Читать книгу Ein Tag mit der Liebe - Mohsen Charifi - Страница 8
ОглавлениеSpielzeuge der Verliebtheit
Es war noch sehr früh am Morgen. Die Sonne stand tief am Horizont, der Himmel war klar und wolkenlos. Alles sprach dafür, dass es ein schöner Sommertag werden würde.
Inzwischen hatte sich Verliebtheit einige Schritte von Liebe entfernt hingesetzt. Sie war noch immer in Gedanken versunken und spürte weder den sanften Wind, der mit ihren langen schwarzen Haaren spielte, noch hörte sie den leisen Gesang der Vögel von den fernen Bäumen.
Die Begegnung mit Liebe, so kurz sie bisher auch gewesen war – nur ein paar Sätze am Rande eines Weges, nur ein paar Fragen hastig aufgeworfen, nur ein paar Antworten knapp wie ein Atemzug, doch irgendwie gewaltig wie ein Orkan –, hatte wie ein Blitz in Verliebtheit eingeschlagen. Dass Liebe sie angeblich kannte, ihren Namen wusste, dass sie für Liebe so durchsichtig wie ein Glas Wasser und so durchschaubar war, verunsicherte sie. Dass Liebe ihre Geheimnisse kennen könnte, machte Liebe geheimnisvoll. Verliebtheit war wütend auf Liebe, weil sie sich ihr unterlegen fühlte. Sie musste sich aber auch eingestehen, dass Liebe sehr viel Wärme und Herzlichkeit ausstrahlte und so liebevoll mit ihr umging. Obwohl Verliebtheit die Gedanken und Äußerungen von Liebe nicht ganz verstehen konnte und vielleicht auch gar nicht verstehen wollte, wunderte sie sich, warum diese sie dennoch so berührten und ihr unter die Haut gingen.
Sie konnte sich all das, was Liebe in ihr ausgelöst hatte, nicht so recht erklären, doch etwas tief in ihrem Herzen flüsterte: ‚Du kannst Liebe trauen und du solltest dich ihr öffnen.‘ Dies beruhigte Verliebtheit weitgehend, beseitigte aber ihr Unbehagen und ihre Skepsis Liebe gegenüber nicht restlos. Dennoch flüsterte das Etwas in ihr lauter: ‚Vielleicht kommt das Glück mit der Liebe.‘
Nach ein paar Minuten griff Verliebtheit nach ihrem Rucksack und dachte dabei: ‚Ach, das Ding zwischen mir und der Liebe‘, und schmunzelte.
Sie entfernte behutsam ein paar trockene Grashalme vom Rucksack und legte ihn auf ihren Schoß. Sie schloss ihre Arme um ihn und beugte sich darüber, so als würde sie ihren Rucksack umarmen, beschützen oder gar verschlingen wollen.
Einige Minuten verweilte Verliebtheit in dieser Haltung, bevor sie sich aufrichtete und Liebe fragte:
„Du bist mir doch nicht böse, dass ich vorhin so grob zu dir gewesen bin, oder?“
„Nein, keinen Augenblick.“
„Dann können wir wieder miteinander reden?“
„Ja, immer, immer wenn du willst.“
„Gut so. Ich habe gemerkt, dass du einiges über mich weißt, du kanntest sogar meinen Namen. Du weißt aber bestimmt nicht, wie ich meinen Rucksack nenne, oder?“
„Vielleicht ‚die Kiste deiner Spielzeuge‘?“
Verliebtheit war so davon überzeugt gewesen, dass Liebe nicht wissen würde, wie sie ihren Rucksack nannte. Daher war sie nicht nur überrascht, sondern auch wieder überaus verärgert.
„Ja, stimmt“, sagte sie unwillig und fuhr fort:
„Ja, das ist die große Kiste meiner Spielzeuge. Und sie ist mein Ein und Alles. Ich hänge eben an meinem Rucksack, und wie du siehst, ist er auch mein einziger Begleiter. Hier drin habe ich nicht nur meinen Proviant für unterwegs. Hier drin ist auch alles, was ich für mein Leben brauche. Auch bei mir zu Hause trage ich ihn immer bei mir.“
Liebe nickte nur und hörte aufmerksam zu.
Verliebtheit fuhr trotzig fort:
„Aber du kannst bestimmt nicht erraten, was ich alles in meinem Rucksack habe, oder?“
„Oh doch, auch das weiß ich. Ich weiß sogar um ein ganz kleines Päckchen in deinem Rucksack, das du noch nicht einmal ausgepackt hast.“
Verliebtheit, noch verärgerter als zuvor, erwiderte:
„Woher willst du das denn alles wissen? Du kennst mich ja nur seit ein paar Minuten!“
„Das ist nicht wahr. Ich sagte dir bereits, dass ich selbst einmal eine Verliebtheit gewesen bin, so etwa wie du heute eine bist. Daher weiß ich auch, wie du lebst und wovon du glaubst, es wie Wasser und Brot zum Überleben zu brauchen. Ich habe früher auch solch einen Rucksack gehabt und ihn überall mitgeschleppt, und genau wie du habe ich auch gedacht, dass ich auf keinen Fall ohne ihn leben könnte.“
Entsetzt darüber, dass Liebe sie viel mehr durchschaute, als sie gedacht hatte, wandte Verliebtheit ihr Gesicht ab, griff in ihren Rucksack und holte eines ihrer Spielzeuge heraus.
