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Der erste Fehler liegt schon vor dem Anfang

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Wir haben Vorstellungen und Überzeugungen, die uns so klar und selbstverständlich erscheinen, dass wir nicht einmal auf die Idee kommen, dass etwas an ihnen nicht stimmen könnte. Ein typisches Beispiel ist die gängige Auffassung davon, was der Anfang einer Beziehung ist. Wenn man Eheleuten oder sonstigen Paaren die Frage stellt: „Wie habt ihr euch kennengelernt? Wie hat eure Beziehung begonnen?“, lautet im Allgemeinen die Antwort etwa so: „Da oder dort haben wir uns gesehen, fanden uns sympathisch, haben dann ein paar nette Gespräche geführt, waren ein paarmal essen und haben Verschiedenes unternommen. So kamen wir uns langsam näher, wurden intim und haben uns verliebt. So hat unsere Beziehung angefangen.“ So oder so ähnlich lauten die Antworten häufig.

Dennoch entsprechen solche Antworten, die sehr naheliegen und sehr plausibel klingen, nicht dem Anfang einer Beziehung. Die Ereignisse und Erlebnisse, die wir für den Anfang einer Beziehung halten, beschreiben lediglich die Abläufe in der Frühphase einer Beziehung, sind aber nicht deren Anfang. Diese Behauptung klingt etwas befremdlich, denn wenn all das, was als Anfang einer Beziehung empfunden wird, nicht deren Anfang sein soll, was ist dann der Anfang einer Beziehung?

Allgemein formuliert: Wenn man mit etwas anfängt, hält man das, was man dann gerade tut, für den Anfang dieser Sache. Bei näherem Hinschauen liegt jedoch etwas vor diesem Anfang, das diesen Anfang überhaupt in Gang gesetzt hat. Zum Beispiel steigt man in einen Zug ein und hält das für den Anfang seiner Reise. Man könnte genauso gut sagen, die Reise hat damit angefangen, in das Taxi einzusteigen, das einen zum Bahnhof gebracht hat, oder die Koffer zu packen, die man mitnimmt. Der eigentliche Anfang ist jedoch in der Absicht zu sehen, die Reise zu machen. Damit wird deutlich, dass alle anderen Handlungen aus dieser Absicht entstehen und dass sie daher nicht der Anfang der Reise sind. Genauso verhält es sich mit dem Anfang einer Beziehung. Die Begegnung mit einem Menschen entspricht dem Zug, den wir nehmen, und die Beziehung ist die gemeinsame Fahrt. Aber worin besteht hier der Anfang, der vor der Reise der Beziehung lag?

Dieses Etwas, das wir als den Anfang einer Beziehung auffassen wollen, ist ein großes Paket, gefüllt mit unserem Wertesystem, unserem Geschmack, unseren Erwartungen, Vorstellungen, Absichten, Denkmustern und damit, wie wir mit unserer Lebenssituation umgehen. Dieses Paket trägt den Namen „Persönlichkeit“.

Unsere Persönlichkeit ist die Quelle und die Basis unseres Fühlens, Denkens und Handelns. Sie bestimmt unsere Grundeinstellung gegenüber uns selbst und gegenüber der Welt um uns herum. Insofern ist unsere Grundeinstellung auch der Ausgangspunkt und die Ursache dafür, warum, mit welcher Absicht und Vorstellung und vor allem mit welchen Menschen wir überhaupt eine Beziehung eingehen.

Demnach sind nicht die Begegnung mit einer Person und die anfänglichen Ereignisse und Erlebnisse mit dieser der Beginn einer Beziehung, sondern unsere Grundeinstellung, die schon lange da ist, bevor wir uns überhaupt auf einen Menschen einlassen. Auf ihr basiert unsere Bewertung und somit unsere Wahl. Also: Nicht eine Person bestimmt unsere Wahl, sondern unsere Wahl bestimmt die Person.

Dass nicht immer unsere bewussten Entscheidungen und plausiblen Erklärungen und Begründungen, sondern weitgehend unsere unbewusste Grundeinstellung – vertrauter formuliert: unser Bauchgefühl – über das Ja oder das Nein zu einer Beziehung entscheidet, soll folgendes Beispiel verdeutlichen: Wir begegnen jemandem, der uns sehr gut gefällt. Aber etwas in uns winkt ab, warnt uns und wir lassen die Finger von dieser Beziehung. Dann begegnen wir einem anderen Menschen, an dem uns vieles stört. Aber irgendwie fasziniert er uns, er zieht uns magisch an und wir entscheiden uns trotzdem für ihn. Zwar begründen wir unser Nein oder Ja mit einer bewussten und für uns selbst plausiblen Erklärung, doch in beiden Fällen folgen wir dem ominösen Bauchgefühl, eben unserer Grundeinstellung.

