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5.
Mein Bild von dir stammt aus meinem Farbkasten

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Die Euphorie, den anderen endlich gefunden zu haben, und das zauberhafte Gefühl der Verliebtheit sind die bunten Blüten des gerade Wurzel fassenden Pflänzchens, also der frischen Beziehung. Nach und nach aber stellt sich heraus, dass dieses Pflänzchen nicht nur Blüten, sondern auch Dornen hat. Deshalb wollen wir uns jetzt auch mit realen Beziehungen beschäftigen, die nicht nur friedliche und harmonische Augenblicke und sonnige Tage, sondern auch Konflikte und Enttäuschungen in sich tragen. Dabei sollen diejenigen Prozesse angeschaut werden, die schon in der Frühphase einer Beziehung ansetzen, ihren Verlauf beeinflussen und zuweilen sogar ihren Ausgang bestimmen. Ein uns bereits vertrautes Beispiel für solche Prozesse ist die Verliebtheit. Es gibt jedoch noch etwas, einen weiteren Prozess, der ebenso wie Verliebtheit von Anfang an die Beziehung prägt, der aber im Gegensatz dazu unterschwellig und gänzlich unbewusst abläuft. Hinzu kommt, dass Verliebtheit im Verlauf der Beziehung an Macht und Zauber verliert, während dieses Etwas an Wirkung und Dominanz gewinnt. Begeben wir uns nun auf die Suche nach diesem Etwas.

Der Mensch ist ein Herdentier und ein soziales Wesen. In allen Bereichen seines Lebens ist er darauf angewiesen, mit anderen Menschen zu kommunizieren und zu kooperieren. In dieser ständigen Begegnung und diesem fortlaufenden Austausch mit anderen ist es als Überlebensstrategie in uns angelegt, so schnell wie möglich zu erkennen, wer einem nutzt und wer einem schadet – also wer Freund und wer Feind ist, entsprechend dem Beute-Jäger-Schema in der Tierwelt.

Um das zu erreichen, machen wir uns Bilder von Menschen. Dieses Konzept basiert, wie bereits erwähnt, auf einem evolutionsbiologischen Prinzip, dessen Wirkung sich vom physischen Überleben bis hin zur sozialen Anpassung erstreckt und den Umgang mit Menschen erst ermöglicht. Diese Bilder gestalten wir, indem wir schon die ersten Signale, die andere senden, mit unserem Maßstab bewerten und entsprechend die ersten Striche unserer Bilder mit den Farben aus unserem Farbkasten ziehen. Es zeigt unsere Bewertung, ob wir fröhlich-bunte oder bedrohlich-dunkle Farben verwenden. Und damit unterscheiden wir unmittelbar zwischen Freund und Feind und können entsprechend handeln. Dass wir aus Menschen Bilder machen ist so essentiell, dass es in der Biologie als „biologisches Ökonomieprinzip“ bezeichnet wird.

In weiteren Auseinandersetzungen verdichten sich schon in der Frühphase einer Beziehung die ersten Striche zu einem fertigen Bild, also zu einer relativ abgeschlossenen Auffassung, die man von dem anderen hat. Das ist der Beginn des verborgenen Irrtums von „Man kennt sich jetzt“.

Wie alles andere im Leben hat aber auch das Konzept, aus Menschen Bilder zu machen und mit diesen Bildern zu leben, zwei Seiten: eine notwendige und nützliche, die bereits besprochen wurde, und eine destruktive Seite, die wir uns jetzt ansehen wollen. Das Bild vom anderen enthält nicht nur das, was wir an ihm als positiv empfinden, sondern ebenso das, was wir für negativ halten. Wir neigen dazu, in Konfliktsituationen die negativen Seiten dieses Bildes als Ursache der Konflikte zu sehen. Hierzu zwei Beispiele aus Beziehungen, die schon seit längerer Zeit existieren.

Im ersten Beispiel ist der Mann zu Beginn der Beziehung einige Male zu spät zu Verabredungen erschienen oder hat sie kurzfristig abgesagt und einige Vereinbarungen konnte er nicht einhalten. Aus der Summe dieser Ereignisse macht sich seine Partnerin ein Bild von ihm, das ihm den Stempel „Er ist unzuverlässig“ aufdrückt. Dieses Bild bleibt und dient auch in Zukunft als Maßstab dessen, wie sie das Verhalten ihres Partners bewertet. Alle Situationen, in denen er unvermeidbar nicht pünktlich sein kann, weil er zum Beispiel durch einen Autounfall aufgehalten wird, ändern ihre Einstellung nicht. Die Bewertung bleibt: „Er ist unzuverlässig.“

Im zweiten Beispiel hat ein Mann erlebt, dass seine Partnerin zwei Einladungen, die ihr überhaupt nicht passten, nicht abgesagt hat. Außerdem kaufte sie das Auto, das ihr Vater empfohlen hatte, und nicht das, welches sie selbst haben wollte. Und einen dreitägigen Urlaub, der lange geplant war, sagte sie ab, um einen Kollegen zu vertreten. Das Bild, das er sich nun von seiner Frau gemacht hat, ist: „Sie kann nicht Nein sagen, sich nicht wehren und setzt keine Grenzen. Sie ist schwach.“

An einem gemütlichen Abend, als er sich mit seiner Frau einen spannenden Film anschaut, ruft eine ihrer Freundinnen an. Nach dem Telefonat sagt sie unmittelbar: „Ich muss zu ihr fahren!“ Der erste Gedanke des Mannes ist: „Typisch! Sie kann wieder nicht Nein sagen.“ Er ist wütend und enttäuscht, ohne sich auch nur eine Sekunde darüber Gedanken zu machen, warum seine Frau direkt zu ihrer Freundin fährt.

