Читать книгу Novembereis - Monika Rösinger - Страница 7
ОглавлениеIn der Amtsstube
Verlegen trat Susanne von einem Fuss auf den andern. Gleichzeitig zerrte sie ihren kleinen Buben näher zu sich. Sie warteten im grossen dunklen Korridor des Gemeindehauses. Sie traute sich nicht, sich hinzusetzen, auch wenn der Rücken schmerzte und Beine und Füsse geschwollen waren. Die Stühle neben der Türe schienen der einfachen Frau zu vornehm. Susannes Kleidung und Haube waren sauber, schliesslich war sie Wäscherin. Der Rock und die Jacke waren geflickt, die Strümpfe grobgestrickt und kratzig. Die braunen derben Schuhe waren an den Spitzen abgestossen, die Absätze schiefgetreten. Über den Rist spannte sich eine feine Landschaft aus Rissen und Risslein. Auch wenn Susanne sich hätte Schuhfett kaufen können, diese Schuhe wären nicht mehr zu retten gewesen. Das Leder war alt und ausgetrocknet, die Nähte hielten kaum noch.
Susannes Hände waren rot und schrundig aufgerissen. Da half kein Melkfett, das sie manchmal auf den Höfen zum Einreiben erhielt, die Haut erholte sich nie von der Seifenlauge und dem heissen Wasser. Die Nägel waren stumpf und blassbläulich verfärbt. Das Waschblau, das der Weisswäsche der Reichen eine elegante Note gab, war in die feinen Rillen ihrer Nägel eingedrungen. Die Haare der Wäscherin waren früher glänzend kastanienbraun gewesen und hatten ihrem Josua gut gefallen. Aber das war lange her. Jetzt zeigte sie ihre Haare schon längst niemandem mehr. Sie waren stumpf und hatten die Farbe alten Buchenlaubes angenommen. Es störte sie nicht. Sie selber hatte keinen Spiegel, und dass sie einem Mann hätte gefallen wollen, war lange vorbei. Ihr Josua war vor acht Jahren beim Holzen verunglückt und hatte sie mit drei Kindern zurückgelassen. Ein späterer Liebhaber hatte sich davon gemacht, als sie schwanger geworden war. Mit dem kleinen Bub, der dann zur Welt kam, war ihr guter Ruf dahin. Eine Witwe, die zur Unzeit noch ein Kind zur Welt bringt, beim besten Willen, nein, das gehörte sich einfach nicht. Viele Haushaltungen, in denen sie all die Jahre die Wäsche zur Zufriedenheit der Meisterinnen erledigt hatte, brauchten plötzlich keine Wäscherin mehr, oder waren mit ihrer Arbeit nicht mehr zufrieden. Andere Meisterinnen sagten ihr ins Gesicht, dass sie ihre Wäsche nicht in die Hände einer liederlichen Person geben würden. Einer der Bauern hatte sie gar als wohlfeile Dirne betrachtet und sich im Waschhaus an sie herangemacht. Sie hatte ein Stück Wäsche aus dem kochend heissen Sudhafen gezogen und es ihm auf die Hände gepatscht. Fluchend hatte er sich verzogen und sie bei seiner Frau scheinheilig angeschwärzt. So verlor sie auch diese Stelle.
