Читать книгу Partnerschaft und Sexualität - Monika Röder - Страница 26
Zustände des autonomen Nervensystems
ОглавлениеSteven Porges leistete mit seiner Polyvagaltheorie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des normalen Menschen im sozialen Kontakt und unter Belastungen sowie zur Behandlung körperlicher und psychischer Probleme ( Abb. 4.1). Seine Annahmen sind wissenschaftlich bisher nur zum Teil belegt, erfahren jedoch insbesondere unter Praktikern große Resonanz und Bestätigung. Porges unterteilt unser autonomes Nervensystem in drei neuronale Energiesubsysteme, die hierarchisch organisiert und mit dem Vagusnerv verbunden sind:
1. das Soziale Kontaktsystem (ventraler Vagus im parasympathischen Nervensystem)
2. die Mobilisierung (Sympathisches Nervensystem mit Kampf-/Fluchtreaktion)
3. die Immobilitätsreaktion (»Shutdown«) (dorsaler Vagus im parasympathischen Nervensystem)
Ist der ventrale Vagus aktiv, erleben wir Sicherheit und Verbundenheit. Hier suchen wir nach Möglichkeiten der Co-Regulation, können uns beruhigen und beruhigt werden (Dana, 2019). Dieser Modus ist assoziiert mit einem regulierten Blutdruck, tiefer Atmung, einer Offenheit für Mitmenschen und dem generellen Gefühl eines geordneten, strukturierten Zustandes. Der ventrovagale Komplex im autonomen Nervensystem wird daher als Soziales Kontaktsystem bezeichnet. Die Funktionen des ventralen Vagus sind Voraussetzung für Gesundheit und Entwicklung. Als Therapeutinnen und Beraterinnen ist es unsere Aufgabe, die Klienten darin zu unterstützen, in diesen Modus zu finden, um wieder zueinander in Kontakt treten, wachsen und heilen zu können.
Kommt es zur Wahrnehmung einer Bedrohung, wird unwillkürlich der Sympathikus aktiviert. Das Herz schlägt schneller, die Atmung wird kurz und flach, der Muskeltonus steigt und es kommt zu einer Mobilisierung. Das autonome Nervensystem bereitet sich auf Kampf oder Flucht vor. In diesem Zustand verändert sich unsere Fähigkeit zu denken, aber auch zu sehen und zu hören. Freundliche Stimmen im mittleren Frequenzbereich werden überhört, der Blick wird eng (»Tunnelblick«) und die Wahrnehmung ist fokussiert auf die Gefahr. Für Paartherapeutinnen sind Kenntnisse um die Wahrnehmung sympathisch aktivierter Nervensysteme wichtig, um Streitdynamiken und fruchtlose Eskalationsspiralen erkennen und einschätzen zu können. Oft sind beide Partner
Abb. 4.1: Polyvagaltheorie
entsprechend aktiviert und kommen aus dem Kreislauf gegenseitiger Verletzungen nicht heraus.
Wenn die sympathischen Aktivitäten Kampf oder Flucht versagen oder nicht zur Verfügung stehen, kommt der hintere Zweig des parasympathischen Nervensystems, der dorsale Vagus, zum Einsatz. Er ist verantwortlich für einen Zustand, der in lebensgefährlichen Situationen unwillkürlich aktiviert wird: die Immobilitätsreaktion, auch »Shutdown« oder »Totstellreflex« genannt. Der Stoffwechsel wird heruntergefahren, der Herzschlag verlangsamt sich und die Atmung wird flacher. Mit diesem Zustand assoziierte Gefühle sind Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Einsamkeit und eher ein Nicht-Denken-können, ein Nicht-Fühlen und eine Leere. Der Kontakt zum anderen ist unterbrochen (Dana, 2019, S. 27). Auch dieser Teil des Nervensystems ist ein Kompetenzbereich. So ist er evolutionsbiologisch betrachtet sinnvoll, indem durch das Totstellen beispielsweise schlimmere Aktivitäten des Angreifers verhindert werden, die Schmerzwahrnehmungsschwelle angehoben und das weitere Funktionieren der Organe gesichert werden.
In Paardynamiken gibt es häufig Wiederholungsschleifen, die von den Betreffenden neurozeptiv so hoffnungslos eingeschätzt werden, dass einer oder beide Partner in eine Immobilitätsreaktion (Shutdown) fallen. Von außen betrachtet wirkt das Verhalten wie Desinteresse oder eine Blockade. Im Inneren ist das System jedoch in höchstem Alarmzustand, der Kopf ist jedoch leer und es steht keine Energie zur Auseinandersetzung zur Verfügung.
In welchen Modus unser autonomes Nervensystem schaltet, entscheidet es noch unterhalb der Bewusstseinsschwelle autonom. Porges führte dafür den Begriff der Neurozeption ein, einen unbewussten neuronalen Schaltkreis, der fortwährend die Umgebung scannt, deren Gefahrenpotential beurteilt und damit blitzschnell handlungsfähig ist (Porges, 2018). Denn unser Nervensystem ist ständig auf der Suche nach Sicherheit, um seine höchste Aufgabe zu erfüllen: zu überleben.
Schuldzuschreibungen an Partner im Sinne eines »Du schleichst dich einfach raus!« oder auch die Beurteilung des Verhaltens von traumatisierten Gewaltopfern mit dem Vorwurf, nicht gekämpft zu haben oder nicht geflohen zu sein, erscheinen dadurch in einem neuen Licht: Nicht der Mensch als Ganzes, sondern sein autonomes Nervensystem hat entschieden, dass in dieser Situation Kampf oder Flucht nicht möglich war.
Die drei neuronalen Systeme sind hierarchisch organisiert: Der Mensch versucht zuerst unter Einsatz seiner sozialen Fähigkeiten zu vermitteln. Ist das wirkungslos, schaltet das vegetative Nervensystem um in die Mobilisierung und bereitet sich auf Kampf oder Flucht vor. Ist auch das erfolglos, so kommt die Immobilitätsreaktion. Der auslösende Reiz, der das Nervensystem autonom wie auf Knopfdruck von einem in den anderen Modus schalten lässt, wird als Trigger bezeichnet.
Im Alltag sind wir häufigen stärkeren und schwächeren Triggersituationen ausgesetzt, in denen sich die Ebenen auch vermischen können. So kann es sein, dass das Soziale Kontaktsystem mit einer gewissen Aktivierung des Sympathikus zusammentrifft, etwa damit wir uns klarer ausdrücken oder besser durchsetzen können. Zwischen dem Sozialen Kontaktsystem und dem Sympathikus können wir relativ schnell und vielfach täglich hin und her navigieren. Einzig die Rückkehr aus einer intensiven Immobilitätsreaktion in den ventrovagalen Komplex, insbesondere bei traumatisierten Menschen, gelingt oft nicht spontan und benötigt therapeutische Unterstützung (Porges, 2018). Der Weg vom Shutdown ins Soziale Kontaktsystem führt dabei zwingend über das sympathische Nervensystem. Zuerst muss der Mensch mobilisiert werden, bevor echter sozialer Kontakt möglich ist.