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Kapitel 4 Und noch mal von vorn …

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Arabischer Reiter aus dem Jemen, ca. 1787

Während ich immer detailverliebter in Rachefantasien schwelgte, verliebte sich mein Bruder Hussain in eine Frau, die halb Ägypterin, halb Jemenitin war. Zwar war schiitisch oder sunnitisch keine Unterscheidung, die in unserem Alltag eine Rolle spielte, doch meine Eltern legten durchaus Wert darauf, die zaiditische Stammlinie fortzuführen – wohl auch, weil sie selbst eine konfessionell gemischte Ehe geschlossen hatten.

Meine Mutter und mein Vater waren ein Ehepaar, das mit allen gesellschaftlichen und traditionellen Konventionen gebrochen hatte. Die Al Samawis waren eine ehrwürdige Familie, die ihren Stammbaum bis zum Propheten Mohammed zurückverfolgen konnte. Über Generationen waren Angehörige der Familie Richter, Juristen und Ingenieure gewesen. Sie waren hochgebildet, hochgeachtet und hochgradig eigen, wenn es um die Wahl von Ehepartnern ging. Mein Vater – ein hervorragender Schüler und fest entschlossen, Arzt zu werden – erfüllte die Anforderungen so mancher jemenitischen Mutter, die eine gute Partie für ihre Tochter suchte. Bevor er aber verheiratet werden konnte, verließ er das Land, um in der Sowjetunion Medizin zu studieren. Seiner Mutter gab das etwas mehr Zeit, um nach einer geeigneten zaiditischen Braut aus dem Norden zu suchen.

Zu dieser Zeit war der Jemen in zwei Staaten geteilt: im Norden die Jemenitische Arabische Republik und im Süden die Demokratische Volksrepublik Jemen. Diese Teilung währte zwar nur verhältnismäßig kurz, hatte aber einen Hintergrund, der über Tausende von Jahren zurückreicht. Seit 5000 v. Chr. bevölkern Menschen die Küstenebenen und das gebirgige Binnenland im Südwesten der Arabischen Halbinsel, und seitdem führte ein Handelsweg zwischen den Kulturen Europas und Asiens durch den Jemen. Zugang zu und Kontrolle über diese Route waren folglich für viele Mächte von Bedeutung. Die Osmanen verstanden das, und als der osmanische Sultan seine Herrschaft über die Arabische Halbinsel und damit über Mekka und Medina ausdehnte, wurde er nicht nur zum Schutzherrn der heiligen Stätten, sondern ihm fiel auch der Schlüssel zu diesem Handelsweg zwischen Europa und Indien in die Hand. Doch seine Armee drang nicht bis nach Aden vor – ein Umstand, der schließlich zum Abstieg seines Reiches mit beitragen sollte.

Die Osmanen konnten den Handel eine Zeit lang kontrollieren, doch im fünfzehnten Jahrhundert begannen die Europäer, etwas gegen die damit verbundenen Beschränkungen zu unternehmen. 1497 machte sich der portugiesische Entdecker Vasco da Gama auf die Suche nach einem neuen Seeweg nach Indien und stellte dabei fest, dass die Portugiesen das Osmanische Reich insgesamt links liegen lassen könnten, wenn sie – neben Maskat im Oman und der indischen Insel Diu – auch Aden unter ihre Kontrolle brächten. Während des gesamten sechzehnten Jahrhunderts kämpften Portugiesen und Osmanen um die Vorherrschaft in der Region und die Kontrolle der Seewege. Auch wenn keine Einigkeit über die genauen Daten besteht, konnten die Portugiesen zumindest Teile Adens erobern. Damit bedrohten sie die Mittlerrolle der Osmanen im Gewürzhandel.