Zum Glück dachten die Wirtsleute im Dorf etwas grosszügiger, so hatte sie wenigstens vier Plätze als Wäscherin behalten können. Aber es reichte einfach nicht. Die beiden grösseren Kinder halfen zwar schon mit, aber ihr kleiner Lohn für Viehhüten oder Botengänge machte die tägliche Suppe nicht fett. Für die drei Kinder ihres Josua erhielt sie auch hin und wieder einen Zustupf aus der Armenkasse, aber für Johann, «das Uneheliche», erhielt sie nichts. Zwar brauchte er wenig. Die Kleider und Schuhe trug er von den Grossen nach, bis sie zerfielen oder zu klein wurden. Einen eigenen Strohsack brauchte er noch nicht, er war klein und schmächtig. Aber es ging einfach nicht mehr. Er hatte ein rebellisches, widerspenstiges Wesen. So klein, wie er war, brachte er die Halbgeschwister durcheinander und sie selber oft fast zur Verzweiflung. Ihre Meisterinnen wollten ihn nicht in ihren Waschküchen haben, da er sich oft mit den Meisterskindern auf Händel und Streitereien einliess oder kleine Schäden anrichtete. So hatte die «Kronen»-Wirtin Susanne letzte Woche vor die Wahl gestellt, nachdem er dem Wirtssohn beim Händeln das neue Hemd zerrissen hatte. «Entweder, du gibst den Saubub ins Armenhaus, oder du musst nicht mehr kommen.»
Auch wenn der Wirtsbub einen Kopf grösser war als ihr schmächtiger Johann und Susanne das Hemd rasch und sorgfältig geflickt hatte, es war nichts zu machen, es ging einfach nicht mehr. Er musste weg.
So stand sie nun im dunklen Gang und wartete. Der kleine Johann stand gleichmütig daneben. Er wusste ungefähr, worum es ging, es berührte ihn nicht. Die Halbgeschwister hatten ihm am Tag zuvor hämisch erzählt, dass ihn die Mutter nicht mehr wolle. Als Baschter habe er sowieso bei ihnen nichts verloren, man kenne ja nicht einmal seinen Vater. Er solle froh sein, wenn ihn der Armenvater im Armenhaus bei den Waisenkindern aufnehme. Richtig verstanden hatte Johann das Ganze nicht, aber schon lange gespürt, dass er allen im Weg war.
Für die Schmähung seines unbekannten Vaters hatte er die Schwester in die Hand gebissen. Sie hatte geheult, und man sah einige blaue Punkte, die seine Zähne hinterlassen hatten. Dafür hatte er von der Mutter zwei harte Schläge kassiert. Wenigstens hatte sie diesmal auch die Geschwister geschlagen, weil sie ihn verspottet hatten. Das schien ihm schon viel und half etwas über den eigenen Schmerz hinweg. Scheinbar mochte sie ihn doch ein wenig. Der Geruch in diesem dunklen Gang gefiel ihm, es roch leicht nach Bodenwichse und stark nach Zigarrenrauch. Beides kannte er aus den Wirtshäusern. Beide Gerüche mochte er gern, besonders der Geruch nach Zigarren schien ihm heimelig. Ob sein Vater auch Zigarren rauchte?
Jetzt trat der Schreiber in den Gang, mit ihm wehte den beiden ein Schwall von Zigarrenrauch aus der Amtsstube entgegen. Daneben nahm Johann den Schweiss des Schreibers und den ranzigen Geruch seiner strähnigen Haare wahr.
Der Schreiber war ein schmächtiger, fahriger Mann in einer Hose aus grobem Fischgratwollstoff. Über einem weissen Hemd mit speckigem Kragen trug er eine Weste, bis zu den Ellbogen schwarze Überärmel. Nach kurzem Gruss forderte er Susanne auf einzutreten; Johann beachtete er nicht. Die Amtsstube war gross; Johann hatte noch nie ein so schönes Zimmer mit glänzenden Möbeln und so grossen Fenstern gesehen. An zwei Wänden standen schwere Regale mit dickeren und dünneren Papierbündeln. Die Riemen des Bodens glänzten und bildeten ein schönes Muster. Es war das gleiche Muster wie auf der Hose des Schreibers. Johann stellte es mit Verwunderung fest. Neben der Türe stand ein Kleiderständer mit Hüten und Kitteln, daneben auf dem Boden ein Spucknapf mit frischem Sand.
