Читать книгу Ein Tag mit der Liebe - Mohsen Charifi - Страница 9
ОглавлениеEwige Geburtswehen
Durch die unzähligen Erfahrungen, die Verliebtheit mit ihrer Hoffnung gemacht hatte, waren ihr Lust und Frust des Hoffnungsspiels sehr vertraut. Der Gedanke, dass sie die Hoffnung mit der Hand wegwirft, aber im Herzen behält, war jedoch neu für sie. Die leise Ahnung, dass nicht die Hoffnung, sondern womöglich sie selbst der Schöpfer ihres Leidens sein könnte, verunsicherte sie zutiefst und ihre Ohnmacht tat ihr in der Seele weh. Diese Gefühle vermittelte sie auch Liebe mit der Frage:
„Ist das nicht schrecklich, dass ich nicht über meine Spielzeuge bestimmen kann?“
In diesem Augenblick senkte Verliebtheit ihren Kopf, damit Liebe die Tränen, die ihr über die blassen Wangen rollten, nicht sehen konnte, und fragte verzweifelt:
„Kannst du mir helfen oder hast du vielleicht einen Rat für mich? Bitte, bitte sag ja. Sag, dass du weißt, wie ich meine Spielzeuge in den Griff bekomme.“
Liebe umarmte Verliebtheit zärtlich mit ihren Blicken, zögerte aber mit der Antwort. Sie kannte ja die Gefühle von Verliebtheit, weil sie selbst lange eine Verliebtheit gewesen war. Sie kannte die schönen Erinnerungen, die sie selbst wie kostbare Juwelen für Zeiten der Not aufbewahrt hatte. Die bitteren Kerne der Enttäuschungen, die immer übrig geblieben waren, wenn das Fleisch der süßen Früchte der Leidenschaft aufgezehrt war. Und diese Hoffnung, die Hoffnung, die mit gestrecktem Arm und offener Hand um Erfüllung ihrer Wünsche gebettelt hatte.
Liebe kannte diese Gefühle nur allzu gut. Sie kannte sie alle. Alle Spielzeuge, die bunten und schönen, die beleben und Freude bereiten, auch die unvermeidbar ekligen und hässlichen, die verbittern und lähmen. Liebe kannte sie alle, samt ihrem Zauber, ihrer Macht und ihren Tücken, die mit ihrer Magie wie Spielzeuge erscheinen und mit ihrer Zauberkunst so zarte Wesen wie Verliebtheit in ihren Bann ziehen. Liebe erinnerte sich an jene Zeit, als sie selbst noch verliebt gewesen war und leidend und verzweifelt nach Erfüllung, Hilfe und Rat suchte. Und an die lange Zeit und den beschwerlichen Weg ihres Werdens. Ihrer Metamorphose, ihrer Verwandlung von Verliebtheit zu Liebe.
Ihre erste Geburtswehe war die bittere Erkenntnis: Es gibt keinen Ratgeber und keinen Rat, die wirklich nützen. Es gibt nur die brennenden Fragen, aber keinen, der sie beantwortet und das Feuer löscht. Es war die Erfahrung, dass sie selbst die Frage war und nur sie selbst die Antwort sein konnte – eine Antwort, die sie aber nicht kannte. Die bedrohliche Gewissheit, auf sich selbst angewiesen zu sein, jedoch auf ein ohnmächtiges Selbst, um sich an dem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu müssen, mit gelähmten Händen. Alles Dinge der Unmöglichkeit, wie der Seiltanz eines Gelähmten.
Liebe wusste, dass diese ewigen Geburtswehen des Werdens unermesslich schmerzhafter sein würden als die Schmerzen, die Verliebtheit jetzt und heute bei den ersten Schritten ihres Weges erlitt. Auch war es Liebe über alle Maße klar: Wenn die Geburtswehen nicht zu einer Geburt führen und die Entbindung von der Bindung zum Rucksack nicht vollzogen würde, würden die Schmerzen bis zum Ende ihrer Tage anhalten. Liebe wusste aber auch, dass dieser Schmerz der Prüftiegel ist, in dem das Überflüssige verbrennt, das Oberflächliche verdampft und das Edle bleibt. Und das Edle ist unvergänglich. Deshalb wünschte sie Verliebtheit von ganzem Herzen diese unvermeidbaren Wehen, damit aus Verliebtheit vielleicht auch einmal Liebe würde.
Während Liebe an all das dachte und sich erinnerte, beobachtete sie Verliebtheit, die scheinbar teilnahmslos mit dem Gras neben sich herumspielte. Liebe wusste nur allzu gut, dass Verliebtheit jetzt keine Worte der Weisheit brauchte, sondern Trost, Zuversicht und Kraft, damit sie ihren schweren Weg, den sie schon begonnen hatte, auch weitergehen würde.
In diesem Augenblick wurde die Gedankenkette von Liebe durch die ungeduldige Frage von Verliebtheit unterbrochen:
„Ich habe dich was gefragt. Warum gibst du mir denn keine Antwort? Du bist doch nicht etwa mit deinem Latein am Ende? Ich wollte ja nur einen Rat von dir. Ich wollte ja nur wissen, wie ich mit meinen Spielzeugen und den Gefühlen, die sie mit sich bringen, umgehen soll.“
„Oh, entschuldige bitte, dass ich mit der Antwort gezögert habe. Deine Frage war auch sehr lange meine Frage. Meine Spielzeuge waren auch für mich die Quelle meiner Freude und meines Leidens. Auch ich war einst wütend, traurig und verzweifelt über die Macht, die sie über mich hatten. Deshalb verstehe ich dich und kann mir sehr gut vorstellen, wie es in dir aussieht.