1548 konnten die Osmanen die Rückeroberung der verlorenen Gebiete feiern, doch war ihr Reich damit nicht gerettet. Die nachlassende Bedeutung ihrer Handelswege und der damit einhergehende Verlust an Macht und Reichtum läuteten den allmählichen Abstieg des Reiches ein. Eine neue Großmacht konnte verstärkt auf den Plan treten: die Briten. Die Machtverschiebung zeigte sich in aller Deutlichkeit 1839, als britische Truppen sich im südlichen Jemen festsetzen konnten und die Herrschaft über Aden übernahmen. Nach 1869, als der Sueskanal eröffnet wurde, konnten die Briten ihre Herrschaft noch festigen. Zwar hatte die ägyptische Regierung den Kanal im Verbund mit französischen Investoren erbaut, doch konnten die Briten die finanzielle Notlage Ägyptens ausnutzen, um fast die Hälfte der Anteile am Kanal zu erwerben. An ihm sollte bald kein Handel zwischen dem Indischen Ozean und dem Mittelmeerraum vorbeiführen.

Doch damit war es nicht getan. Denn um von einem Meer ins andere zu gelangen, mussten Schiffe nicht nur den Sueskanal durchqueren, sondern auch die Meerenge von Bab al-Mandab, die zwischen Ostafrika und der Arabischen Halbinsel – genauer dem Jemen – verläuft. Für eine vollständige Kontrolle des Sueshandelswegs mussten die Briten auch ihre Vorherrschaft um Aden herum ausbauen, weshalb sie 1874 entlang der Südküste das Protektorat Aden gründeten.

1922 hörte das Osmanische Reich, einst eines der größten der Weltgeschichte, auf zu bestehen. Das war ein schwerer Einschnitt für die gesamte arabische Welt und besonders für die sunnitischen Muslime. Denn es handelte sich nicht nur um einen politischen Zusammenbruch, sondern er betraf auch die religiöse Vormachtstellung der Sunniten. Der nördliche Teil des Jemen wurde als das schiitische Mutawakkilitische Königreich Jemen unabhängig, während der Süden unter britischer Herrschaft blieb.

Nord und Süd wuchsen also nebeneinander heran, waren aber so verschieden, wie Geschwister nur sein können. Im wirtschaftlich höher entwickelten Norden lebten mehr Menschen, während der Süden – zumal jenseits der Hafenstadt Aden – dünn besiedelt und wenig zugänglich war. Nicht zu vergessen, dass der Norden einen hohen schiitischen Bevölkerungsanteil hatte, während die Menschen im Süden größtenteils Sunniten waren.

Die Familie meines Vaters, die Al Samawis, stammte aus dem Norden und war durch Bildung und harte Arbeit zu Wohlstand gekommen. Die Frau, die er heiraten sollte, meine Mutter, kam aus dem Süden. Anders als mein Vater wuchs sie in großer Armut auf. Jeden Tag mussten sie und ihre vier Brüder aufs Neue sehen, wo ihre nächste Mahlzeit herkommen sollte. Doch trotz dieser drückenden Armut genoss meine Mutter im Protektorat Aden und anschließend in der Volksrepublik Jemen mehr Freiheit, als sie im Norden gehabt hätte. Das islamische Gesetz wurde weniger streng gehandhabt, also kleidete meine Mutter sich westlich und trug die Haare offen. Sie ging zur Schule, und auch wenn ihre Eltern ihr keine private Ausbildung bezahlen konnten, musste sie nicht vorzeitig die Schule verlassen, um zu heiraten. Stattdessen blieb es ihr überlassen, ihre Verantwortlichkeiten zu Hause mit ihren beruflichen Träumen in Einklang zu bringen – für ihre Geschwister zu sorgen und zugleich für die Schule zu lernen.

Als meine Mutter alt genug war, strafte sie alle Wahrscheinlichkeit und soziale Erwartungen Lügen und verließ das Land in Richtung Ukraine, um sich in der damals sowjetischen Teilrepublik zur Kinder- und Frauenärztin ausbilden zu lassen. Die Freiheit genießend, tun und lassen zu können, was sie wollte, besuchte sie auch Moskau, wo sie einen attraktiven jungen Urologen kennenlernte. Die Bekanntschaft blieb nicht auf eine Postkarte und ein paar schöne Erinnerungen beschränkt. Es begann ein Werben, auf das ein Heiratsantrag folgte. Darauf wiederum folgte Ärger zu Hause – entstammte meine Mutter doch nicht dem Clan der Al Samawis! Aus dem Norden war sie auch nicht! Nicht mal eine zaiditische Schiitin war sie! Wusste mein Vater denn nicht, was das bedeutete?