Es war etwas, das aus vielen kleinen und großen Teilen zusammengesetzt war. Einige Teile waren überzogen mit hellen und strahlenden Farben und andere wiederum waren matt und dunkel. Die Übergänge waren scharf getrennt, doch an einigen Stellen verschmolzen die Teile miteinander und ihre Farben vermischten sich.
Verliebtheit streichelte es und zog an dieser oder jener Ecke ihres bunten Spielzeugs. Je nachdem, welche Ecke sie anschaute und berührte, lächelte sie oder wurde nachdenklich. Bei einer bestimmten Ecke verweilte sie lange und ihr Gesicht überzog sich mit einem Schleier von Trauer. Als die ersten Tränen in ihre großen dunklen Augen traten, warf Verliebtheit das bunte Spielzeug in ihren Rucksack zurück und holte ohne hineinzuschauen ein zweites heraus.
Dieses Spielzeug war nicht bunt, eher dunkelgrau, fast schwarz. Anstelle von runden Ecken hatte es scharfe Kanten und verschiedenartige Stacheln, kurze und lange und einige mit Widerhaken. Am Gesichtsausdruck von Verliebtheit war ersichtlich, dass sie ihre Hand verletzten. Dann nahm sie dieses dunkelgraue schmerzende Spielzeug in die andere Hand. Der Bewegung ihrer Lippen war zu entnehmen, dass sie etwas sagte, doch sie sprach leise, damit Liebe es nicht hören konnte. Als ihre Hände anfingen zu bluten und Verliebtheit die Schmerzen kaum mehr aushalten konnte, warf sie auch dieses Spielzeug in ihren Rucksack zurück.
Liebe, die das Geschehen mit Sorge verfolgt hatte, fragte vorsichtig:
„Möchtest du, dass ich mich um deine Wunden kümmere?“
„Nein! Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten“, sagte Verliebtheit trotzig. „Außerdem, solche Schmerzen bin ich gewöhnt.“
Liebe wusste um die Gefühlsschwankungen von Verliebtheit. Oft folgten von einer Minute auf die andere ihren tränenden Augen lächelnde Lippen und ihrer Traurigkeit Freude. Daher war Liebe nicht überrascht, als Verliebtheit nach einer kurzen Pause mit einem versteckten Lächeln, das noch die Reste ihrer Traurigkeit enthielt, äußerte:
„Du könntest aber etwas anderes für mich tun. Du könntest mich von meinem Schmerz ablenken und mich ein bisschen aufmuntern. Wir spielen ein Ratespiel. Ich stelle Fragen und du musst die Antworten dazu finden.“
Liebe hatte nur allzu oft erlebt, dass es wenig hilft, sich von den Schmerzen bloß abzulenken, ohne die Wunden zu heilen, aus denen die Schmerzen entspringen. Doch sie wusste auch, dass es für die Heilung der Wunden von Verliebtheit noch zu früh war, aber der richtige Augenblick, um sich wenigstens um ihren Schmerz zu kümmern. Daher schwieg sie und stimmte mit einem Nicken zu.
„Weißt du, wie das dunkle Spielzeug heißt, dem ich meine blutenden Hände zu verdanken habe?“
Mit einer besänftigenden Geste antwortete Liebe: „Enttäuschung!“
‚Das ist doch nicht möglich!‘, fluchte Verliebtheit innerlich. Trotzdem neugierig, ob Liebe das nächste Spielzeug erraten würde, verbunden mit der Hoffnung, dass es ihr diesmal nicht gelingen würde, sagte Verliebtheit mit erhobenem Zeigefinger:
„So, das nächste wirst du bestimmt nie erraten! Wie heißt das Spielzeug, mit dem ich zuerst gespielt habe?“
„Du meinst das bunte Spielzeug mit den vielen kleinen und großen Teilen? Dieses Spielzeug heißt Erinnerung.“
Verliebtheit war nicht nur beeindruckt, sie war sogar schockiert, dass Liebe auch das gewusst hatte, und konnte sich das beim besten Willen nicht erklären.
