Читать книгу Ein Tag mit der Liebe - Mohsen Charifi - Страница 13

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Die Geburt der Macht

Der Weg, den Liebe und Verliebtheit entlanggingen, führte zu einer hölzernen Brücke über einen flachen Bach mit klarem und sanft plätscherndem Wasser. Die Ufer waren dicht mit Schilf und Gräsern, mit Brennnesseln und wilden Blumen bewachsen. Sonnenstrahlen schienen durch die Blätter bis zum Bachbett und bunt schimmernde Libellen schwirrten in alle Himmelsrichtungen. Ein kleines Stück Paradies. Als Liebe und Verliebtheit an dieser Brücke ankamen, blieben sie, als hätten sie es abgesprochen, stehen, lehnten sich über das Geländer und verfolgten das Treiben rund um den Bach.

Im Vergleich dazu, was Liebe sein könnte, die Sonne, so unerreichbar fern, der Ozean, so unendlich groß, kam sich Verliebtheit so klein und nichtig vor und flüsterte vor sich hin:

„Ich bin wohl immer noch da, wo ich schon immer gewesen bin und weit von der Liebe entfernt.“

„Oh nein, du hast schon den ersten Schritt zur Liebe getan, denn du weißt jetzt, das Licht ist nicht die Sonne und ein voller Becher nicht der Ozean. Du bist viel weiter als jemals zuvor.“

„Obwohl ich mich wirklich sehr darüber freue, dass ich weiter bin, frage ich mich allerdings: weiter wovon und näher woran?“

Liebe fand diese Äußerung von Verliebtheit nicht nur witzig, sondern auch scharfsinnig. Deshalb schmunzelte sie und antwortete darauf:

„Wirklich eine gute Frage. Du bist da weiter, wo sich deine Gedanken nicht mehr ausschließlich um deinen Rucksack drehen. Und näher bist du am Verstehen, Begreifen und Aufnehmen, auch wenn du es noch nicht merkst, du bist näher an der Leichtigkeit und der Unabhängigkeit, näher an …“

Verliebtheit ergänzte den Satz von Liebe: „Und näher an der Liebe!“, und war sehr überrascht, dass Liebe nicht sofort zustimmte, denn Liebe schwieg nur. Dieses Schweigen verunsicherte Verliebtheit und sie vermittelte dies, ohne zu zögern:

„Jetzt bin ich aber wirklich sehr enttäuscht, denn eigentlich war ich überzeugt davon, dass wir uns nähergekommen sind.“

„Menschlich ja, aber nicht, was unser Wesen betrifft. Du hast ja selbst an den Beispielen Grün und Schönheit erfahren, dass das Wesen der Dinge …“

Da hob Verliebtheit ihre Hand.

„Ich mag jetzt nicht mehr weiterhören.“

Sie verspürte gemischte Gefühle. Einerseits war sie traurig, dass sie Liebe nicht so nah war, wie sie gedacht hatte. Andererseits war das Gefühl der Bestätigung durch das Lob, dass sie jetzt viel weiter sei, sogar weiter als jemals zuvor, größer als ihre Enttäuschung und die Freude größer als die Trauer. Deshalb war sie beschwingt und ging ihrem Spieltrieb nach. Sie hob ein paar kleine Steine auf, lehnte sich erneut über das Geländer und versuchte, ein paar lose Blätter, die unter der Brücke vorbeischwammen, zu treffen.

Das Geräusch, das die fallenden Steine beim Aufprall auf das Wasser erzeugten, machte Verliebtheit mit großem Vergnügen nach: „Flopp, flopp, flopp“, und dabei lachte sie.

Plötzlich flog eine ziemlich große Libelle dicht an ihrem Gesicht vorbei. Verliebtheit erschrak und beugte sich reflexartig nach hinten. Durch das Gewicht ihres Rucksacks verlor sie ihr Gleichgewicht und trotz des Bemühens von Liebe, sie festzuhalten, fiel sie hin. Ihr Rucksack verhinderte jedoch, dass sie mit dem Hinterkopf aufprallte und sich dabei verletzte.

„Da war ja wieder ein Flopp!“, sagte Verliebtheit lachend und stand auf. Sie fuhr sich mit ihren Fingern durch die Haare, um trockene Blätter und Sonstiges daraus zu entfernen, und meinte mit einem verschmitzten Lächeln:

„Na siehst du, wenn ich meinen Rucksack nicht gehabt hätte, hätte ich mir ganz schön wehgetan.“

„Wer weiß. Wenn du keinen Rucksack getragen hättest, hättest du vielleicht dein Gleichgewicht gar nicht erst verloren und wärest auch nicht hingefallen.“

Verliebtheit ging nicht auf das ein, was Liebe gesagt hatte, und reagierte nur mit einer abweisenden Handbewegung.