Der Zaiditismus ist der älteste Zweig des schiitischen Islams und geht bis auf die Mitte des achten Jahrhunderts zurück. An seinen Ursprüngen liegt die Suche nach Gerechtigkeit und Moral sowie die Infragestellung von Führern und Gesetzen. Der Zaiditismus ist ein sozial engagierter Glaube. Schon früh wurde mir beigebracht, Zaiditen seien „nicht imstande, ihre eigenen Häuser zu bewohnen“, drängte es sie doch hinaus, um es mit der Ungerechtigkeit aufzunehmen. Das gehörte tatsächlich zum Erbgut der Al Samawis. Und doch, als mein Vater mit meiner Mutter aus der Sowjetunion nach Hause kam, sah es ganz danach aus, als könne sie nicht in deren Haus wohnen.

Die Familie meines Vaters war alles andere als begeistert, eine junge Frau aus dem Süden bei sich willkommen zu heißen, die dunkelhäutiger war und nichts in die Ehe einbringen würde. Man beschwor ihn, es sich doch anders zu überlegen. Sie hackten auf meiner Mutter herum, doch sie hatte schon weitaus Schlimmeres überstanden, und allmählich ließen sie ab. Als meine Mutter schwanger wurde, mussten sich die Eltern meines Vaters an den Gedanken gewöhnen, dass sie ihre Enkelkinder zur Welt bringen würde. Das Eis schmolz, aber wirklich warm wurde die Beziehung nie. Durch all die Jahre angespannter Familienfeiern und unüberhörbar geflüsterter Mäkeleien hindurch hielt mein Vater ihr die Treue. Nach islamischem Recht hätte er bis zu vier Frauen heiraten dürfen, doch er entschied sich nur für meine Mutter und damit für uns.

Diese Selbstverpflichtung zur Monogamie war keine Selbstverständlichkeit. Unter meinen Mitschülern waren zwei Brüder, Hadi und Hatem. Ähnlich an den beiden waren nur die Namen. Sie sahen sich nicht im Geringsten ähnlich, waren keine Zwillinge, doch sie gingen in dieselbe Klasse, lagen nur sechs Monate auseinander. Zuerst dachte ich mir nichts dabei. Sie nannten sich Brüder, also mussten sie wohl Brüder sein. Aber als ich einmal nachrechnete, wollte mir die Sache nicht einleuchten. Nach einigem Nachdenken kam ich drauf – sie mussten verschiedene Mütter haben! Kein Wunder, dass sie sich nicht ähnlich sahen. Ich fragte Hadi und Hatem danach, und sie erzählten mir, dass die Familien im selben Haus wohnten. Die beiden verstünden sich zwar, doch zwischen ihren Müttern gebe es immerzu Spannungen. Sie sprachen ungern darüber, was mich nur noch neugieriger machte. Wenn es darum ging, einem Fußball hinterherzujagen, mochte ich versagen, aber bei Antworten fiel mir die Sache leicht.

In der achten Klasse nahm unser Lehrer Iqbal Zain Haj mit uns eine Koranstelle durch, in der davon die Rede war, dass muslimische Männer sich mehrere Frauen nehmen dürften. Ich hob die Hand.

„Bitte, können Sie uns erklären, warum Allah das zulässt?“

„Es dient dazu, sein Wort zu verbreiten, Mohammed. Wenn ein Mann mehr als eine Frau hat, kann er viele Kinder haben. Und je mehr Kinder er hat, desto mehr Kinder hat auch Gott.“

Iqbal Zain Haj wandte seinen Blick wieder dem Buch zu, doch bevor er fortfahren konnte, fragte ich weiter: „Ja, das leuchtet ein. Aber müssen die Frauen dafür leiden?“

„Sie leiden überhaupt nicht. Sie werden versorgt“, blaffte er. Thema erledigt.

