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KLEIDUNG

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Ein Autist will keine Veränderung. Alles Neue, sei es ein Ortswechsel, ein Wechsel der Bezugsperson, eine andere Klobrille oder auch nur frische Bettwäsche, alles bringt seinen Alltag richtig durcheinander. Neuerungen verursachen Beklemmungsgefühle bis hin zu wahrer Angst. So verwendet Basti zum Beispiel nur »seine« Tassen. Ich habe ihm einen Satz von blauen Glühweintassen gekauft und er verwendet ausschließlich diese und keine andere Person darf daraus trinken. Er trinkt alles daraus: Kaffee, Tee und auch kalte Getränke. Er verwendet keine Gläser, sondern für jedes Getränk seine Tassen. Niemals trinkt er aus einem anderen Behältnis, es sei denn, er trinkt aus der Flasche. Dann darf aus dieser Flasche jedoch kein anderer trinken oder getrunken haben.

Besonders schrecklich ist es für ihn, sich an neue Kleidungsstücke zu gewöhnen. Ich bekam ihn schon als kleines Kind wesentlich leichter zum Zahnarzt als in einen Kleiderladen oder zum Frisör. Meist kaufe ich die Kleidung allein, um sie mit nach Hause zu nehmen und sie ihn in Ruhe anprobieren zu lassen. Ein wenig anstrengend ist das natürlich, ich muss die Kleidungsstücke, die ich in verschiedenen Größen mitnehme, zunächst einmal bezahlen, um sie dann einige Tage später, wenn sich rausgestellt hat, welche nicht passen, wieder in den Laden zurückbringen und mir mein Geld wieder ausbezahlen lassen.

Seine Schuhe trägt er meist so lange, bis sie so viele Löcher haben, dass sich die Sohle löst und er nicht mehr damit gehen kann. Ähnlich verhält es sich für die übrige Kleidung. Und weil er sich so schlecht an Neues gewöhnen konnte, kaufte ich ihm vor Jahren noch immer jeweils vier bis fünf identische Kleidungsstücke. Heute hat sich seine Einstellung zu neuer Kleidung etwas entspannt, aber als er sich noch im Wachstum befand und öfter neue Sachen brauchte, weil er rausgewachsen war, war es jedes Mal eine Katastrophe für ihn, etwas Neues anziehen zu müssen. Dann konnte es vorkommen, dass er tagelang splitterfasernackt durch die Wohnung lief, bis er am Freitagabend in seinen geliebten Schachklub wollte und ihm nichts anderes übrig blieb, als die neuen Kleider anzuziehen.

Während seiner Schulzeit kam es oft vor, dass er sich unterwegs, besonders wenn ihm fremde Personen begegneten, die neuen Kleidungsstücke auszog und wegwarf. Ich hatte manchmal Mühe, Lehrer oder Betreuer davon zu überzeugen, dass ich meinen Sohn im tiefsten Winter nicht barfuß und mit nacktem Oberkörper auf den Schulweg geschickt hatte. Bald war ich bei den Lehrern, der Schulbehörde, dem Jugendamt, Ärzten und Psychologen als »Rabenmutter erster Klasse« verschrien und es kam mehr als einmal vor, dass ich von irgendeiner Behörde vorgeladen wurde, um Stellung zu Bastis fehlender Kleidung zu nehmen. Manchmal schickte man mich dann zu einem Psychiater oder einem Psychotherapeuten, weil ich ja nicht richtig ticken konnte. Diese fragten mich dann ausgiebig aus, um anschließend wohl formulierte Briefe mit vielen exotisch anmutenden Begriffen und irgendwelchen Kürzeln ans Jugendamt zu schreiben und mehrfach die Empfehlung auszusprechen, meinen Sohn in eine Pflegefamilie zu geben, was aber nie geschah, denn ich weigerte mich hartnäckig und eine wirkliche Vernachlässigung konnte mir nicht nachgewiesen werden.

Bastian trägt auch seit Jahren keine Socken mehr, sondern schlüpft barfüßig in seine Halbschuhe, die er bei jeder Witterung trägt.

Eines Freitagabends, ich musste länger arbeiten, sollte mein Vater Basti in den Schachklub fahren. Es war Winter und bitterkalt, wie es bei uns auf der schwäbischen Ostalb nicht selten der Fall ist.

Als ich an diesem Tag von der Arbeit nach Hause kam, fing mich mein Vater ab. Er war sehr aufgebracht.

