Читать книгу Ein Tag mit der Liebe - Mohsen Charifi - Страница 12
Das Geheimnis hinter einem Stuhl
ОглавлениеLiebe wusste aus ihren eigenen Erfahrungen, dass das Denken von Verliebtheit noch nicht die Reife, ihr Herz nicht den Platz und ihr Ohr kein Gehör für Liebe hatte. Es war ihr auch klar, dass sie all das Verliebtheit nicht sagen würde, weil es sie unnötig verletzte. ‚Das Beste ist‘, so dachte Liebe, ‚wenn Verliebtheit selbst erfährt, dass die Frage, was Liebe ist, sich grundsätzlich von anderen Fragen wie ‚Wo warst du gestern Abend?‘, ‚Wie hoch ist der höchste Berg in Europa?‘ oder ‚Wie heißen deine Kinder?‘ unterscheidet.‘ Nun ging es darum, Verliebtheit zu vermitteln, dass die Antwort auf diese Frage nicht mit Worten, sondern nur durch eigenes Erleben zu erfahren wäre. Daher schlug sie Verliebtheit vor:
„Gut. Ich werde dir sagen, was Liebe ist, aber erst, wenn du mir sagst, was Schönheit ist und was Grün bedeutet – oder zumindest, was ein Stuhl ist.“
Überrascht über diesen merkwürdigen Vorschlag, sah Verliebtheit Liebe mit großen Augen an und fragte leicht verunsichert:
„Willst du mich etwa auf den Arm nehmen oder meinst du das wirklich ernst? Nein, du kannst es nicht ernst meinen, oder?“
„Doch, ich meine es wirklich ernst. Erkläre mir Schönheit, erkläre mir das Grün und sag mir, was ein Stuhl ist, und ich sage dir dann, was Liebe ist.“
„Was Schönheit und Grün ist, da muss ich einen Augenblick nachdenken. Was soll aber diese dumme Frage mit dem Stuhl? Jeder Mensch weiß doch, was ein Stuhl ist!“
„Dann dürfte es dir ja auch nicht schwerfallen, diese Frage zu beantworten.“
„Ich weiß zwar nicht, was dieser Blödsinn soll, aber ich beantworte diese Frage, damit du endlich damit rausrückst, was Liebe ist. Ein Stuhl ist etwas, worauf man sitzen kann.“
„Man kann auch auf dem Boden sitzen.“
Genervt erwiderte Verliebtheit:
„Schon gut. Ein Stuhl ist etwas, das vier Beine hat und auf dem man sitzen kann.“
„Diese Beschreibung trifft aber auch auf ein Bett zu, denn ein Bett hat auch vier Beine und man kann auch darauf sitzen.“
Verärgert trat Verliebtheit gegen einen Stein am Wegesrand und erwiderte energisch:
„Ein Stuhl ist ein Gegenstand, der vier Beine hat und nicht so groß ist, dass man sich drauflegen kann. Bist du jetzt zufrieden?“
„Nicht ganz. Das trifft auch auf einen Tisch mit vier Beinen zu, der aber zu klein ist, als dass man sich darauflegen könnte.“
So langsam begann Verliebtheit zu ahnen, warum Liebe von ihr verlangte, einen Stuhl zu beschreiben, doch sie wollte Liebe den Triumph auf keinen Fall gönnen, dass sie keine eindeutige Beschreibung für einen Stuhl finden konnte. Der Ehrgeiz packte sie. Sie überlegte. Sie überlegte lange. Sie stellte sich viele Stühle vor und war überrascht, wie unterschiedlich sie alle aussahen. Einige waren aus Holz, Bambus oder aus Metall, manche waren mit Stoff, manche mit Leder bezogen, einige hatten Armlehnen und andere wiederum nicht. Diese Vielfalt machte es ihr praktisch unmöglich, eine Beschreibung dafür zu finden, was ein Stuhl wirklich war, eine Beschreibung, die all diese Besonderheiten und Eigenschaften berücksichtigte, die ein Stuhl haben konnte, wenn auch nicht haben musste, um ein Stuhl zu sein. ‚Was charakterisiert also einen Stuhl, was macht einen Stuhl aus?‘, fragte sich Verliebtheit jetzt ernsthaft. Sie konnte nicht einmal ahnen, dass die so einfache Frage ‚Was ist ein Stuhl?‘ die schwierige Frage ‚Was ist das Wesen einer Sache?‘ beinhaltete. Das Wesen einer Sache, das unabhängig von seinen vielfältigen Erscheinungsformen das bleibt, was es ist. Nach längerem Überlegen und Schweigen, wobei sie sich fortwährend am Kopf kratzte und gegen Steine und Bäume trat, beschwerte sich Verliebtheit sichtbar erzürnt:
„Wie soll das gehen? Es gibt doch tausende und abertausende Stühle und jeder sieht anders aus. Wie soll man da beschreiben, was ein Stuhl ist? Sollte deine Frage ein Ablenkungsmanöver sein, weil du mir die Frage, was Liebe ist, nicht beantworten willst oder kannst?“
„Oh nein, ich wollte, dass du selber spürst und selbst entdeckst, dass man das Wesen der Dinge nicht mit Worten erfassen kann. Menschen haben Wörter erfunden, um die Dinge und Phänomene zu benennen, und zu mehr sind Worte nicht fähig. Du hast recht, jeder weiß, was ein Stuhl ist. Und trotzdem ist es schwer, sogar sehr schwer, das Wesen eines Stuhles zu beschreiben – wie du ja gerade selbst erlebt hast. Kannst du dir jetzt vorstellen, wie schwer es sein muss zu erklären, was Liebe ist, wenn doch jeder Liebe sagt und etwas anderes damit meint? Wie oft hörst du ‚Ich liebe meine Kinder‘, ‚Ich liebe Erdbeeren mit Sahne‘, ‚Ich liebe meine Heimat‘, ‚Ich liebe den Frühling‘, ‚Ich liebe lange schwarze Haare‘ oder ‚Wir haben uns die ganze Nacht geliebt‘ und, und, und. Während Menschen ‚Stuhl‘ sagen und im Großen und Ganzen dasselbe meinen, sagen Menschen ‚Liebe‘ und meinen etwas ganz Verschiedenes. Der Satz ‚Ich liebe lange schwarze Haare‘ heißt ja so viel wie ‚Ich finde lange schwarze Haare schön und anziehend‘, und der Satz ‚Ich liebe Erdbeeren mit Sahne‘ soll vermitteln: ‚Ich esse gern Erdbeeren mit Sahne und diese Kombination schmeckt mir sehr gut‘. Du siehst, einmal steht Liebe für gutes Schmecken und einmal für schönes Aussehen und beides sind grundverschiedene Dinge. Noch drastischer wird der Unterschied, wofür ‚Liebe‘ alles herhalten muss, wenn wir Äußerungen wie ‚Ich liebe erotische Nächte‘ oder ‚Ich liebe Gott‘ miteinander vergleichen.“
„Entschuldige bitte die Unterbrechung. Ein Stuhl mit Leder und Schnitzarbeiten ist auch etwas ganz anderes als ein einfacher Gartenstuhl, so wie Liebe einmal in Verbindung mit Erdbeeren und einmal in Verbindung mit schwarzen Haaren steht. Das sind die gleichen Verschiedenheiten.“
„Ja und Nein. Die beiden Stühle sind äußerlich verschieden, aber ihre Funktion und ihr Wesen sind identisch. Man kann den teuren Lederstuhl in den Garten stellen und den Plastikstuhl ins Gästezimmer. Aber die Liebe zu Erdbeeren mit Sahne drückt etwas anderes aus als die Liebe zu langen schwarzen Haaren – und diese beiden Gefühle sind nicht austauschbar; sie haben eine unterschiedliche Funktion und ein anderes Wesen. In der Tat liegen zwei Verschiedenheiten vor: die äußere Verschiedenheit der Stühle, die aber im Kern identisch sind, und die unterschiedliche Verwendung des Wortes ‚Liebe‘, die gänzlich Verschiedenes zum Ausdruck bringt. Ich glaube, ich habe mich vorhin ungenau ausgedrückt und darum ist ein Missverständnis entstanden. Ich sagte zwar: ‚Liebe steht einmal für gutes Schmecken und einmal für schönes Aussehen.‘ Das ist aber nicht so gemeint. Es ist nicht die Liebe selbst, die für das eine oder das andere steht, sondern es sind die Menschen, die das Wort ‚Liebe‘ dafür verwenden.“
Das klang einfach, logisch und nachvollziehbar. Und genau das wollte Verliebtheit nicht akzeptieren, weil irgendetwas sie daran störte. Sie empfand diesen Austausch von Gedanken über die Gleichheit von Stühlen und die Verschiedenheit von Liebe als eine Schlacht, die sie nicht verlieren wollte. Sie war entschlossen, es mit diesem Kampf aufzunehmen, wollte dabei aber gleichzeitig ruhig und gelassen wirken, doch ihre aufeinandergepressten Lippen und das gerade noch wahrnehmbare Kopfschütteln verrieten ihre innere Unruhe. Nun setzte sie sich auf einen Baumstamm und forderte Liebe mit einer Handbewegung auf, sich auch hinzusetzen, was Liebe dann auch tat.
