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Die Entzauberung der Verliebtheit

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Es gibt eine Redewendung, die lautet: „Wenn die Suppe versalzen ist, dann ist der Koch verliebt.“ Wie auch immer man dieses Sprichwort deutet, eines haben alle diese Deutungen gemeinsam: Sie sagen aus, dass die Verliebten den Blick für das richtige Maß verlieren. Die Zutaten der Suppe sind nicht ausgewogen; sie nehmen von dem einen zu viel und von dem anderen zu wenig. Am Ende entsteht etwas, das weder gut schmeckt noch bekömmlich ist. Im übertragenen Sinne wirft das die wesentliche Frage auf, warum aus den köstlichen Zutaten, eben aus den wundervollen Ereignissen und Erlebnissen der Verliebtheit, nicht immer Liebe, sondern oft eine versalzene Suppe, also Enttäuschung, Bitterkeit und Gleichgültigkeit oder eine schmerzhafte Trennung wird. Warum also aus dem freudigen Klopfen an einer bunten Tür, aus der lustvollen Frage „Wer ist da?“ und aus der enthusiastischen Antwort „Ich bin da!“ häufig nicht ein erfüllendes „Wir sind da!“ und ein beglückendes Zusammenbleiben wird.

Während im letzten Kapitel von Dingen wie Grundeinstellung und Persönlichkeit die Rede war, die schon vor einer Beziehung da sind, geht es in diesem Kapitel um die Anfangsphase in einer schon bestehenden Beziehung, die man im Allgemeinen als Verliebtheit bezeichnet, also um die schönen Ereignisse und Erlebnisse, welche die ersten Tage, Wochen oder Monate einer Beziehung füllen.

Diesen Empfindungen beschreibt Hermann Hesse mit den Worten: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“2 Dieser Zauber ist Verliebtheit, die mit ihrer magischen Anziehung verbindet und aus Begegnungen eine Beziehung macht. Verliebtheit ist aber nicht nur die Quelle von Verzauberung, Genuss und Leichtigkeit, sondern ihr Einfluss erstreckt sich auch über die Beziehung hinaus auf die Prozesse, die den Alltag und das Leben bestimmen. Verliebtheit berauscht und verzaubert, denn nicht umsonst gilt: Die Zeiten der Verliebtheit sind die schönsten Blätter im Tagebuch eines Menschen. Doch weit über das bewusste Erleben der Verliebtheit hinaus setzt sich Verliebtheit unbewusst aus mehreren Komponenten zusammen, die von evolutionärem, emotionalem und sozialem Charakter sind. Und aus dieser Quelle schöpft Verliebtheit ihre anfängliche magische Kraft. Was aber aus ihr wird, in was sie sich verwandelt, in eine durch Liebe geprägte Bindung, ein organisiertes Zusammenbleiben oder eine Trennung, hängt davon ab, was die Verliebten aus ihrer Verliebtheit machen.

Der evolutionäre Anteil der Verliebtheit lässt sich am besten durch die folgende Analogie beschreiben: Warum hat die Natur die Blumen so erschaffen, dass sie Nektar erzeugen? Denn für ihr Überleben brauchen sie ihn nicht. Sie erzeugen ihn wegen der Bienen und dabei dachte die Natur an Fortpflanzung. Das erklärt auch die Liebesbeziehung zwischen Bienen und Blumen. Weil wir Menschen aber etwas schlauer sind als Bienen und Blumen, hat die Evolution einen viel stärkeren und wirkungsvolleren Nektar für die Menschen entwickelt – eben die Verliebtheit. So wie der Nektar die Arterhaltung der Blumen sichert, dient die Verliebtheit der Arterhaltung der Menschen. Das klingt sehr unromantisch, ist aber der Plan der Evolution und eine biologische Notwendigkeit.

