine überreichte. „Weil du gegeben hast, sollst du nicht verzichten müssen.“

„Das Doppelte“, sagte mein Vater. „Er hat wie ein Mann gehandelt und wie ein Mann soll er belohnt werden.“ Sprachs und verließ mein Zimmer.

Meine Mutter und ich tauschten ein Lächeln aus.

Nachts lag ich im Bett, nachdem ich das Licht gelöscht hatte, und stellte mir vor, wie ich durch die vom Krieg verheerten Straßen Jerusalems zog. Ich trug ein Maschinengewehr. Um mich herum Qualm, es flogen Funken, Gewehrsalven. Ich war wie eine Gestalt aus dem Videospiel Deus Ex.

„Keine Gnade zeigen“, flüsterte ich mir zu. „Nur keine Gnade. Gib ihnen, was sie verdient haben.“

Ich schlief ein, tief und ruhig.

Der Tod Muhammad al-Durrahs hat viele Menschen in der arabischen Welt mobilisiert. Noch Jahre später lasen wir am Jahrestag seines Todes Schlagzeilen und sahen Fernsehberichte, alle mit dem Tenor: „Heute wäre Muhammad al-Durrah 13 Jahre alt geworden“; „Heute wäre Muhammad al-Durrah 14 Jahre alt geworden“ … Wie Beton verfestigte und verhärtete sich der Hass mit der Zeit nur.

Jahrelang fantasierte ich über dieses Thema. Aus den verschiedenen Büchern, die ich gelesen hatte, fügte ich ein Bild zusammen: Kriegergeschichten, Heldenepen, Märtyrertragödien. Würde ich vor dem Feind als Verkünder des Glaubens oder als Eroberer auftreten? Wäre ich einfacher Soldat oder Hauptmann? Wäre ich stark oder stärker? Würde ich ihn schlagen oder ihm Gnade erweisen? Wie heißt es doch in einem Hadith:

„Wer einem Gläubigen eine Sorge von den Sorgen dieser Welt nimmt, dem wird Allah eine Sorge von den Sorgen des Tages der Auferstehung nehmen. Wer es einem Menschen in Bedrängnis erleichtert, dem wird es Allah in dieser Welt und im Jenseits erleichtern. Wer einen Moslim schützt, den wird Allah schützen, in dieser Welt und im Jenseits. Allah ist dem Knecht Beistand, so, wie der Knecht seinem Bruder Beistand ist.“4


Als ich in der weiterführenden Schule war, begann ich, meinem Vater im Krankenhaus zu helfen. Ich unterstützte ihn bei der Terminplanung und wo sonst noch Not am Mann war. Ich fühlte mich nützlich und sagte mir, es sei eine sinnvolle praktische Erfahrung, auch wenn es manchmal stundenlang nichts zu tun gab. Eines Tages – ich wartete, bis mein Vater Feierabend machen konnte – ging ich gerade den Flur entlang, als ich zwei Männer in dunklen westlichen Anzügen mit weißen Hemden sah. Beide hatten ein kleines, scheibenförmiges Etwas auf dem Kopf, und zu beiden Seiten ihrer bärtigen Gesichter hing je eine lange Haarlocke hinab.

Juden.

Ich starrte sie an.

Die Füchse kommen, um sich der Kranken und Schwachen zu bemächtigen.

Einer der beiden Männer hatte den Arm um die Schulter des anderen gelegt. Sein Adamsapfel bewegte sich auf und ab. Nur sieben kleine Wirbel, die seinen Kopf mit seinem Körper verbanden. Eine Handvoll kleiner, dünner Knochen. Ich ballte meine linke Hand zur Faust. Sollte ich sie frontal angreifen und niederstechen? Doch anstatt mir das nächstbeste Skalpell zu schnappen, war ich wie gelähmt. Meine Zunge klebte an meinem Gaumen, meine Kehle schnürte sich mir zu, meine Arme erstarrten. Hilflos sah ich zu, wie sie um die Ecke bogen. Und als ich es endlich geschafft hatte, meine Füße vom Boden zu lösen, und ihnen folgen wollte, waren sie weg. Verschwunden, wie von Zauberhand.

Ich war in höchster Alarmbereitschaft. Ich ging in das Sprechzimmer meines Vaters und fiel in einen Stuhl. Wer hatte die denn ins Militärkrankenhaus gelassen? Würde auch nur einer unserer Ärzte sie behandeln? Und, wichtiger noch, hatte ich meine Gelegenheit versäumt, mich zu beweisen? Ich hatte meine Chance gehabt, getan hatte ich nichts.

Ich wusste, dass im Jemen noch ein paar Hundert Juden lebten, irgendwo, versteckt. Aber wo konnte ich sie finden?

1 Übersetzung von Friedrich Rückert

2 Sahīh Muslim, Kapitel 53/Hadithnr. 5203

3 Übersetzung von Friedrich Rückert

4 An-Nawawi: Vierzig Hadithe, Nr. 36, http://www.ansar.de/nawawi.htm# hadith36

Fuchsjagd

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