„Aber was für eine Belohnung erwartet sie denn dafür im Himmel?“ Ich ließ nicht locker. „Werden sie eine der zweiundsiebzig Jungfrauen, mit denen ein Mann belohnt wird, der im Dschihad umkommt? Anstatt mit drei anderen Frauen zu teilen, müssen sie …“

Ich konnte dieses Argument nicht zu Ende führen.

„Mohammed, mach die Tür zu! Von außen! Sofort!“

Ich schob mich aus der Bank und stolperte auf den Flur. Noch nie zuvor war ich des Unterrichts verwiesen worden.

Beim Abendessen erzählte ich meinen Eltern die Geschichte meines Rauswurfs.

Mein Vater kaute weiter, als hätte er nichts gehört. Meine Mutter rollte mit den Augen, als wollte sie sagen: Weißt du es inzwischen nicht besser?

Ich blickte wieder auf meinen Teller und stocherte unschlüssig mit meiner Gabel im Essen herum. Nach einer Minute des Schweigens verkündete mein Vater sein Urteil.

„Eine Frau ist für einen Mann völlig ausreichend“, sagte er, in Tonfall und Mimik vollkommen neutral.

Meine Brüder, Schwestern und ich lehnten uns in stummem Respekt alle ein wenig vor, das Kinn auf die Brust gesenkt, die Augen nach oben gerichtet. Wir blickten einander an und fragten uns stumm: Was meint er nur? Soll das ein Witz sein?

Auch mein Vater senkte den Kopf, allerdings nur seiner Gabel entgegen. Er nahm noch einen Bissen.

Ich wollte gerade eine weitere Frage stellen, als ich die Hand meiner Mutter auf meiner spürte.

„Ich habe das Lamm für Eid al-Adha, das Opferfest, bestellt“, sagte sie. „Ich habe einen guten Preis bekommen.“

Mein Vater nickte geistesabwesend. Der Feiertag nahte und mit ihm die rituelle Schlachtung und Zubereitung eines Lamms. Die Frauen würden die Mahlzeit zubereiten und anschließend aufräumen und sauber machen. Wir Männer würden schon versorgt sein.


Obwohl mein Vater sich entgegen den Wünschen seiner Familie für meine Mutter entschieden hatte, hieß das noch lange nicht, dass er seine Kinder in diesem Punkt in seinen Fußstapfen sehen wollte. Er war stolz auf den Stammbaum der Al Samawis – ein solcher hing denn auch an der Wand unseres Wohnzimmers. Wer auch immer ins Haus kam, wurde mit unserer altehrwürdigen Abstammung konfrontiert. Meine Brüder und ich mussten die Namen unserer Vorväter aus Jahrhunderten auswendig lernen.

Aber wie unser Vater im gleichen Alter war mein Bruder Hussain ein Dickkopf. Er war nun vierundzwanzig, ein erwachsener Mann. Anstatt um Erlaubnis zu fragen, verkündete er seine Absicht, diese Halbägypterin ohne nennenswerte Familie zu ehelichen. Und so konnte ich im Alter von achtzehn Jahren, unmittelbar nach meinem Schulabschluss, dabei zusehen, wie die Geschichte sich mit allem Schall und Wahn wiederholte. Mein Vater weigerte sich, sich im selben Zimmer wie Hussain aufzuhalten, während meine Mutter kaum atmen konnte, ohne dass daraus ein Schluchzen wurde. Meine Mutter leiden zu sehen tat mir sehr weh. Um Hussain in Schwierigkeiten zu sehen, hätte ich hingegen eine Eintrittskarte gekauft und Popcorn dazu.

Im Lauf der Jahre hatte sich das Verhältnis zu meinem Bruder stark abgekühlt. Zum Bruch war es nur wenige Monate zuvor gekommen, als Hussain in den Semesterferien nach Hause kam. Ich sah ihn selten, und wenn doch, wollte ich ihm nicht auf die Nerven gehen. Doch eines Abends brauchte ich eine Mitfahrgelegenheit, also bat ich ihn, mich zu einer Verabredung mit meinem Kumpel Ahmed zu fahren.