Der Gemeindeammann sass auf einem Drehstuhl hinter einem grossen Schreibtisch aus dunklem, rötlichem Holz. Er war ein grosser schwerer Mann mit einer knolligen Nase. Sein Gesicht war glattrasiert, über den fleischigen Lippen trug er einen gezwirbelten Schnauz, wie ihn Johann noch nie gesehen hatte. Von einem Knopfloch in der Weste hing eine goldene Kette über den Bauch in ein Täschchen an der Seite. Im Mund hatte er eine brennende Zigarre. Johann sog den Geruch der bläulich aufsteigenden Schwaden ein, er tat ihm wohl. Jetzt drehte sich der Gemeindeammann auf die Seite und legte die Zigarre auf den Fenstersims.
Johann wunderte sich über den Stuhl, der unter dem schweren Mann zwar knarrte, aber sich leicht zu drehen schien. Er kannte nur Stühle mit vier Beinen oder die Dreibeiner in ihrer ärmlichen Küche. Auch die grüne Glaslampe auf dem Tisch gefiel ihm, sie schimmerte wie ein riesiger Edelstein. Er bestaunte das gedrechselte Holzhäglein, das den vorderen Rand des Schreibtisches abschloss. Es erinnerte den Buben an den kleinen Bauernhof und die geschnitzten Holzkühlein, mit denen er beim «Kreuz»-Wirt jeweils spielen durfte. Da gab es auch so einen kleinen Zaun rund um den Stall. Aber die Pföstchen waren nicht so schön, sie waren nur aus Haselstecken gemacht. Ob der Gemeindeammann auch Holzkühlein auf seinem Tisch hatte? Neugierig trat er näher heran, um die Kühlein zu suchen, aber der Schreiber schob ihn neben seine Mutter zurück, und diese packte ihn wieder fest an der Hand. Dann stellte sie ihn eng vor sich hin und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Das hatte sie noch nie gemacht. Es gefiel ihm und tat ihm gut, obwohl er durch den Stoff seines dünnen Kittels spürte, dass ihre Hände zitterten. Der Schreiber legte eine graue Mappe geöffnet vor den Ammann, dann ging er zurück an sein hohes Schreibpult.
«Die verwitwete Susanne Bleiker, geborene Brunner, stellt den Antrag, ihren Sohn Johann der Armengenossenschaft zu übergeben und ihn ins Armenhaus aufzunehmen», las der Ammann leise murmelnd in der Akte. Er nahm den goldenen Zwicker von der Nase und rieb sich die Augen. «Susanne Bleiker, geborene Brunner?»
«Ja.»
«Verwitwet seit 1832, also acht Jahre?»
«Ja, mein Josua ist beim Holzen in der Scheftenau verunglückt.»
«Hkm, hkm, böse Geschichte damals, ich erinnere mich.»
«Drei Kinder?»
«Ja, der Josi, der Peter und das Martheli.»
«Und woher kommt denn der Bub da, der ist doch erst vier-, fünfjährig?»
«Ja, das ist halt so passiert, man ist ja schliesslich aus Fleisch und Blut, hab halt gemeint, dass er mich heiratet, der Sepp.»
«So, so, halt passiert, halt gemeint.» Der Ammann blickte amüsiert zum Schreiber. Dieser erwiderte den Blick mit hochgezogenen Brauen und abschätzigem Achselzucken.
Susanne blickte verschämt auf den Boden. Dann fasste sie sich ein Herz und trat einen Schritt auf den Ammann zu. Dabei schob sie Johann vor sich her. «Herr Ammann, bitte nehmt meinen Buben ins Armenhaus auf, es geht einfach nicht mehr mit ihm. Er braucht eine starke Hand. Ich verliere sonst meine Stellen. Wie sollen wir dann leben?»
Susannes Wangen waren rot geworden, zusammen mit ihrem Buben trat sie noch einen kleinen, zaghaften Schritt auf den Ammann zu.
Johann blickte erwartungsvoll auf die glänzende Fläche des Schreibtisches. Er war enttäuscht. Da standen keine Kühlein. Nur Papier und Schreibzeug lagen nebeneinander aufgereiht.