Eine lange Weile verging, ohne dass ein Blick gewechselt wurde oder ein Wort fiel. Verliebtheit stellte sich viele, viele Situationen und Menschen vor, Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene, Künstler und Arbeiter, berühmte und einfache Leute, Reiche und Arme … und sie stellte fest, dass sie alle, aber auch wirklich alle in dieser oder jener Situation ‚Ich liebe dieses oder jenes‘ sagen und in der Tat jedes Mal etwas anderes meinen. Also musste sie Liebe recht geben. Etwas in ihr wehrte sich jedoch noch immer dagegen und sie spürte ein großes Unbehagen. Dieses Mal aber kam ihr Unbehagen von der Sache selbst und nicht nur daher, dass sie recht behalten wollte. Ihre Erfahrungen und Erlebnisse hatten sie etwas anderes gelehrt. Aber was? Sie wollte das in Worte kleiden, was sie ohne Worte spürte, doch es gelang ihr nicht.
Dann schlug plötzlich der Blitz der Erkenntnis in ihren Geist ein, sie schrie aus ganzem Herzen auf und ihr Gesicht strahlte vor Freude:
„Das ist es doch, das ist es!“
Liebe war überrascht über die heftige Reaktion von Verliebtheit, doch beglückt über ihre Freude.
„Was hast du entdeckt?“
„Einiges! Aber wo fange ich am besten an, dort, wo du recht hast, oder dort, wo du dich irrst?“
Mit einer Handbewegung überließ Liebe Verliebtheit die Entscheidung.
„Gut, du hast natürlich recht, dass die Menschen in verschiedenen Situationen und über verschiedene Dinge ‚Ich liebe…‘ sagen, obwohl jedes Mal ein anderer Gedanke oder ein anderes Gefühl dahintersteht. Natürlich ist ‚Ich liebe Gott‘ etwas ganz anderes als ‚Ich liebe Erotik‘, da hast du recht. Doch schau, auch wenn ‚Ich liebe‘ sich auf so viele verschiedene Sachen bezieht, so teilen sie doch alle eine Faszination von Schönheit, ein Begehren, eine Zuneigung, ein Aneignen und Habenwollen. So gesehen haben alle Formen von ‚Ich liebe‘ auch etwas Gemeinsames und daher sind sie auch wie die Stühle ihrem Wesen nach gleich.“
Verliebtheit warf Liebe einen triumphierenden Blick zu.
Liebe, über alle Maßen von diesen scharfsinnigen Gedankengängen von Verliebtheit begeistert, sagte erfreut:
„Bravo, gut gemacht. Ich freue mich sehr, dass du selbst durch Nachdenken eine wichtige Erkenntnis über die Menschen gewonnen hast.“
Verliebtheit, die immer noch mit einem triumphalen Schmunzeln Liebe anschaute und die ihr schmeichelnde Bestätigung genoss, erwiderte vergnügt:
„Ich muss mich auch mal loben, denn nach all den traurigen Geschichten mit meinem Rucksack hätte ich auch nicht gedacht, dass ich so schnell das Wesen der Liebe erfassen würde.“
Als Liebe das hörte, schob sich Nachdenklichkeit vor ihre Freude. Sie richtete ihren Blick an Verliebtheit und an den Bäumen hinter ihr vorbei und schwieg.
Diese Reaktion verunsicherte Verliebtheit ein wenig. Deshalb fragte sie mit einem leichten Kribbeln im Bauch:
„Stimmt etwas nicht? Eben warst du doch noch so begeistert und fröhlich. Hat sich daran etwas geändert?“
„Ja, stimmt. Ich hatte mich sehr über deine Erkenntnis gefreut, doch ich merke gerade, dass hier vielleicht ein Missverständnis vorliegt. Was du erkannt hast, ist das, was Menschen unter Liebe verstehen, aber nicht das, was Liebe selbst ist.