Dieses Konzept liegt allen unseren Absichten und Entscheidungen zugrunde, und dies gilt nicht nur für lebensentscheidende Prozesse, sondern auch für banale, alltägliche Handlungen. Als eine Analogie zu Partnerschaften schauen wir uns ein entsprechendes Beispiel an, das den Zusammenhang zwischen bewussten Entscheidungen und deren unbewussten Ursachen, eben unserer individuellen Grundeinstellung, verdeutlichen soll. Eine Frau will sich einen Pullover kaufen und geht in ein Einkaufszentrum. Die Auswahl an Geschäften und damit an Pullovern ist riesig. Je nach ihrem Lebensstandard, ihrem Geschmack, ihrem Alter und letztlich, wie sie aufgrund ihrer Einstellung diese Dinge bewertet, sucht die Frau bestimmte Läden auf. Von den unzähligen Pullovern, die dort angeboten werden, nimmt sie ein Dutzend in die Hand, wenige davon nimmt sie mit in die Umkleidekabine mit und am Ende entscheidet sie sich für den einen, der ihr am besten gefällt. Oder sie ist mit ihrer Freundin unterwegs und entdeckt zufällig in einem Schaufenster einen Pulli, der sie besonders anspricht. Sie geht in das Geschäft und kauft ihn direkt, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt eigentlich gar keinen Pullover gesucht hat.

Entscheidend ist, dass ihre Grundeinstellung und damit unter anderem auch ihr Geschmack in beiden Fällen schon da waren, bevor sie überhaupt die Absicht hatte, einen Pullover zu kaufen. Allein die Tatsache, dass sie der Meinung war, sie könnte einen neuen Pullover brauchen, ist eine unbewusste Folge ihrer Einstellung, denn bei einer anderen Einstellung würde dieses Bedürfnis vielleicht gar nicht entstehen. Und das Gleiche gilt für jeden weiteren Schritt und jede weitere Entscheidung. Aus der Sicht dieser Frau waren ihr Geschmack, ihr Bedürfnis und ihr Wille die Gründe für den Kauf des Pullovers. Wie schon erwähnt, weiß sie jedoch in Wirklichkeit selbst nicht einmal, weshalb sie diesen Geschmack und diesen Willen hat. Denn ihre Beweggründe sind die Folge der Bewertung von Dingen, die gänzlich unbewusst abläuft.

Dieses Muster weist identische Elemente mit den Überlegungen auf, die wir bei der Suche nach dem Anfang einer Reise angestellt haben. Einem ähnlichen Muster folgen wir auch bei der Wahl eines Partners, und jeder Schritt bei dem Kauf des Pullovers kann im Großen und Ganzen darauf übertragen werden. Das Einkaufszentrum entspricht den Menschen, die es in unserem weiteren Umfeld gibt, und die Läden, welche die Frau aufsucht, unserem Arbeitsumfeld, unseren Hobbys, die wir zusammen mit anderen pflegen, Partys und so weiter. Die Pullover, die sie prüfend in die Hand genommen hat, lassen sich vergleichen mit Gesprächen, ein paar Treffen und gemeinsamen Unternehmungen und vielleicht auch Intimität; jene Pullover, welche die Frau in der Umkleidekabine liegen gelassen hat, entsprechen Beziehungen, die irgendwie doch nicht gepasst haben und beendet sind, und der gekaufte Pullover symbolisiert den Menschen, mit dem wir eine längere Beziehung oder eine Ehe eingegangen sind. Analog zu der Begründung, die diese Frau für die Wahl ihres Pullovers hatte, kreieren wir Begründungen für die Wahl unseres Partners. Häufig hört man als Gründe dafür Sympathie, das Aussehen, den sozialen Status, Sexualität, bestimmte Charakterzüge et cetera. Aber wie wir wissen: Auch hier ist unsere Grundeinstellung die treibende Kraft, die unsere Wahl bewirkt.