Damit die Verliebtheit auch ihrer biologischen Aufgabe gerecht wird, hat die Natur sie entsprechend ausgestattet mit der treibenden Kraft der Emotionen, welche die Seele beflügeln, die Vernunft jedoch einschränken. Mit der zauberhaften Schönheit der leiblichen Verschmelzung, den pochenden Herzen und der alles überflutenden Sehnsucht tritt die Verliebtheit ihren Siegesmarsch an und baut ihre dominierende Herrschaft über das Fühlen und Denken der Verliebten auf. Aber nicht der sinnliche Durst und die Begierde, die den Leib ergreifen, sind die eigentliche Quelle der Kraft und Verzauberung der Verliebtheit, sondern die Schwingungen der Seele, welche die körperliche Verschmelzung zu einer globalen Verschmelzung mit dem Geliebten und mit der ganzen Welt ausdehnen. Verliebte fühlen sich vereint und verbunden. Aus einem isolierten Ich und einem isolierten Du wird ein Wir-Gefühl, eine erlebte Einheit und ein empfundenes Ganzes, entschlossen, kraftvoll und enthusiastisch. Die Verzauberung durch die Verliebtheit verändert den Alltag und verzerrt die Realität; Verliebtheit schafft ihre eigene Wirklichkeit. Aus dem verführerischen Gemisch von zauberhaften Erlebnissen, schönen Träumen und der Überzeugung, dies sei ein ewiger Zustand, entsteht das, was mit dem einen Wort „Illusion“ zusammengefasst werden kann. Die Verliebten erleben das jedoch nicht als Illusion. Aus ihrer Hoffnung wird Gewissheit und aus ihren Träumen Pläne, ein Entwurf für die Zukunft. Das heißt, sie sehen das Leben durch eine Zukunftsbrille.

Während die evolutionäre und die emotionale Komponente der Verliebtheit, wie wir gesehen haben, relativ leicht erfassbar sind, ist der Einfluss der sozialen Komponente komplex und weniger durchschaubar. Die Komplexität ergibt sich aus den vielfältigen und vielschichtigen Interaktionen verliebter Paare mit ihrem Umfeld. Jeder der beiden Partner hat seine eigenen Erwartungen und Bedürfnisse und ist dadurch zwangsläufig mit den Zwängen und Erwartungen aus seinem Umfeld konfrontiert. Und wenn sich beide näherkommen, dann stoßen diese gewaltigen Pakete, die sie mitbringen, aufeinander. Es liegt nahe, dass sie nicht unbedingt harmonisch ineinanderfließen werden. Durch die kraftvolle Euphorie der Verliebtheit und das empfundene Eins-Sein übergehen die Verliebten jedoch diese Disharmonien und empfinden die Zwänge der Realität als eine Herausforderung und deren Bewältigung als einen Triumph ihrer Liebe.

Hinzu kommt, dass die Zukunftsbrille den Blick der Verliebten verengt und sie nicht den Menschen sehen, der geliebt wird, sondern das verzerrte Bild, das Verliebte aus ihm machen. Ein Bild, das die schöne Seite des Geliebten großflächig, bunt und strahlend und seine Schwächen als blasse Punkte erscheinen lässt. Aus einem Menschen wird eine Fiktion. Mit diesem Menschen an der Seite fühlen sich Verliebte sicher aufgehoben und der bunte Luftballon ihres Zusammenseins schwebt über den strahlenden Himmel eines sinnhaften und glücklichen Lebens für alle Ewigkeit.

In der Psychopathologie gibt es eine Definition für Wahn, die dem Zustand der Verliebtheit sehr nahekommt: „eine unerschütterliche Überzeugung ohne ausreichende Begründung“.3 Auch mit den Worten von Erich Fromm: „Die Intensität der Vernarrtheit, dieses gegenseitigen ‚Verrücktseins‘ nach dem anderen sieht man als Beweis für die Intensität der Liebe.“4 Allein die Tatsache, dass Wahn und Verliebtheit ähnliche Züge haben, ist ein sicheres Indiz dafür, dass Verliebtheit die Quelle von Irrtümern ist. Und je größer der Irrtum, umso schwerwiegender sind auch die Folgen. Aber wo genau liegen die Irrtümer der Verliebtheit?