«Ja, ja, man hört so allerlei über deinen Buben. Ja, die ledigen Kinder halt, ist einfach nicht gut, wenn die Frauen nicht anständig zu leben wissen.»
Susanne wollte etwas entgegnen, schluckte den Satz aber hinunter und schwieg. Was sollte sie sagen? Dass zum Kinderkriegen zwei gehörten? Aber das wussten der Ammann und der Schreiber schliesslich selber. So senkte sie beschämt den Kopf. Sie kannte ihren Platz, also blickte sie stumm vor sich auf ihren Buben und drehte verlegen an den Bändeln ihrer Tasche.
«Ja, so ist es wohl am besten, wenn der Bub in feste Hände kommt und das Arbeiten beizeiten lernt. Ihr seid ja sonst eine anständige und fleissige Frau, aber so ohne Vater, das geht halt einfach nicht.» Der Ammann hatte sich erhoben und trat zu Johann. Freundlich strich er ihm über sein struppiges Haar und kniff ihn leicht in die Wange. «Bist ein rechter Strick, wie man hört. Die Dummheiten müssen aufhören. Hast du mich verstanden?!»
Johann verstand zwar nicht, womit er aufhören sollte, aber er nickte brav.
«So nimm deinen Buben und bring ihn dem Armenvater», wandte sich der Gemeindepräsident wieder an die Wäscherin. «Er wird’s gut haben. Der Bachmann ist streng, aber schon recht.»
«Also, Johann, mach deiner Mutter keine Schande und benimm dich.»
Mit diesen Worten waren Susanne und ihr Sohn entlassen. Der Schreiber übergab ihr ein amtliches Papier, das sie sorgfältig in der Tasche verstaute. Sie bedankte sich unterwürfig beim Ammann, der sich wieder behäbig hinter seinen Tisch gesetzt hatte. Sie verliess aufatmend das Amtszimmer und den dämmrigen Korridor und machte sich mit ihrem Jüngsten auf den Weg durch das Dorf zum Armenhaus. Mit eingezogenen Schultern, das Kopftuch weit in die Stirne gezogen und den Buben fest an der Hand, schritt sie voran. Sie überquerte die Strasse, ohne nach links und rechts zu schauen.
Es war viel los im Dorf, die Leute waren auf dem Weg zum Markt ins benachbarte Städtli. Sie war froh um den Betrieb, so beachtete sie niemand mit ihrem Buben, und sie grüsste auch niemanden.
Beim «Kreuz»-Wirt wollte der Kleine abschwenken, wie er es sich von den Waschtagen gewohnt war, aber sie zog ihn unsanft weiter. Erstaunt schaute er zu ihr auf. Sie sagte nichts und er fragte nicht, so gingen sie an der Wirtschaft vorbei. Beim Bäcker Rüedi duftete es wunderbar nach frischem Brot. Sie traten in den Laden, und die Mutter kaufte ihm einen frischen Wecken. Das hatte sie noch nie getan.
«Nimm, bist ja doch mein Bub», sagte sie, gab ihm den Wecken und zog ihn weiter.
Bald gingen sie durch die grosse Hofstatt, zwischen den schwer mit Früchten beladenen Apfel- und Birnbäumen und durch den gut gepflegten Garten auf das Armenhaus zu. Es war ein stattliches, sonnenverbranntes Holzhaus mit langen blanken Fensterreihen. Vor den Fenstern blühten Petunien und Geranien. In einer Rabatte dem Haus entlang wuchsen Studentenblumen, Kapuziner und Fetthennen. Grosse Hauswurze ragten bis über die Steineinfassung, und einige Rosenstöcke verströmten einen betörenden Duft wie im höchsten Sommer. Ein Holzschopf und eine Remise waren links und rechts angebaut und daneben standen die grosse Scheune und der Stall. Vom Kastanienbaum vor dem Haus fielen schon die ersten stachligen Kugeln.