Читать книгу Novembereis - Monika Rösinger - Страница 9
ОглавлениеNach der Konfirmation
Bald nach der Konfirmation ging seine Zeit im Armenhaus zu Ende. Gern wäre er da geblieben, aber die Armenkommission hatte eine Arbeitsstelle für ihn gefunden. Er musste für sein eigenes Auskommen sorgen, er war alt genug. Gefragt wurde er nicht. Der Gerbermeister Kappler im Schmiedenbach brauchte einen Taglöhner; also holte Johann den alten Beutel aus dem Regal und packte sein Bündel. Ausser zwei Astkühlein vom alten Heiri, dem Zweifränkler und den Fünfbätzlern, die es jeweils zum Neujahr gab, war nichts dazugekommen. Die Socken von damals waren ihm längst zu klein geworden. So trat er in Kapplers Dienst.
Zusammen mit zwei älteren Taglöhnern schlief er in einer zugigen Kammer über der Gerbe. Es waren rohe Kerle aus dem Oberland, die ihn mit ihren zotigen Sprüchen gern in Verlegenheit brachten. Gegessen wurde in der Küche, zusammen mit den Meistersleuten, mager genug. Eine Lehre kam für ihn als Armenhäusler nicht in Frage, wer sollte das Lehrgeld für ihn aufbringen? Die Arbeit war streng. Der Gestank der Gerbe machte ihm nicht viel aus, aber dass er seine Hände nie mehr sauber bekam, das störte ihn. Er arbeitete gern neben Hans, dem Lehrling. In ihm hatte er einen guten Kameraden gefunden.
Nach drei Jahren erhielt Hans den Gesellenbrief und verliess den Meister, um in St. Gallen eine Stelle anzutreten. Johann konnte sich seine Arbeit in der Gerbe ohne Hans nicht vorstellen. Schon der Gedanke daran tat ihm weh. Kurzerhand, gegen den Willen des Meisters, wanderte er mit Hans in die Hauptstadt. Am liebsten wäre er mit dem Freund in der Stadt geblieben. Aber da gab es keinen Platz für ihn und ohne Papiere war sowieso nicht daran zu denken, das machte ihm Hansens Meister klar. Er trieb sich noch vier Tage ziellos und hungrig in der Stadt herum, übernachtete einmal in einem Pferdestall und ein anderes Mal in einem Schopf neben dem Friedhof im Osten der Stadt. Am anderen Tag half er dem Totengräber, zwei Gräber auszuheben, und erhielt dafür Brot, Speck und Schnaps. Übelgelaunt machte er sich hungrig auf den Heimweg.
Im Hoffeld bei Degersheim begegnete er in einem kleinen Waldstück zwei Mädchen, die ihn neugierig anblickten.
«Was glotzt ihr so blöd?», fragte er sie unwirsch.
«Wir glotzen gar nicht, wir kennen dich ja nicht.»
«Doch glotzt ihr, ihr frechen Goofen, ich werde euch lehren.» Mit diesen Worten packte er die beiden Schulkinder und schlug ihnen hart die Köpfe zusammen. Er stiess beide zu Boden, hob ihnen die Röcke und schlug sie auf den blanken Hintern. Sie schrien und heulten. Sie rappelten sich auf und liefen schluchzend davon.
Johanns Zorn war rasch abgekühlt. Er griff sich, einen zotigen Spruch murmelnd, wollüstig an sein Geschlecht und machte, dass er wegkam. Rasch schritt er aus und langte am Abend auf dem Hemberg an. Dort übernachtete er im Schuppen des Pfarrhauses, ohne dass ihn jemand bemerkte.
Am nächsten Morgen riss er einige unreife Äpfel von einem Baum und stahl aus einem Hühnerstall zwei Eier. Gegen Abend langte er hungrig in Wattwil bei seinem Meister an. Dieser nahm ihn ohne grosses Aufhebens wieder auf; die Meisterin stellte ihm einen Teller Suppe hin. Das Vertrauen zwischen Kappler und Johann war aber zerstört. Nach drei Wochen bat Johann um den Abschied. Der Meister stellte ihm trotz seiner Eskapade ein gutes Zeugnis aus.
So machte sich Johann auf in ein neues, freies Leben. Auf dem Amt holte er seine Schriften, verwahrte diese sorgfältig in einem Stück Leder, das er hatte mitlaufen lassen. Sein Rucksack war leicht, Geld hatte er wenig, aber immerhin hatte ihm die Meisterin neue, gute Kleider gegeben. Es zog ihn wieder nach St.Gallen, das Stadtleben schien ihm verlockend. Er fand keine Arbeit, die ihm zusagte, so zog er weiter nach Rorschach. Er übernachtete in Heuschobern und Ställen. Hin und wieder verdiente er sich ein Essen und etwas Geld mit Taglöhnerei. Manche Tage verbrachte er in Spelunken und spielte mit anderen Vaganten.
In Rorschach verlor er bald seine Papiere bei einer Rauferei und wurde von einer Wirtin vor die Tür gesetzt. Kein Betteln und kein Jammern halfen. Sie wollte ihn nicht in ihrem Haus haben, obwohl sie mit seiner Arbeit zufrieden gewesen war. Sie hatte junge Mägde und traute ihm nicht. Seine lüsternen Blicke schienen ihr gefährlich, sie wollte keine Scherereien.
Mit Gelegenheitsarbeiten bei Bauern und Karrern hielt er sich über Wasser. Eine feste Anstellung fand er nicht, suchte eigentlich auch keine. Nach einigen Wochen kam er mittellos in die Gegend von Wil. Mit Saufen und Kartenspielen hatte er sein letztes Geld verloren. Seinen neuen Kittel hatte er schon lange gegen einen schlechteren eintauschen müssen, seine guten Schuhe trug jetzt ein anderer. Die Hose war inzwischen schmutzig und hatte Risse. Seine Füsse steckten in schlechten Holzböden, die ihn auf den Zehen drückten und an den Fersen scheuerten. In Schwarzenbach kehrte er in einer kleinen Wirtschaft ein und fragte nach Arbeit, Schnaps und Käse. Als die Wirtin sich in die Küche zurückzog, entdeckte er unter der Ofenbank ein Paar neue Stiefel, die ihm gut gefielen. Rasch probierte er sie an, sie passten. So behielt er sie an und stellte seine schlechten Schuhe an den leeren Platz. Die Wirtin bemerkte den Diebstahl sofort, sagte aber kein Wort. Sie bediente ihn, ging hinaus und verschloss die Türen. Sie schickte den Hausknecht zur Polizei. Der rotgesichtige, strenge Beamte, der mit der Wirtin bald in die Wirtsstube trat, befahl dem verdutzten Johann, die Stiefel auszuziehen, was er ohne weiteres tat. Zwei Polizisten führten ihn nun an einer Kette zum Bezirksamt in der Stadt Wil. Dort wurde er eingesperrt und am nächsten Morgen vom Bezirksammann des Diebstahls und Vagantentums angeklagt. Am nächsten Tag brachte ihn die Polizei nach Wattwil.