Gerade das, was Verliebtheit so schön, faszinierend und ergreifend macht, ist gleichzeitig die Quelle dieser Irrtümer. Verliebtheit wirkt sozusagen wie ein süßes Gift. Mit dem Süßen nimmt man gleichzeitig auch das Giftige zu sich, denn das Süße und das Giftige sind zwei verschiedene Seiten ein und derselben Medaille. Das heißt, dass bei der obigen Beschreibung der schönen und zauberhaften Seite von Verliebtheit gleichzeitig auch das Giftige beschrieben wurde – aber nicht direkt und unmittelbar ersichtlich. So wie der Ruin und der Schaden, der durch Orkane und Überschwemmungen entsteht, erst sichtbar wird, wenn diese vorbei sind, kommen die Irrtümer der Verliebtheit erst dann zu ihrer vollen Geltung, wenn die Verliebtheit an Glanz und Verzauberung verliert.

Diverse Schritte auf diesem Irrweg sollen durch folgende Beispiele verdeutlicht werden. Ein verliebtes Paar will viel Zeit miteinander verbringen. Das ist naheliegend und verständlich. In aller Regel suchen sie ein gemeinsames Nest und ziehen so schnell wie möglich zusammen. Oder sie gehen ein für ihre Verhältnisse großes Risiko ein und kaufen sich sogar ein Häuschen. Und um sich näher zu sein, ändern sie vielleicht auch ihren Arbeitsplatz. Im Zuge der Euphorie der Verliebtheit und der Überzeugung „Wir gehören zusammen“ entsteht auch der Wunsch nach gemeinsamen Kindern, den sie sich ebenfalls erfüllen. All diese oder ähnliche Entscheidungen, welche die Verliebten treffen, sind Folgen des Blickes durch die Zukunftsbrille.

Diese Beispiele sollen die Beziehung zwischen der Zukunftsbrille und dem süßen Gift noch einmal verdeutlichen: Verliebte sehen ineinander den idealen Begleiter für einen idealen Lebensweg. Das führt dazu, dass Verliebte mit voller Überzeugung und von ganzem Herzen, aber bloß mit dem Bild von einem Menschen – ohne zu wissen, wie er wirklich ist – an einer rosigen Zukunft basteln und unerschütterlich mit diesem hoffnungsvollen Bild ihre Zukunft planen. Den Menschen aber, so wie er ist, nehmen sie erst wahr, nachdem die Verliebtheit verflogen ist, also ab den Augenblicken, wenn die Partner nicht mehr durch ihre rosarote Zukunftsbrille schauen. Deshalb verlieren nicht nur alle Vereinbarungen, die ausgesprochen wurden, sondern auch all die gedachten Ziele, Hoffnungen und Pläne, die in der Zeit der Verliebtheit entstanden sind, ihr Fundament und ihre Gültigkeit mit dem Vergehen der Verliebtheit – und das fast immer mit nachhaltigen Folgen.

Es liegt nahe, dass die unermesslich hohen Ansprüche und Bedürfnisse der Verliebtheit einen ebenso unermesslich großen Raum und ebenso viel Zeit für ihre Befriedigung brauchen. Zwangsläufig hat man weniger Zeit für Freunde und vertraute Gewohnheiten, die sich im Laufe der Jahrzehnte herauskristallisiert haben. Ebenso gibt man einen Teil der notwendigen Selbständigkeit unmerklich ab. Und erst wenn die Verliebtheit vorbei ist, fordern all diese Versäumnisse und vernachlässigten Interessen ihren Tribut, denn die entstandenen Lücken sind nicht immer leicht zu füllen.