„Apropos mein Rucksack: Mir fällt gerade ein, du bist mir noch eine Antwort schuldig. Du weißt doch, was meine Spielzeuge alles mit mir anstellen. Du hast es ja auch selbst erlebt. Deshalb hatte ich dich nach unserem Ratespiel gefragt, ob du mir helfen könntest. Ich wollte von dir wissen, warum sich meine Spielzeuge so etwas erlauben, und warte immer noch auf eine Antwort von dir.“

Mit Bedauern im Gesicht, aber Gewissheit in der Stimme erwiderte Liebe:

„Deine Spielzeuge erlauben sich deshalb so etwas, weil sie die Erlaubnis dazu bekommen haben.“

Verliebtheit, die fest davon überzeugt gewesen war, dass Liebe sie jetzt trösten und das komische Benehmen ihrer Spielzeuge tadeln würde, war sichtlich enttäuscht über diese Antwort, die sie als wenig einfühlsam empfand. Sie gewann den Eindruck, dass Liebe eher Verständnis für ihre Spielzeuge als für sie selbst hatte, und so fragte sie empört:

„Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“

„Natürlich auf deiner.“

„Warum sagst du dann, dass meine Spielzeuge das Recht haben, mich so fertigzumachen?“

„Ich habe nicht gesagt, dass deine Spielzeuge das Recht dazu haben. Ich habe gesagt, dass sie die Erlaubnis dazu bekommen haben.“

„Was soll das?! Das ist doch das Gleiche. Ich glaube, du spielst gern mit Worten.“

„Nein. Ich spiele nicht mit Worten, sondern ich fülle die Lücken, die sie hinterlassen.“

„Du meinst wie ein Zahnarzt?“

„Wenn du es so sehen willst, ja. Wie ein Zahnarzt. Denn Lücken, die offen bleiben, werden zu Quellen der Fäulnis.“

„Schon gut“, erwiderte Verliebtheit. Sie schluckte die plötzliche Empfindung von Leere in ihrem Mund herunter und verlangte entschieden:

„Nun sag doch endlich, wer meinen Spielzeugen das Recht gibt, mit mir zu spielen, und die Macht, über mich zu bestimmen!“

„Du selbst. Du gibst ihnen das Recht, mit dir zu spielen, du gibst ihnen die Macht, weil du sie brauchst. Denn das, was du brauchst, hat Macht über dich.“

Mit zusammengezogenen Augenbrauen erwiderte Verliebtheit leise, aber wütend:

„Was für ein Unsinn! Ich liebe meine Erinnerungen und meine Sehnsüchte, vor allem aber meine Hoffnungen, auch wenn sie mich manchmal ärgern. Genau wie eine Mutter, die ihre Kinder liebt, auch dann, wenn sie manchmal nicht artig sind. Ich bin froh, dass ich sie habe, und es ist mein freier Wille, dass ich sie brauche. Daher kann von einer Macht, die sie über mich haben sollen, nicht die Rede sein.“

„Ich glaube dir, dass du deine Erinnerungen liebst – aber nur ihre schöne Seite. Doch ihre hässlichen Seiten sind ja auch da! Ich glaube dir, dass du deine Hoffnung brauchst wie eine wärmende Decke im kalten Frost deiner einsamen Stunden. Was passiert aber, wenn sich deine Hoffnung in Enttäuschung verwandelt? Dann bist du frustriert, wütend und leidest.“

In diesem Moment schaute Liebe sich auf dem Boden um, nahm ein großes Blatt und reichte es Verliebtheit mit der Bitte: „Nimm die beiden Seiten dieses Blattes auseinander und lege jede Seite auf eine meiner Hände.“

Da guckte Verliebtheit ungläubig und bemerkte verwundert:

„Wie soll das denn gehen? Es ist doch unmöglich die beiden Seiten eines Blattes voneinander zu trennen.“

„Genau das versuchst du jedoch mit deinen Hoffnungen. Für dich ist Hoffnung nicht ein Blatt mit zwei Seiten, sondern du siehst nur die eine Seite, die schöne Seite, die deine Hoffnung ausmacht. Jedes Blatt hat aber immer zwei voneinander untrennbare Seiten. Es gibt auch die hässliche. Ich habe ja gesehen, was passiert ist, als deine verwandelte Hoffnung wieder in den Rucksack hineinschlüpfte. Du hast hilflos zugesehen und hattest keinen Einfluss darauf und keine Macht, es zu verhindern. Die Macht, die du verloren hast, haben jetzt deine Spielzeuge; daher kommt die Macht, die sie über dich haben …“

Ein Tag mit der Liebe

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