Ahmed und ich hatten uns in der siebten Klasse kennengelernt. Er war aufgeweckt und stammte aus gutem Haus, und ich war ebenfalls aufgeweckt und aus gutem Haus. Also fiel uns nichts Besseres ein, als Rivalen zu werden. Bei jeder Klausur wetteiferten wir darum, als Erster fertig zu werden; stellte der Lehrer eine Frage, fand einer an der Antwort des anderen etwas zu verbessern. Nach der Schule spornte mich der Wunsch, Ahmed zu übertreffen, bei den Hausaufgaben an. Und danach drehte ich die Musik auf und griff zu einem Buch, um mehr zu wissen als Ahmed. Tag für Tag verbrachte ich allein, nur Michael Jackson, die Backstreet Boys und Britney Spears waren da und feuerten mich in meinem Rennen gegen Ahmed an.

Meinen Mitschülern war dieser Streberwettbewerb herzlich egal, aber mir bedeutete er alles. Wir führten ein geistiges Tauziehen durch, bei dem weder Ahmed noch ich als Erster nachgeben wollte. Bis wir auf eine überraschende Lösung kamen: Wir könnten uns verbünden. Beide fühlten wir uns gegen den Rest der Welt gestellt, also schien die uralte Weisheit zuzutreffen, dass der Feind meines Feindes wohl mein Freund sein müsse. Wir beendeten also unseren persönlichen Wettstreit und bildeten eine vereinte Front. Endlich ein Verbündeter! Ein Traum ging in Erfüllung. Und auch Billard und Tischtennis machten mit einem Partner deutlich mehr Spaß.

Am fraglichen Nachmittag lag ich Hussain in den Ohren, bis er endlich nachgab und mich zu Ahmed fuhr. Er würdigte mich keines Blickes, als wir in den Land Cruiser meines Vaters stiegen. Als das Tor vor uns aufging, drehte er das Radio auf und trat aufs Gas. Die jemenitische Straßenverkehrsordnung ist denkbar einfach: Man fährt, wie man will, und am Ende überleben die Stärksten und die Schnellsten. Weil ich Hussain ohnehin schon ans Ende seiner Geduld gebracht hatte, hielt ich mich auch nicht zurück, ihm zuzubrüllen, er solle doch etwas langsamer fahren – nicht dass er mich bei dem donnernden Bass von N.W.As „Gangsta Gangsta“ überhaupt hörte. Der Text bedeutete mir so gut wie gar nichts, und Hussain, der kaum Englisch konnte, noch weniger, aber er nickte mit dem Kopf, während er sich einen Weg durch die engen Straßen Sanaas bahnte.

Plötzlich schnitt er einem anderen Auto den Weg ab. Der Fahrer musste hart in die Eisen gehen, um einen Zusammenstoß noch abzuwenden. Ich hatte meine gute Hand gegen das Armaturenbrett gestemmt und sah entgeistert zu, wie der andere Wagen zu uns aufholte und der Fahrer Hussain ein Zeichen gab anzuhalten. Hussain bremste ab und lenkte das Auto auf den Fahrbahnrand.

Er stieg aus, und alsbald brüllte er auf den Mann ein, der seinerseits zurückbrüllte. Die beiden führten eine Art Tanz auf, freilich ohne sich zu berühren, mit einigen Metern Abstand zwischen sich. Wie Boxer im Ring kreisten sie umeinander, hier und da einen Hieb vortäuschend.

Ich hatte Angst, dass ihnen bald die Worte ausgehen und die Fäuste ins Spiel kommen würden – oder Schlimmeres. Denn im Jemen waren die meisten Männer bewaffnet unterwegs.

„Aufhören! Bitte!“, rief ich dazwischen. „Mein Bruder irrt sich. Er entschuldigt sich.“ Die beiden Männer blieben wie festgefroren stehen und starrten mich an. Dann fühlte ich einen Stich in der Wange, dann noch einen. Dann brachte mich ein direkter Schlag ins Taumeln.