Was du erkannt hast, ist zwar sehr wertvoll und wichtig, doch es sagt nur etwas über die Menschen und nichts über die Liebe selbst aus. Und in der Tat ist das, was die meisten Menschen unter Liebe verstehen, etwas ganz anderes als das, was ich als Liebe verkörpere.“
Der leere Blick von Verliebtheit, ihre Sprachlosigkeit und Enttäuschung waren nicht nur deutlich sichtbar, sondern sogar verständlich. Denn das Wesen der Liebe war dem Wesen der Verliebtheit noch nicht zugänglich und weit von ihr entfernt. Nicht aus bloßem Trost, sondern um Verliebtheit aus ihrer Sprachlosigkeit zu befreien, schlug Liebe vor:
„Lass uns gemeinsam schauen, was Schönheit und Grün bedeuten, dann wird es klarer, was ich meine, wenn ich vom Wesen der Dinge spreche. Vor allem wird dann auch klarer, warum es nicht nur dir, sondern jedem Menschen schwerfällt, das Wesen der Dinge zu erfassen, ganz zu schweigen vom Wesen der Liebe. Schau, du, ich und jeder andere weiß, dass Gras und Bäume grün sind, weil wir das Grün sehen. Ein Mensch, der blind geboren ist, wird zwar auch wissen, dass Gras und Bäume grün sind, aber er wird keine Vorstellung davon haben, was Grün ist, weil er Grün nie gesehen und erlebt hat. Doch auch wer nicht blind ist und das Grün sieht, kann trotzdem nicht beschreiben, was Grün ist. Du siehst: Sowohl dem Blinden als auch dem Sehenden bleibt das Wesen des Grüns verborgen. Du erinnerst dich, Menschen haben Worte erfunden, um die Dinge zu benennen, und zu mehr sind Worte nicht imstande. Das Wort ‚Grün‘ ist eben nur ein Name, eine Bezeichnung, die Menschen verwenden, um eine Farbe von anderen Farben zu unterscheiden, doch das Wort ‚Grün‘ beschreibt nicht das Wesen des Grüns. Genauso ist es mit der Schönheit. Auch die Schönheit der Blumen, der schwarzen Augen und der Sonnenuntergänge ist mit Worten nicht zu erfassen. Ich hoffe, jetzt ist eher verständlich geworden, was ich damit meine, dass das Wesen der Dinge verborgen und schwer zu beschreiben ist. Vielleicht kannst du dir den Unterschied, was Liebe an sich und in Wahrheit ist, und was es heißt, wenn Menschen von Liebe reden, so vorstellen: Das Licht, dem die Pflanzen, Tiere und Menschen ihr Leben verdanken, kommt von der Sonne, doch es ist nicht die Sonne selbst. Auch die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, einer Frau zu ihrem Mann, die erotische Verschmelzung und der Zauber eines Sonnenuntergangs sind Strahlen von der Sonne der Liebe, doch nicht die Liebe selbst.“
Der Gesichtsausdruck von Verliebtheit vermittelte Fragen, weshalb Liebe diese Gedanken noch weiter vertiefte.
„Um noch einmal auf deine Erkenntnis zurückzukommen: Es ist richtig, dass alle Arten von ‚Ich liebe‘ mehr oder weniger etwas Gemeinsames vermitteln wie Begehren, ein Bejahen oder etwas schön und zauberhaft zu finden, sogar etwas haben, gar besitzen zu wollen. Liebe in ihrer Ganzheit und Vollkommenheit ist jedoch etwas ganz, ganz anderes als ‚Ich liebe dieses oder jenes‘. Liebe ist viel, viel mehr als all das, was wir aufgezählt haben – mehr als Liebe zu Gott und mehr als Liebesnächte und mehr als die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind und als die Anziehung schöner Augen. All das ist ein Becher, der mit dem Wasser aus dem Ozean der Liebe gefüllt ist. Liebe aber ist der Ozean selbst, mit unendlichen Ufern und unendlichen Tiefen, und jeder bekommt von diesen Ozean so viel, wie in den Becher hineinpasst, den er mitbringt.“