Eine weitere negative Auswirkung, die Verliebtheit hinterlässt, betrifft das Selbstbild: Wenn man als Geliebter uneingeschränkt bejaht und angenommen wird, entsteht das Pseudo-Gefühl, etwas Besonderes zu sein, sozusagen ein geliehenes Selbstvertrauen. Das reale Selbstbild wird durch ein ideales, viel lebendigeres, bunteres und vollkommeneres Bild ersetzt. Das schmeichelt nicht nur, das macht auch süchtig. Nach dem Ende der Verliebtheit aber kehrt das alte Selbstbild, das einem nicht genügt hat, zurück – doch der Durst nach dem idealen Selbstbild bleibt. Und dieser Durst macht ungeduldig, mit der Folge, dass man vielleicht kopflos in die nächste Verliebtheit hineinrutscht. Eine weitere Variante ist: Wenn man noch verliebt von seinem Geliebten verlassen wird, kann man das Geschehene oft nicht begreifen und bricht zusammen. Erlebt man mehrere intensive Verliebtheiten, die dennoch scheitern, entsteht allmählich ein Misstrauen gegenüber Verliebtheit. Es schleicht sich eine Angst vor einem neuen Anfang, vor einer neuen Verliebtheit ein. Außerdem kann der Zauber der Verliebtheit auch zu dem Irrtum führen, man könne nur mit diesem Einen glücklich werden, mit der Folge, dass man bereit ist, Konflikte zu vermeiden, sich gefügig zu verhalten, und sich aus Angst vor einer Trennung in ein Ich hineinmanövriert, das man gar nicht ist. All die möglichen Schwächen des Selbstbildes bekommen durch das Gift der Verliebtheit eine Bestätigung und zusätzliche Nahrung.

Da die Verliebtheit mit ihrer archaischen Wucht über die Verliebten hinwegrollt, gibt sie ihnen nicht die Möglichkeit, ihren Segen und ihren Fluch differenziert wahrzunehmen. Eine pragmatische und realistische Lösung, um das eine zu genießen, aber dem anderen nicht zu verfallen, liegt darin, die Zukunftsbrille abzulegen. Und damit umgeht man den zweiten Fehler, der aus dem Rausch der Verliebtheit entsteht.

Zusammengefasst:

So wie auf das Einatmen das Ausatmen folgt, so folgt auf den Traum der Verliebtheit das Erwachen in der Realität. Wenn der Vorhang der Verliebtheit fällt und das bunte Schauspiel der Verliebtheit vorüber ist, stehen sich zwei Menschen gegenüber, so wie sie wirklich sind, mit all ihren menschlichen Unzulänglichkeiten und Eigenarten. Menschen lernen einander kennen, wenn sie nicht mehr verliebt sind.

In der Euphorie der Verliebtheit jedoch machen sich Verliebte Bilder voneinander, die wunderschön sind, und im reißenden Fluss dieser Schönheit planen sie. Es entstehen allmählich, aber unmerklich neue Gewohnheiten, Verhaltensmuster und Rituale, die sich zu Fakten verdichten. Und wenn die Fakten massiv und weitreichend geworden sind, bleiben einige Paare erst einmal zusammen, auch wenn die Verliebtheit vorbei ist. Doch nicht die Bilder, die Verliebte voneinander durch ihre Zukunftsbrille sehen, sondern nur Menschen, so wie sie wirklich sind, haben eine reelle Chance, aus ihrer Beziehung eine Bindung zu machen, eine harmonische Einheit für Jahre, Jahrzehnte und vielleicht für das ganze Leben. Wenn es der Frau und dem Mann – zwei Männern oder zwei Frauen – vor der Entzauberung ihrer Verliebtheit gelingt, aus ihrer Beziehung eine tiefe innere Bindung zu machen und sich so, wie sie sind, anzunehmen und zu bejahen, dann hat das Zusammensein eine erfüllende Basis. Denn das ist der Beginn des Liebens: „Die Frucht der Liebe reift, wenn die Blüte der Leidenschaft ihre Blätter verliert.“5

Wenn man nun alle möglichen Nebenwirkungen des süßen Giftes, also der Verliebtheit, in einem Satz zusammenbringen wollte, hieße er: Verliebtheit und Realität sind Rivalen und die Macht des einen stellt die Existenz des anderen infrage. Was folgt nun daraus?

Solange du verliebt bist, traue deinen Überzeugungen nicht, lass die Zukunft in Ruhe, plane sie nicht und schaffe keine Fakten. Mach dir stattdessen zum Geschenk, dich zu verlieben, ohne dich zu verlieren.

Die Kunst, Beziehungen in den Sand zu setzen

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