Ich wünschte, es gäbe einen Rat, der dir helfen könnte, und ich wünschte, es gäbe einen Zauberknopf, ich würde auf ihn drücken und du würdest all deine Sorgen und Ängste mit einem Schlag loswerden. Aber solch einen Knopf gibt es nicht. Hoffnung ist kein Kerzenlicht, man bläst und es geht aus. Erinnerung ist kein Bilderbuch, man klappt es zu und die Bilder verschwinden, und Enttäuschung ist kein Dorn im Fleisch, man zieht ihn heraus und der Schmerz lässt nach. Schau, wenn deine Spielzeuge nur Spielzeuge sein sollen und mit dir nicht machen sollen, was sie wollen, wenn du sie wirklich loswerden willst, dann musst du erst einmal verstehen, warum du sie überhaupt brauchst. Denn würdest du sie nicht brauchen, dann würdest du auch nicht einen derart schweren Rucksack mit dir herumtragen.“
„Aber ich mag meinen Rucksack nun mal und trage ihn gern mit mir. Ich verstehe nicht, was du eigentlich gegen meinen Rucksack hast!“
„Nichts. Ich habe nichts gegen deinen Rucksack. Es geht nur um seinen Inhalt. Den trägst du wie eine Kette um den Hals und wie eine Fessel um deinen Fuß, und du trägst ihn schon so lange, dass du glaubst, er sei ein Teil von dir. Es ist nicht dein Rucksack, es sind deine Spielzeuge, die dich traurig machen und zur Verzweiflung bringen.“
„Schon gut. Es reicht. Ich habe dich verstanden. Aber du hast mir immer noch keinen Rat gegeben und ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll!“
„Ich kann dir keinen Rat geben, was du tun sollst, doch du selbst hast ja schon vieles getan und wirst auch noch vieles tun. Schau, du hast dein vertrautes Zuhause verlassen und dich auf die Suche begeben, du bist neugierig und du stellst Fragen. Das ist schon sehr viel und ein wunderbarer Anfang.“
„Und wie lange dauert dieser Anfang noch?“
„Ist das wirklich so wichtig, wie lange es dauert, wenn es um eine lohnenswerte Sache geht? Wenn du zum Beispiel ein Gemälde siehst, das dir gut gefällt, fragst du ja auch nicht, wie lange der Künstler dafür gebraucht hat. Du fragst höchstens, wer das gemalt hat. Zeit ist der geringste Preis, den man für ein klares Ziel zahlt. Worauf es wirklich ankommt, ist, was du wirklich willst. Wenn du ein Ziel im Herzen trägst und entschlossen bist, es auch zu erreichen, dann hast du auch die Ausdauer für den Weg, die Kraft für die Mühe und die Geduld für den Schmerz.“
Verliebtheit guckte kritisch und dachte:
‚Wieder so eine Antwort, die sich verdammt gut anhört, aber nichts nützt‘, und murmelte vor sich hin:
„Erst einmal ein klares Ziel haben“, und drückte ihren Missmut durch die Frage aus:
„Und jetzt?“
„Jetzt würde ich vorschlagen, dass wir deinen Rucksack samt all deinen Spielzeugen erst einmal in Ruhe lassen und eine Weile nicht mehr über sie reden. Lass uns etwas spazieren gehen und schauen, was so alles unterwegs passiert und was uns alles …“
„Ja, das machen wir. Vorher möchte ich jedoch noch etwas klären. Wenn ich später jemandem von unserer Begegnung erzählen möchte, wie soll ich dich dann beschreiben? Soll ich sagen, ich habe einen alten Mann getroffen, oder soll ich sagen, ich bin der Liebe begegnet?“
Nach einem tiefen Atemzug antwortete Liebe:
„Du wirst mich sowieso nur so beschreiben, wie du mich erlebt hast. Wenn du nur einen alten Mann mit all seinen Gebrechen kennengelernt hast, dann wirst du auch nur etwas über ihn zu sagen haben. Hast du dich aber von mir als Liebe berühren lassen, hast du etwas von Liebe in dir aufgenommen, dann wird auch Liebe aus dir sprechen. Unabhängig davon, wie du mich wahrnimmst und mich später beschreiben wirst, bin ich beides: einmal ein zu Fleisch gewordener Mensch, eben ein alter Mann, der alle Facetten des menschlichen Daseins erlebt hat, der auch mal jung und verliebt war; gleichzeitig aber bin ich auch Liebe. Liebe, die ich schon seit eh und je war und bin und sein werde. Wie auch immer, ich weiß nicht, was du über mich erzählen wirst, doch aus einem Krug kommt das heraus, was in dem Krug ist.“
Daraufhin verschloss Verliebtheit ihren Rucksack, stand auf, warf Liebe einen fragenden Blick zu und begab sich auf den Weg.
Liebe vergewisserte sich schnell, dass Verliebtheit nichts liegen lassen hatte, und folgte ihr dann.