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Sklaventreiber

Die Sonne stand gerade über dem Horizont, der Himmel war blau und die Luft warm und leicht. Die Landschaft war eingebettet in ein Grün mit hunderten Nuancen und geschmückt mit tausenden wilden Wiesenblumen.

Diese verschwenderische Schönheit auf beiden Seiten des Weges ging an Verliebtheit vorbei; sie war viel zu tief in Gedanken versunken. Sie hatte weder die Enttäuschung überwunden, keinen Rat von Liebe bekommen zu haben, noch war sie wirklich damit einverstanden, eine Weile nicht über ihre Spielzeuge zu reden. Hinzu kam, dass sie das Gefühl hatte, ihr Rucksack sei an diesem Morgen, eigentlich seit der Begegnung mit Liebe, schwerer geworden. Schwerer als je zuvor. Deshalb wuchs ihr Wunsch, mit Liebe über ihre Spielzeuge zu reden, mit jedem Schritt. Gleichzeitig aber wollte sie auch den Vorschlag von Liebe, eine Weile nicht über ihren Rucksack zu sprechen, beherzigen. Zu diesem Dilemma kam noch ihre bohrende Ungeduld hinzu, die bewirkte, dass sie ihr eigenes Schweigen nicht mehr aushielt. Sie blieb stehen, drehte sich um, schüttelte den Kopf und sagte zu Liebe, die ein paar Schritte hinter ihr lief:

„Du läufst aber ganz schön langsam. Ja, ja, das sind wohl die alten Knochen, die nicht mitmachen“, und fügte etwas hämisch hinzu:

„Aber ich warte ja gern auf dich.“

Sie wartete, bis Liebe neben ihr stand, und fuhr fort:

„Wie du siehst, habe ich deine Vorschläge beherzigt: Ich gehe weiter mit dir und rede auch nicht über meine Spielzeuge.“

So gingen Liebe und Verliebtheit eine ganze Weile schweigend nebeneinander den Weg entlang. Als sich ein Vogel ein paar Meter von ihnen entfernt auf einen kleinen Felsen am Rande des Weges setzte, nutzte Verliebtheit diese Gelegenheit, das ihr unerträglich lang vorkommende Schweigen zu brechen. Sie zeigte auf den Vogel mit der Bemerkung:

„Schau, dieser Vogel fliegt nicht weg. Er scheint keine Angst vor uns zu haben, oder?“

„Ja, weil er weiß, dass seine Flügel schneller sind als unsere Schritte.“

„Und woher willst du wissen, dass er das weiß?“

„Weil alle Lebewesen ein angeborenes Wissen in sich tragen, das ihr Leben schützt. Deshalb nennt man dieses angeborene Wissen auch Selbsterhaltungstrieb. Natürlich ist das Wissen dieses Vogels ganz anders als das Wissen eines Menschen, was das Überleben betrifft, doch das Resultat ist dasselbe.“

„Wenn das so einfach ist, wo bleibt dann mein Überlebenstrieb, der mich vor meinen Ängsten, Sorgen und Problemen beschützt und mich befreit?“

„Gerade deine Ängste, Sorgen und Probleme sind die Folge deines Überlebenstriebes. Weißt du, Menschen können denken. Deshalb machen sie aus ihrem Überlebenstrieb, der natürlich und notwendig ist, eine Überlebensstrategie, einen Überlebensplan. Da menschliche Strategien und Pläne nicht nur Sinnvolles und Notwendiges enthalten, sondern auch Schädliches und Irreales …“

„Wenn ich dich richtig verstehe, heißt das ja nichts anderes, als dass ich bloß deshalb Ängste, Sorgen und Probleme habe, weil ich überleben will.“

„Nein, nicht weil du überleben willst, sondern die Art und Weise, wie du zu überleben versuchst, bereitet dir Angst und Sorgen. Zu deiner Beruhigung, diese irrige und angstvolle Art zu überleben ist nicht dein persönliches Schicksal, es ist das Dilemma des menschlichen Daseins schlechthin. Ein Dasein mit dem Rucksack, ein Dasein für den Rucksack. Durch diese Art zu überleben machen sich die Menschen zu ihrem eigenen Sklaventreiber. Sie schweben nicht mehr mit Leichtigkeit durch das Leben, sondern sie tragen das Leben wie eine schwere Last auf ihren Schultern. Wie ein gehorsamer Sklave. Wie man aber durch diese oder jene Art zu leben zu seinem eigenen Sklaventreiber wird, darauf werden wir bestimmt noch zurückkommen.“

„Na, ein Grund mehr, Liebe zu sein, dann entfliehe ich dem Dilemma.“

„Entfliehen willst du? Fliehen führt nicht zur Liebe. Der Weg zur Liebe kann nur gegangen werden. Wer aber flieht, der geht nicht.“

„Ich mag jetzt nicht mit dir über Worte streiten. Gehen oder fliehen ist mir auch egal. Jetzt will ich bloß Liebe sein und Punkt. Und ich glaube, das ist auch das Mindeste, das jedem zusteht. Du bist ja auch nicht als Liebe geboren, du hast ja all deine Weisheiten, Fähigkeiten und deine Gelassenheit, die dich zur Liebe gemacht haben, nach und nach erworben.“

„Es gehört aber viel mehr dazu, Liebe zu werden. So sehr ich dir auch wünsche, dass du Liebe wirst: So einfach, wie du es dir wünschst und vorstellst, geht es nicht. Liebe ist kein Land, das man erobern, kein Haus, das man bewohnen, und nicht einmal ein Ziel, das man anstreben kann. Wenn es dir gelingt, dich für die Liebe zu öffnen und die Liebe als ein Geschenk zu sehen …“

„Und was kostet dieses Geschenk?“

„Ein Geschenk kostet nichts, sonst wäre es kein Geschenk.“

„Einverstanden. Dann sag doch wenigstens: Was ist Liebe? Dann haben wir beide erst mal unsere Ruhe.“

Nach einem Schweigen von der Dauer dreier Atemzüge wiederholte Liebe das Anliegen von Verliebtheit:

„Was ist Liebe?“

„Lustig“, sagte Verliebtheit vergnügt, „aus dem Mund von Liebe zu hören: ‚Was ist Liebe?‘ Wirklich lustig. Du musst dich doch kennen. Also rück raus mit der Sprache, was ist Liebe?“

Ein Tag mit der Liebe

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