Da stand Hussain mit Wut in den Augen und schrie auf mich ein. Ich war wie gelähmt und verstand gar nicht, was er da sagte. Ich kauerte mich zusammen, hielt meine Hände schützend über den Kopf, doch es geschah nichts. Als ich aufschaute, sah ich, dass der andere Fahrer meinen Bruder gepackt hatte und ihn anbrüllte, er solle sich beruhigen.

Meinen Eltern sagte ich kein Wort über den Vorfall, und auch Hussain und ich sprachen nie mehr davon. Danach blieb zwischen uns aber nicht viel mehr als Bitterkeit übrig. Nun also, da er um die Hand der Frau, die er liebte, angehalten hatte und dafür die volle Missbilligung der Al Samawis erdulden musste, fühlte ich mich zu etwas Schadenfreude berechtigt.

Doch der Frieden wurde wiederhergestellt – bis er erneut zerbrach. Nur drei Monate nachdem wir seine Hochzeit gefeiert hatten, war Hussain wieder zu Hause und erklärte, er habe sich getäuscht, unsere Eltern hingegen hätten recht gehabt. Die Frau war nicht die Richtige für ihn. Es folgten monatelange Verhandlungen, ein einziges Drama, bis es meinen Eltern endlich gelang, Hussain aus der Ehe herauszulösen und damit aus dem Schlamassel, den er angerichtet hatte. Schamerfüllt überließ er nun unseren Eltern die Entscheidung über seine Zukunft. Nur wenige Monate später waren wir abermals auf einer Hochzeit zu Gast. Diesmal heiratete Hussain die Frau, die meine Mutter für ihn ausgewählt hatte.

Hussain sah glücklich aus. Seine Braut war aus gutem zaiditischen Haus.


Währenddessen gab ich zu Hause den Musterknaben. Am Esstisch küsste ich den Kopf meines Vaters, meiner Mutter half ich beim Aufräumen. Mein erstes Semester an der Universität Sanaa hatte begonnen, wo ich BWL studierte. Ich war neunzehn Jahre alt, wohnte aber noch immer in dem Zimmer, in dem ich aufgewachsen war, und war stets spätestens um 22 Uhr wieder zu Hause. Was ich tat, wohin ich ging und mit wem – alles erzählte ich meinen Eltern. Ich bekam gute Noten und hielt mich von jeglichem Ärger fern.

Der größte Luxus, den ich mir gönnte, war der Besuch der internationalen Buchmesse von Sanaa. Sie hatte 1984 erstmals stattgefunden und war die zweitgrößte ihrer Art im arabischen Raum. Nur die Kairoer Buchmesse übertraf sie in puncto Aussteller- und Besucherzahl und Umsatz. Schon als Kind sparte ich einen Teil meines Taschengeldes, um die Messe zu besuchen und mit einer großen Tasche voll Bücher nach Hause zu kommen. Romane eröffneten mir ungeahnte Welten – wie auch meine Sammlung amerikanischer Filme und Fernsehserien.

Wenn meine Augen vom Lesen müde waren, griff ich zu einer DVD oder Videokassette. Die Filme waren arabisch synchronisiert oder untertitelt, und eine rigorose Zensur sorgte dafür, dass alle Szenen, in denen nackte Haut oder Intimitäten zwischen Männern und Frauen (oder gar Männern und Männern) zu sehen waren, herausgeschnitten worden waren. Körperkontakt war nur erlaubt, wenn er gewaltsamer Art war.

Mindestens einmal die Woche besuchte ich die Videothek im Viertel und stöberte in den Regalen. Wenn mir die Auswahl zu fade schien, gab es immer noch den Schwarzmarkt. Eines Nachmittags wühlte ich auf der Suche nach den neuesten unzensierten Actionfilmen in einem Korb voller DVDs und stieß auf eine ungewöhnliche Hülle. Darauf war ein Mann abgebildet, dessen Mantel im Laufen hinterherwehte wie das Cape eines Superhelden. Dazu blickte eine schöne Frau durch einen Türspalt. Mit dem Titel – Untreu – konnte ich nichts anfangen. Blieb mir also nur, den Streifen anzuschauen …

In dem Film kommt ein Mann dahinter, dass seine Frau ihn betrügt. Das lässt ihm keine Ruhe, und er beginnt, ihr nachzustellen. Mehrmals sieht er zu, wie sie mit einem anderen Mann schläft. Ich hatte noch nie einen nackten Frauenkörper gesehen – und da war er nun, auf dem Bildschirm. Hastig nahm ich die DVD aus dem Abspielgerät und versteckte sie zwischen meinen Schulsachen. Was hatte ich nur getan?