Was haben wir durch diese beiden Beispiele erreicht? Durch das erste Beispiel, die Reise mit dem Zug, wurde deutlich, dass ein Anfang nicht eine Handlung, sondern eine Absicht ist. Durch das zweite Beispiel, den Kauf eines Pullovers, haben wir gesehen, dass nicht die bewusste Begründung, warum wir so handeln, wie wir handeln, sondern unsere Einstellung der wahre Grund und die eigentliche Ursache unseres Handelns ist. Aus der Analogie, die jedes dieser Beispiele mit einer Beziehung aufweist, folgt: Der Anfang einer Beziehung ist nicht das, was wir für deren Anfang halten, sondern der Antrieb, unsere bewussten Bedürfnisse zu befriedigen. Zweitens basiert unsere bewusste Entscheidung für eine Beziehung auf unserer Grundeinstellung, die uns wiederum gänzlich unbewusst ist.

Da weder der Anfang noch die Quelle der Absicht, aus der wir eine Beziehung eingehen, klar ist, liegt es nun nahe, davon auszugehen, dass sich Fehler einschleichen. Mit der Auswirkung unserer Absichten auf unsere Beziehung beschäftigen wir uns in den weiteren Kapiteln. In diesem Kapitel liegt der Fokus auf dem Fehler, der sich daraus ergibt, dass wir auf einem Anfang aufbauen, der gar kein Anfang ist. Als Beispiel dafür betrachten wir einen Mann, Herrn Fixiert, und schauen, mit welcher Einstellung und wie er eine Beziehung aufbaut.

Herr Fixiert hat eine klare Vorstellung davon, welche Eigenschaften seine zukünftige Frau haben soll: Er schwärmt von einer Frau, die klassische Musik liebt, Akademikerin ist und pechschwarze, ins Bläuliche schimmernde Haare hat. Es bedarf keiner näheren Erklärung, wie lange es dauert und wie viele Frauen Herrn Fixiert begegnen müssen, bis ein so hochgebildetes musikalisches Geschöpf mit schwarzen Haaren, wie er es sucht, auftaucht. Wir gehen davon aus, dass diese geringe Wahrscheinlichkeit eines Tages doch eintritt und er einer solchen Frau begegnet. Die Euphorie, endlich seine ideale Frau gefunden zu haben, gibt ihm die Kraft und die Entschlossenheit, alles zu tun, um sie für sich zu gewinnen.

Nach ein paar netten Gesprächen kommt es zu einem ersten gemeinsamen Abendessen in einem feudalen Restaurant. Die Freude über das Wiedersehen ist groß; der Rest des Abends verläuft jedoch nicht gerade schön. Sie reagiert auf fast alles genervt und patzig. So regt sie sich unter anderem darüber auf, dass sie wegen des vollen Restaurants einige Minuten auf einen freien Tisch warten müssen und dass anschließend der Ober auch auf das zweite Rufen nicht reagiert. Sie bestellt deshalb den Geschäftsführer und macht ein großes Theater. Darüber hinaus trinkt sie zunächst ein Glas Prosecco, dann ein Glas Wein – und weil dieser ihr schmeckt, bestellt sie eine ganze Flasche, die sie fast alleine leert. Mit solchen und ähnlichen Ereignissen wird Herr Fixiert auch in der folgenden Zeit oft konfrontiert.

Herr Fixiert registriert natürlich schon bei den ersten Begegnungen, dass seine Begleiterin ungeduldig, aggressiv und egoistisch reagiert und auch, dass sie im Übermaß Alkohol trinkt. Aber angesichts seiner Überzeugung, eine Frau mit idealen Eigenschaften und Merkmalen gefunden zu haben, erscheinen ihm all ihre Reaktionen, die er sonst für unangemessen halten würde, als bedeutungslose und unwichtige Kleinigkeiten. Deshalb umhüllt er all ihre Schwächen mit dem Schleier des Verständnisses. Die Anziehung durch ihre idealen Eigenschaften ist eben viel stärker als die Abstoßung durch ihre negativen Wesenszüge.

Erst nach und nach, wenn Zukunft zur Gegenwart wird, verlieren die idealen Merkmale ihren Zauber und das Zusammenleben mit dem realen Menschen bestimmt den weiteren Verlauf der Beziehung. Jetzt hat Herr Fixiert eine Frau mit den gewünschten Eigenschaften an seiner Seite, doch das Leben mit ihr ist nicht das Leben, von dem er geträumt hat. Er fällt in die tiefe Schlucht zwischen dem idealen und dem realen Menschen. Herr Fixiert zahlt den Preis für den Fehler, den er schon vor Beginn der Beziehung gemacht hat: nämlich die Einstellung, dass eine Frau mit bestimmten Eigenschaften eine ideale Partnerin wäre. Durch diese Einstellung war er fixiert auf äußere Eigenschaften und hatte keinen ungetrübten Blick auf den Menschen hinter den Eigenschaften. Diese Einstellung hatte er wohl schon bemerkt, bevor er dieser Frau begegnet ist. Mit anderen Worten: Er hat an eine bunte Tür geklopft, die ihm gefiel, und diese Tür zu seiner Gefährtin gemacht. Doch der Mensch hinter der Tür wurde nicht seine Begleiterin.