»Bastian wollte keine Socken anziehen. Also habe ich ihn wieder nach oben geschickt, weil ich ihn so nicht fahren wollte. Was denken denn die Leute, wenn er ohne Socken im Schachklub ankommt?«

Mir war es zu diesem Zeitpunkt schon herzlich egal, was andere Leute dachten, ich schluckte aber einen Kommentar hinunter. Meinem Vater war unser Ansehen bei anderen Leuten immer sehr wichtig und ich würde das nicht mehr ändern können.

Ich ging also hoch in unsere Wohnung, um den sockenlosen jungen Mann selbst die sechs Kilometer zum Schachklub zu fahren. Bereits als ich unsere Wohnung betrat, rief ich ihn: »Basti, komm, ich fahre dich zum Schach!« Ich erhielt keine Antwort und betrat sein Zimmer. Er war nicht da. Weder in seinem Zimmer noch in allen anderen Räumen unserer Wohnung konnte ich ihn finden. Mir schwante nichts Gutes und so ging ich wieder hinunter zu meinem Vater.

»Basti ist nicht da«, klärte ich ihn auf. »Was hast du denn genau zu ihm gesagt?«

Mein Vater dachte einen Augenblick lang nach, bevor er antwortete: »Ich hab zu ihm gesagt, dass ich ihn nicht fahre, wenn er keine Socken anzieht und dass er wieder gehen soll. Er muss also wieder hoch gegangen sein, aber das weiß ich nicht sicher.« Mein Vater klang ziemlich ärgerlich, sein Gesicht war rot angelaufen und so sagte ich gar nichts mehr, sondern ließ ihn in seinem Wohnzimmer sitzen und ging wieder in meine Wohnung. Ich konnte mir gut denken, was vorgefallen war und meine Befürchtungen bestätigten sich, als Basti gute zwei Stunden später anrief und mich bat, ihn abzuholen. Ich setzte mich gleich ins Auto und fuhr zu seinem Spiellokal, wo er bereits vor der Tür auf mich wartete, bei Eiseskälte – ohne Socken. Dankbar setzte er sich schweigend ins Auto.

Ich fuhr los und fragte ihn unterwegs: »Wie bist du denn in den Schachklub gekommen?«

»Ich bin natürlich gelaufen«, war seine knappe Antwort, in der ein Hauch von Stolz mitschwang.

»Warum bist du denn gelaufen?«, fragte ich weiter, konnte mir aber schon vorstellen, welche Antwort ich bekommen würde.

»Opa hat gesagt, dass ich gehen soll, also bin ich den Weg zum Schachklub eben gegangen.«

Ich konnte ihm das nicht mal verübeln, hat er doch lediglich den Befehl seines Großvaters ausgeführt, auch wenn dieser ganz anders gemeint war.

Eine andere Sache waren seine Jeans. Zu Hause trägt er Jogginghosen, wenn er aus dem Haus geht lieber Jeans. Zu jeder dieser Hosen hat er mehrere Pendants im Schrank hängen. – Schon allein die Sache mit dem Schrank ist ein Problem. Ich hatte, wenn er seine Kleidung wechselte, seine getragenen Jeans in den Schrank geräumt, damit sie nicht irgendwo herumlagen. Befinden sich seine Kleidungsstücke aber im Schrank und sind somit seinem Blickfeld entzogen, sind sie für ihn nicht existent. Lange Jahre hat er mich täglich bei der Arbeit angerufen, um zu fragen, wo seine Kleidung ist, obwohl sie immer an der gleichen Stelle im Schrank hing oder lag.

Nach unserem Einzug ins Haus meiner Eltern, kam er auf die Idee, seine Kleidung im Flur unserer Wohnung auszuziehen und auf den Boden zu werfen. Das hat sich eingebürgert und seitdem liegt also seine Kleidung im Flur. Der Nachteil ist, dass es sogleich beim Betreten der Wohnung schlampig aussieht und schon so mancher Besucher missbilligend die Stirn runzelte, der Vorteil, dass er mich nicht mehr täglich anruft. Dafür nehme ich gern in Kauf, dass sich eventuelle Besucher an dem Kleidungshaufen auf dem Boden stören könnten. Wenn ich seine Kleidung waschen möchte, stecke ich die getragenen Kleider in die Waschmaschine und lege ihm frische auf den Boden des Flurs.

Das klappt wirklich gut und meist merkt er gar nicht, dass er nicht mehr die gleiche Kleidung trägt, sondern dass die von mir heimlich gewechselt wurde. Voraussetzung ist natürlich, dass die neuen Kleidungsstücke mit den gebrauchten absolut identisch sind.