Wie diese Beispiele zeigen, bestimmen die Bilder, die wir uns von anderen Menschen gemacht haben, unsere Wahrnehmung, Bewertung und unsere Erlebnisse –nicht aber die konkreten Ereignisse und der reale Mensch. Dadurch reagieren und handeln wir auf einer Basis, die wenig an der Wahrheit des Augenblickes und der Realität orientiert ist. Da ein Handeln, das in diesem Sinne nicht auf der Realität basiert, immer destruktive Folgen hat, wollen wir uns die Destruktivität dieses Handelns näher ansehen.

Dass jeder Mensch anders ist als jeder andere, ist selbstverständlich und bekannt. Auch dass wir uns ein Bild vom anderen machen und es für den anderen halten, wissen wir jetzt. Aber dieses Wissen ist nur der Samen und noch nicht der Baum, dessen Frucht das Ziel dieses Kapitels ist. Diese Frucht ist die Blüte, die entsteht, wenn die Knospe der Zeit die umhüllenden Blätter der Vergangenheit abgeworfen hat. Wie entsteht nun die Blüte des Augenblickes aus der Knospe der Zeit?

Irgendwelche Ereignisse, Situationen und Erlebnisse führten am Anfang der Beziehung dazu, dass wir uns ein bestimmtes Bild von einem Menschen gemacht haben; all das aber, worauf dieses Bild basiert, sind Ereignisse und Erlebnisse, die in der Vergangenheit stattgefunden haben. Diese haben wir gesammelt, zu einem Bild geformt und konserviert. Die Ereignisse und Erlebnisse sind zwar vorbei, aber das Bild bleibt und schiebt sich vor die reale Gegenwart und verdeckt sie. Dadurch wirft die Vergangenheit ihren Schatten auf die Gegenwart und erzeugt eine Silhouette, die wir als etwas Reales behandeln. Das heißt, das Bild von dem anderen hindert uns daran, das Vergangene von der Gegenwart zu unterscheiden, denn durch dieses Bild übertragen wir immer etwas Vergangenes auf die Gegenwart. Das erzeugt eine Gleichzeitigkeit, die irreal ist und verhindert, dass die Gegenwart angemessen behandelt werden kann.

Das Ziel ist also eine unverzerrte Wahrnehmung des Augenblickes. Mein Partner, mein ewig vertrauter Unbekannter, fordert mich auf, in jedem Augenblick wach und offen zu sein für das, was in ihm abläuft, ihm so zu begegnen, wie er im Augenblick ist, und sein Handeln als das zu sehen, wozu er in diesem Augenblick in der Lage ist. Und all das Lebendige und Verbindende dieser Augenblicke kann nicht eingeatmet werden, wenn das starre Korsett des Bildes unseren Brustkorb einengt.

Mit diesem Wissen werfen wir noch einen Blick auf die beiden obigen Beispiele. Wenn die Frau im ersten Beispiel nicht das Bild von ihrem Mann hätte, dass er unzuverlässig ist, dann würde sie, wenn er sich verspätet, mit Sorge um ihn reagieren und ihm entsprechend begegnen. Das Gleiche gilt auch für das zweite Beispiel: Wenn der Mann nicht das Bild in sich tragen würde, eine schwache Frau an seiner Seite zu haben, könnte er in dem Wunsch seiner Frau, unmittelbar nach dem Telefonat zu ihrer Freundin zu gehen, ihre liebevolle Grundhaltung und ihre Fürsorge sehen und nicht bloß die Unfähigkeit, „Nein“ zu sagen. Wie man sieht: Ohne Bilder, das heißt, ohne verzerrte Wahrnehmung des Partners und ohne die Last der Vergangenheit, laufen Beziehungen empathischer und lebendiger.

Zum Schluss eine Anregung für das Leben von einem unbelebten Objekt: Mein seelenloser Computer hat etwas Segensreiches, denn er besitzt eine Funktion, die mir die größte Freiheit erlaubt. Diese Funktion heißt „Reset“. Damit wird alles Nutzlose, Problematische und hoffnungslos Komplizierte, mit einem Wort: die unnötige Last der Vergangenheit, gelöscht und Platz für Neues geschaffen. Dieses Kapitel will darauf aufmerksam machen, dass jede Beziehung in jeder Phase über eine „Reset-Funktion“ mit der gleichen befreienden Wirkung verfügt, von der man immer wieder Gebrauch machen kann.

Fazit:

Aus einer biologischen und sozialen Notwendigkeit sind wir dazu prädestiniert, aus Menschen Bilder zu machen und mit diesen Bildern zu leben, weil dies das menschliche Zusammensein vereinfacht. Dennoch hat dieses Konzept seine Schattenseiten. Denn mit den Bildern schleppen wir die Vergangenheit mit und dadurch nehmen wir sowohl unseren Partner als auch seine Reaktionen verzerrt wahr.

Gänzlich unabhängig davon, wie lange deine Beziehung besteht und wie überzeugt du bist, dass du deinen Partner kennst: Sei dir gewiss, du hast ein Bild von ihm. Mag dieses Bild auch in vielen Aspekten und Facetten dem realen Menschen nahe kommen, dein Bild wird dennoch nie das sein, was der andere in seiner Ganzheit ist. Wenn man sich diese Tatsache bei jeder Auseinandersetzung bewusst macht, dann hat man die Möglichkeit, die Dinge realistischer zu sehen und mit der lebendigen und realen Präsenz der Gegenwart die Situationen zu meistern. Ohne starres Bild vom Partner bleibt man flexibel, wach und neugierig. Man begegnet ihm immer wieder neu, wird bereichert durch seine neuen Facetten, und so hält man die Beziehung in voller Lebendigkeit in Gang.

Die Kunst, Beziehungen in den Sand zu setzen

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