Worin liegt nun die gewinnbringende Erkenntnis aus dieser Geschichte? Diese Erkenntnis trägt den Namen „Bewertungsbrille“. Wie bereits erwähnt, ist unsere Persönlichkeit die Basis und der Ausgangspunkt all unserer Empfindungen, Entscheidungen und Handlungen. Sie ist uns zwar in ihrer Komplexität und in all ihren Auswirkungen nicht bewusst, dennoch bewirkt sie, wie wir uns und die anderen sehen. Damit sehen wir die Welt so, wie wir sind. Jeder Mensch trägt sozusagen in jeder Lebenssituation und in jedem Augenblick eine Bewertungsbrille. Je nach seiner Persönlichkeit hat die Bewertungsbrille in einer Situation jedoch sehr dicke Gläser, ist stark gefärbt und verzerrt alles, während ihre Gläser in anderen Situationen nur zu geringen Verfärbungen der Realität führen. Zum Beispiel reduzierte die Bewertungsbrille von Herrn Fixiert einen realen Menschen auf wenige Eigenschaften und verzerrte seine Wahrnehmung sehr stark, was folgenschwere Auswirkungen hatte.

Wenn sich unser Streben bei der Begegnung mit einem Menschen lediglich darauf konzentriert, unseren anfänglichen Impulsen unreflektiert zu folgen, das heißt, die Welt nur durch unsere Bewertungsbrille zu sehen, besteht die Gefahr, dass wir keinen Zugang zum Ursprung dessen finden, was uns antreibt, und nicht in der Lage sind, die in uns wirkenden Kräfte in die richtigen Bahnen zu lenken. Wenn sich Herr Fixiert zum Beispiel nicht die Frage stellt, warum ein paar Eigenschaften eines Menschen die Basis seiner Beziehung werden sollen, und er diese Einstellung nicht überdenkt, versäumt er die Chance, mit einem Menschen mit all seinen Facetten eine nachhaltige und harmonische Beziehung aufzubauen.

Am Rande bemerkt: Gewiss sind die sogenannten inneren Werte wie Verantwortung, Aufrichtigkeit, die Fähigkeit zur Hingabe, Toleranz und Ähnliches für eine Beziehung sehr wichtig. Das Ausmaß, in dem man diesen Werten folgt, kann aber ebenso zu einer Bewertungsbrille werden, die den Blick verengt.

Viel vertrauter für uns als dieser Fehler – das Tragen einer „Bewertungsbrille“ –, der vor dem Beginn einer Beziehung gemacht wird, ist ein anderer Fehler, der sich im frühen Stadium einer Beziehung, also in der Phase der Verliebtheit, einschleicht. Dieser Fehler trägt den Namen „Zukunftsbrille“ und bewirkt, dass anstelle der Realität die Emotionen der Verliebtheit als Basis für die gemeinsame Zukunft dienen. Das wird im nächsten Kapitel eingehend behandelt. Ein direkter Vergleich der beiden Fehler schärft den Blick dafür, sie besser zu erfassen. Die Bewertungsbrille trägt man bereits vor dem Beginn einer Beziehung, aber eine zweite Brille, eben die Zukunftsbrille, kommt erst hinzu, wenn man sich verliebt hat. Mit der Bewertungsbrille baut man die Zukunft auf ein paar Eigenschaften – mit der Zukunftsbrille auf Illusionen und Träume. Dennoch haben sie im Kern etwas Gemeinsames: Beide sind mit einem eingeschränkten und engen Blickwinkel auf die Zukunft gerichtet. Und der Blick in die Zukunft ist unweigerlich mit Hoffnung und Angst verbunden. Jede positive Eigenschaft eines Menschen erweckt die Hoffnung, er könne der Richtige sein, und jede nicht passende Eigenschaft die Angst, er sei der Falsche. Je nachdem, ob die Angst oder die Hoffnung siegt, verpasst man vielleicht die Richtige oder man bindet sich an jemanden, der nicht geeignet ist. Das Fatale daran ist, dass man die Beziehung zu einem Menschen weiter aufbaut, intensiviert oder sie beendet, ohne dem Menschen hinter dem Mann oder der Frau jemals begegnet zu sein.