Sexualkunde stand im Jemen nicht auf dem Lehrplan, und obwohl meine Eltern beide Ärzte waren, hatte ich noch nicht einmal ein Lehrbuch der Anatomie zu Gesicht bekommen. Natürlich tuschelten wir alle und machten Witze und taten so, als wüssten wir Bescheid. Manche Jungs prahlten sogar damit, schon mit Mädchen zusammen gewesen zu sein, freilich ohne näher darauf einzugehen, was das nun bedeutete. Die einzige klare Ansage, die uns im Zusammenhang mit Sexualität gemacht wurde, war, dass sie um jeden Preis zu vermeiden sei.

In der neunten Klasse verglich ein Lehrer muslimische Frauen mit einem perfekten roten Apfel. Dessen rote Haut, so erklärte er, ist unbefleckt und schön. Was passiert aber, wenn man hineinbeißt und das darunterliegende weiße Fruchtfleisch freilegt? Bald wird der Apfel braun und ein wenig später wird er schrumpelig und faul. Warum? Weil nun Bakterien eindringen können, was zu einem Verfallsprozess führt. Wäre die Haut nicht verletzt worden, wäre der Apfel noch lange Zeit makellos schön geblieben. Deshalb müssten Frauen bedeckt bleiben: um sich das, was ihnen schadete, vom Leib zu halten. Daraus folge, so der Lehrer, dass eine Frau, die sich nicht bedecke, weniger schön sei, weniger begehrenswert, weil an ihr bereits der Verfall zehre. Wie alle in meiner Umgebung nahm ich diese Logik als gegeben hin, aber sie schien mir doch etwas dünn, als meine Schwestern einmal weinend nach Hause kamen. Ein Taxifahrer, erzählten sie, habe sie verflucht, weil ihre Kopftücher Teile des Haars und das Gesicht frei ließen. Ich erinnerte mich daran, dass die Bedeckung ja zu ihrem eigenen Schutz sei – aber wovor genau mussten sie denn beschützt werden?

Vor dem Westen natürlich. Uns allen wurde beigebracht, dass die Wurzel allen Verfalls im Westen liege. Unsere Imame und Lehrer betonten bei jeder Gelegenheit, dass die westliche Gesellschaft im Zerfall begriffen und das Christentum eine Irrlehre sei. Die Zeichentrickserie SpongeBob Schwammkopf diente ihnen als warnendes Beispiel des amerikanischen Lotterlebens: Dieser Bob trug keine Kleidung! Ein seltsames Beispiel, wie mir schien, denn ganz offensichtlich war die Figur mit einer Hose bekleidet. Unsere Lehrer zeigten uns Ausschnitte aus ausländischen, zumeist amerikanischen Filmen, bei denen es sich offensichtlich um erotische Szenen handelte, die allerdings weitgehend geschwärzt waren. Die Tonspur warnte vor westlicher Kleidung, die nur die Pornografie begünstige, sowie überhaupt vor dieser dekadenten Zivilisation. Westliche Frauen seien kaum besser als Prostituierte und häufig gebe es da gar keinen Unterschied. Und was die Sache noch schlimmer mache: Solche Unsitten wollten sie nun in aller Welt verbreiten!

Doch der größte Übeltäter war selbstverständlich Israel. Jüdische Frauen, so hörte ich ständig, seien ganz außer Rand und Band. Sie hätten nur Unzucht, Alkohol und Partys im Kopf. Uns wurde beigebracht, sie zu hassen, während die meisten Jungs sich insgeheim an einen Ort wünschten, wo die Frauen sich derart gehen ließen. Und in diesen unzensierten Momenten des Films Untreu ging mir endlich auf, warum.

Fuchsjagd

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