Seine Kleidung ist nicht billig. Besonders seine Jeans lasse ich maßfertigen, was bei seinem Übergewicht unbedingt nötig ist, denn in seiner Größe ist es sehr schwer, passende Hosen zu finden. Zudem weigert er sich, in einem Textilgeschäft neue Kleidung anzuprobieren. Die maßgeschneiderte Ware ist zwar sehr teuer, doch handelt es sich dabei um Qualitätsware, die nicht so schnell verschleißt. Da ich ihm stets die Hosen in mehrfacher Ausgabe anfertigen lasse, geht das ganz schön ins Geld. Er benötigt allerdings nur alle paar Jahre neue Hosen, also relativieren sich die Kosten.

Es ist einige Jahre her, da kam er eines Abends sehr aufgebracht aus seinem Schachklub. Der Vorstand hatte ihn nach Hause gefahren.

»Mama, meine Jeans hat ein Loch«, rief er bereits beim Betreten unserer Wohnung. Ich sprang aus dem Bett, ich hatte bereits geschlafen, als Bäckereifachverkäuferin muss ich früh raus. Ich schaute mir die Bescherung an. In Höhe seines rechten Oberschenkels befand sich ein langer Riss in seiner Jeans, die er noch gar nicht so lange hatte.

»Wie ist das denn passiert?«, wollte ich von ihm wissen.

»Da ragte an einem Türpfosten ein Nagel heraus und daran bin ich hängengeblieben«, klärte er mich auf und setzte gleich dazu: »Du musst meine Jeans reparieren.«

Der Riss war wirklich groß und ich hätte die Jeans lieber weggeworfen, obwohl sie ja nicht gerade billig gewesen war. Doch als ich dies meinem Sohn sagte, wehrte er sich dagegen: »Kommt gar nicht in Frage, ich möchte keine neue Hose. Du musst das irgendwie hinbekommen.«

Die beste Freundin meiner Mutter ist Schneiderin und ihr brachte ich am Tag darauf die zerrissene Hose, welche sie geschickt flickte. Sie bekam das wirklich prima hin, trotzdem war die Naht deutlich zu sehen. Basti war glücklich, hatte er doch »seine« Jeans wieder.

Worüber ich jedoch bei der ganzen Misere nicht nachgedacht hatte, war der Kleidungswechsel und wenige Tage später warf ich seine Jeans in die Wäsche und tauschte sie gegen eine andere aus seinem Schrank aus.

Doch als Basti sich anziehen wollte und mit dem rechten Bein in seine Hose schlüpfte, merkte er den Unterschied sofort. »Das ist nicht meine Hose«, stellte er empört fest. »Meine Hose ist genäht und diese hier ist ganz. Wo ist MEINE HOSE?«

»Die habe ich in die Wäsche getan«, antwortete ich ganz locker, »nimm die andere, das ist genau die gleiche.« Er hatte diese Hose schon so oft angehabt, ich sah überhaupt kein Problem, er jedoch sehr wohl.

»Das ist aber nicht MEINE HOSE. MEINE HOSE hatte einen Riss und den hat die Hanne genäht. Diese Hose hat keinen Riss. Also ist das nicht MEINE HOSE.« Er betonte jedes Mal »meine Hose« so sehr, dass es sich anhörte, als hielte er mich für taub oder begriffsstutzig.

»Das ist auch deine Hose. Du hast sie schon oft angehabt. Du hast fünf gleiche Hosen.« Ich versuchte, ihm die Sachlage zu erklären, aber ich kam nicht gegen seinen Dickschädel an.

»Unsinn! Ich weiß doch, welches MEINE HOSE ist! Meine ist die mit dem Riss. Diese Hose hat keinen Riss. Also ist es nicht MEINE HOSE. Ich will sofort MEINE HOSE wiederhaben.« Er redete mit mir wie mit einem kleinen unverständigen Kind, doch ich hatte ihn sehr gut verstanden. Ich wusste auch, dass nun jede weitere Diskussion überflüssig sein würde. Zum Glück war seine Hose – die mit dem Riss – schon fast trocken und ich holte sie ihm aus dem Trockenraum. Überglücklich zog er die Hose an. Ihn störte es nicht, dass sie noch ein wenig feucht war, zudem war Sommer. Er trug lieber seine feuchte Hose mit Riss als eine, die ihm seiner Meinung nach nicht gehörte und trocken war.

In der kommenden Zeit warf ich seine Hose nach dem Waschen immer in den Trockner, damit er sie noch am gleichen Tag wieder anziehen konnte. Bis diese Hose schließlich zu klein war, sodass ich sie wegwerfen und eine neue kaufen durfte, trug er nur diese.

Die nächste Hose wurde auch wieder maßgefertigt und diesmal kaufte ich sie nur in doppelter Ausführung, ich müsste also im Schadensfall nicht gleich vier Hosen ausrangieren.

Bastis Welt

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