Hier wird nun ein zauberhaftes Hilfsmittel aufgezeigt, mit dem du das gute Vorhaben, ohne Bewertungsbrille zu sehen, auch tatsächlich umsetzen kannst: Streiche den Begriff „Kennenlernen“ nicht nur aus deinem Vokabular, sondern auch aus deinem Gedächtnis, aus deinen Gedanken, aus deinen Plänen. Das klingt unrealistisch, ist aber sehr nachhaltig, befreiend und nützlich. Denn „Kennenlernen“ ist zwar ein vertrauter Gedanke und eine naheliegende Absicht zu Beginn einer Beziehung. Aber was bedeutet es, wenn man jemanden kennenlernen will? Das bedeutet, man will erfahren, was er oder sie für ein Mensch ist. Warum aber will man das wissen? Um zu schauen, ob derjenige zu einem passt, ob man mit diesem Menschen eine Beziehung eingehen will oder sogar den Rest seines Lebens mit ihm verbringen möchte. Und so trägt man, ohne dass man es merkt, doch mit nachhaltigen Folgen eine Bewertungsbrille.

Wenn du von dem Begriff „Kennenlernen“ Abschied nimmst, entsteht eine Lücke. Diese Lücke füllst du mit dem Wort „Begegnen“. Begegnen bedeutet, absichtslos, offen und neugierig zu sein. Wenn du dem anderen ohne Erwartung, Hoffnung und Angst begegnest, also ohne ihn in dein fertiges Bild von ihm hineinzuzwängen, erkennst du eher, wer der Mensch hinter dem Mann oder der Frau wirklich ist. Jemandem zu begegnen, also im Augenblick zu verweilen, bedeutet nicht, willenlos und anspruchslos zu sein, die Fähigkeit zu verlieren, entscheiden und wählen zu können, sondern es soll nur bedeuten, den Augenblick als solchen zu erleben, ohne den Ballast der Vergangenheit und ohne eine Verfärbung durch Zukunftsgedanken. So ergibt sich das Kennenlernen im Sinne des Wortes automatisch aus den Begegnungen.

Quintessenz:

Es ist praktisch unmöglich, urteilsfrei auf Menschen zuzugehen und ihnen so zu begegnen, wie sie sind. Und je ausgeprägter unsere Fixierung ist, die unsere Grundeinstellung widerspiegelt, umso eingeengter ist unsere Sicht auf die Realität und umso geringer unsere Offenheit für vorurteilslose Begegnungen. Wenn man einen Partner sucht, hat man eine Vorstellung von ihm und sucht automatisch einen Menschen mit bestimmten Eigenschaften – und diese Eigenschaften ergeben das bunte Bild, das man für den Menschen hält. Der Mensch, dem man begegnet, umfasst jedoch unermesslich viel mehr als unser Bild von ihm. Der andere ist sozusagen nicht der, den du suchst; er ist nicht dein unumgängliches Schicksal. Der andere, so wie du ihn wahrnimmst, ist das Produkt, das Geschöpf deiner Grundeinstellung. Suchen ist immer Schauen durch die Bewertungsbrille, die vom ganzen Leben, vom ganzen Menschen, nur das durchlässt, worauf du fixiert bist. Nimm die Bewertungsbrille ab und begegne dem Leben und den Menschen so offen, wie du kannst, ohne bejahende und verneinende Vor-Urteile. So bewahrst du dir einen klaren Blick und deine Offenheit und hast die bestmögliche Chance, dich nicht zu irren. Denn wenn du dich am Anfang nicht täuschst, wirst du auch am Ende nicht ent-täuscht sein.

Damit das gelingt, vergiss das Wort „Kennenlernen“ und nimm Abschied von der Einstellung, die dahintersteckt. Ersetze „Kennenlernen“ durch „Begegnen“. Denn die Begegnung ist urteilsfrei, offen und lebendig. Während im „Kennenlernen“ Hoffnung, Angst und Enttäuschung schlummern, ist die Begegnung absichtslos, ohne Angst und Hoffnung und bietet so der Enttäuschung keinen Nährboden. Kennenlernen sollte nie das Ziel, sondern immer nur eine Folge von Begegnungen sein.

Die Kunst, Beziehungen in den Sand zu setzen

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