Dann machte Verliebtheit ihren Rucksack ganz auf und wühlte lange darin herum. Dabei fiel ihr nach längerer Zeit wieder das kleine Päckchen, das sie nie geöffnet hatte, in die Hände. Auch jetzt war ihr, wie so oft, nicht danach, es auszupacken; sie schob es zur Seite und wühlte weiter. Es war klar, dass sie diesmal etwas ganz Bestimmtes suchte. Schließlich holte sie ein drittes Spielzeug heraus, ihr Lieblingsspielzeug. Dieses Spielzeug war nicht nur bunter als die Erinnerung, es glitzerte und funkelte auch, als wäre es mit Diamanten besetzt. Doch es hatte keine klaren Konturen. Es war weich wie ein Schwamm, etwas Gummiartiges, etwas Verformbares, an dem Verliebtheit ziehen und drücken konnte, sodass dieses Spielzeug fast jede Gestalt annahm, die sie wollte.
Verliebtheit drückte dieses Spielzeug an ihr Herz, schloss die Augen und verweilte einen Augenblick lang in dieser Haltung. Es sah so aus, als würde sie träumen, jedenfalls wirkte sie sehr abwesend. Langsam wichen auch die letzten Spuren von Trauer und Schmerz aus ihrem Gesicht. Einen Augenblick lang wirkte sie entspannt, gelöst und beinahe glücklich.
Dann öffnete Verliebtheit ihre Augen, lächelte das Spielzeug, das sie in ihren Händen hielt, an und sagte zu ihm:
„Glaubst du, dass Liebe auch deinen Namen kennt?“
Kaum hatte sie das gesagt, da spürte sie auch schon, dass sie keine Lust mehr auf dieses Ratespiel hatte. Sie dachte nur:
‚Wie soll man mit jemandem ein Ratespiel spielen, der alles weiß und nicht einmal raten muss?‘
Deshalb sagte sie, ohne ihren Kopf zu drehen und Liebe anzuschauen:
„So wie ich dich mittlerweile kenne, wirst du wohl auch wissen, wie dieses Spielzeug hier in meiner Hand heißt. Ich werde dich auch gar nicht erst danach fragen und du brauchst es auch nicht schon wieder zu erraten. Ich werde dir selbst sagen, wie dieses dritte Spielzeug heißt: Es heißt Hoffnung.“
Wie hätte Liebe das nicht wissen können? Denn kein Spielzeug ist wie die Hoffnung, so bunt, strahlend, weich und mit veränderlicher Gestalt. Als sie selbst eine Verliebtheit gewesen war, war gerade die Hoffnung auch ihr Lieblingsspielzeug gewesen. Denn die Hoffnung war die Wärme, die sie aus der Kälte ihrer Einsamkeit rettete, das Licht in der Dunkelheit ihrer Angst und die Brücke zum Glück. Die Hoffnung war ihr vertrautestes Spielzeug. Daher ahnte sie, was gleich passieren würde, und schaute Verliebtheit, die mit der Hoffnung in ihren Händen verschmolzen schien, voller Sorge an.
Da fing das Spielzeug Hoffnung auch tatsächlich an, sich zu verändern. Es verlor seinen Glanz, seine Gestalt und seine bunte Farbe. Es wurde stachelig und dunkelgrau, fast schwarz wie die Nacht. Die Hoffnung hatte sich in Enttäuschung verwandelt.
Obwohl Verliebtheit diese Verwandlung schon so oft erlebt hatte, wollte sie sich damit nicht abfinden. Verzweifelt und verbittert warf sie das schwarze Ungetüm in ihren Händen weg, weit weg von ihrem Rucksack und weit weg von sich. Die zur Enttäuschung gewordene Hoffnung blieb aber dort nicht liegen, sie rollte zurück und schlüpfte wieder in den Rucksack hinein.
Da drehte sich Verliebtheit um und fragte Liebe völlig aufgelöst:
„Hast du das gesehen?! Hast du das gesehen?! Das passiert mir so oft! Fast jedes Mal, wenn ich traurig bin und versuche, mich durch das Hoffnungsspiel abzulenken, oder wenn ich einfach nur Freude habe, damit zu spielen, verwandelt es sich. Manchmal in Enttäuschung, was mich verbittert und wütend macht, und manchmal in eine Art grauen Nebel, der sich ausbreitet und überall niederschlägt. Alles erscheint dann grau und trostlos. Ich bin dann so verzweifelt, komme mir so haltlos vor und bekomme Angst. Doch am schlimmsten ist es, wenn sich das Hoffnungsspiel verwandelt und ich es wegwerfe, aber es einfach zurück in meinen Rucksack schlüpft. Egal wie weit ich es auch wegwerfe, werde ich die Hoffnung nicht los.“
Der fragende Blick von Verliebtheit veranlasste Liebe zu der Äußerung:
„Vielleicht wirst du die Hoffnung deshalb nicht los, weil du sie nur mit den Händen wegwirfst, aber im Herzen behältst.“