Читать книгу Wo lassen Sie denken? - 7 Schritte zur Innovation - Monique R. Siegel - Страница 13

Und was bedeutet das alles für uns Heutige?

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Leonardo lebte in einem Zeitalter, in dem Entdecken und Experimentieren im Vordergrund standen; wir Heutigen hingegen in einem, wo viele Menschen glauben, schreiben zu müssen. Der Beweis dafür wird im deutschsprachigen Raum zum Beispiel jeden Herbst an der Frankfurter Buchmesse geliefert, wo alleine jeweils knapp 45000 deutschsprachige Neuerscheinungen vorgestellt werden. Nur ein halbes Jahr später gibt es ein paar hundert Kilometer weiter östlich in Leipzig eine ebenso wichtige Messe, wo wiederum Zehntausende von neuen Büchern in deutscher Sprache vorgestellt werden. Tausende davon beschäftigen sich mit Wirtschafts- bzw. Managementfragen.

Fatal ist nur, dass in der Regel nicht etwas wirklich Neues schriftlich niedergelegt, sondern die ewigen drei, vier Grundthesen zum modernen Management noch und noch wiedergekäut werden. Seit Peter Druckers «Praxis des Managements» und Daniel Golemans «Emotionale Intelligenz» dürften wohl nur wenige Bücher von sich behaupten, etwas grundlegend Neues zur modernen Führungslehre beigetragen zu haben. Bestehendes wird paraphrasiert; ansonsten wird das Nachdenken bei Vor-Denkern entsorgt. Wenn aber in einem Unternehmen lediglich nachgemacht, nicht aber nachgedacht wird, dann kann man annehmen, dass es dort auch keine Vordenker geben wird.

Leonardo hat sich nicht als Vordenker gesehen; ihm hat es einfach genügt zu denken, und das hieß für ihn: zu suchen, Fragen zu stellen, nachzuforschen. Es gab viele Denker zu seiner Zeit. Es war eine Aufbruchzeit, wo alles neu an-gedacht wurde. Die Intellektuellen haben sich Gedanken gemacht – und daraus ist dann Kunst, Architektur, Literatur, Musik oder Philosophie entstanden, die weit über ihre Zeit hinaus wirkte. Finanziert haben das Mäzene oder wohlhabende Auftraggeber, die sich damit in der Nachwelt selbst ein Denkmal gesetzt haben.

Gelegentlich bringt die Vielschreiberei unseres Zeitalters aber auch Brauchbares. So gibt es unbestreitbar über Leonardo heute einiges mehr zu lesen als zu Zeiten Vasaris, und eines der lesenswerteren Erzeugnisse ist eine Kombination von How-to -Buch und kultureller Abhandlung. Interessanterweise ist es ein amerikanischer Zeitgenosse, Michael J. Gelb, der sich die Mühe gemacht hat, das Genie, seine Lebenshaltung und seine Denkweise, zu durchleuchten und für ein interessiertes Publikum fassbar zu machen. Zwar hat das Buch einen eher verkaufsorientierten Titel «How to think like Leonardo da Vinci», 8 aber der Inhalt bietet Stoff für Auseinandersetzung. Hier hat sich nämlich jemand große Mühe gegeben, die Voraussetzungen zu erfassen, die zu Leonardos Genialität geführt haben. Und davon könnten wir Heutigen viel lernen …

Es steht jedoch zu befürchten, dass viele das Buch als eine Art Gebrauchsanweisung lesen werden, in der Hoffnung, so denken zu können wie Leonardo, nachdem sie die 322 Seiten durchgearbeitet haben. Wenn das nur so einfach wäre … Dazu braucht es etwas mehr, unter anderem den Zeitgeist der Epoche, die wir Renaissance nennen.

Epochen sind Namensschilder, mit denen Historikerinnen aus der sicheren Distanz von Jahrzehnten, wenn nicht sogar Jahrhunderten, eine Zeitspanne bezeichnen. Der Übergang von einer Epoche zur anderen kann nie auf den Tag genau bestimmt werden und hat für zünftige Differenzen unter den Experten gesorgt. Im Großen und Ganzen stimmen sie jedoch überein, dass die Renaissance vom Beginn des 14. bis ungefähr zur Mitte des 16. Jahrhunderts gedauert und hauptsächlich in Italien stattgefunden hat, woher ja auch von Giorgio Vasari der Name Rinascimento gekommen ist.

Einer der weltweit meistrespektierten Historiker, Will Durant , 9 datiert sie von 1304 (Geburt des Dichters Petrarca) bis 1576 (Tod des Malers Tizian), und die meisten HistorikerInnen sehen das ähnlich. Was genau diese Epoche war, die monumentale Veränderungen in der Geschichte der Menschheit verursacht hat, kann in jedem guten Lexikon, Geschichtsbuch oder bei einer etwas zeitintensiveren Google-Suche (die Suchmaschine verzeichnet rund 7750000 Eintragungen!) nachgelesen werden. Die folgende Zusammenfassung beschränkt sich daher darauf, die wichtigsten Aspekte kurz zu streifen, um einen Geschmack für die Zeit zu bekommen, in der ein Leonardo tätig sein konnte.

Um die Renaissance zu verstehen und zu schätzen, muss man sich vor Augen halten, wie verschieden die Epoche davor, das Mittelalter, war. Hier gehen die Diskussionen über den Zeitrahmen sehr weit auseinander: Während viele der Meinung sind, es handle sich um etwa zwei bis drei Jahrhunderte, also 10./11. bis 13. Jahrhundert, sehen andere das Mittelalter als «Überbrückung» zwischen der verklärten Antike, die mit dem Untergang des Römischen Reiches im fünften Jahrhundert endet, und der Renaissance, die diesem Zeitalter zu einer Wiedergeburt verhilft.

Die Hoch-Zeit dieser Epoche kann jedoch genauer bezeichnet werden: von der Mitte des 12. bis gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Es ist die Zeit der gotischen Kathedrale und der Kreuzzüge sowie des Feudalwesens und Rittertums. Burgen werden überall errichtet und die darin wohnenden «hohen Frouwen» – die Ehefrauen (!) der Burgherren und ihrer adeligen Gefolgschaft – werden von Dichtern und Troubadouren wie Walter von der Vogelweide oder Heinrich von Morungen mit dem Minnesang beglückt. Es gibt eine kleine Schicht von Feudalherren und das große Heer der Besitzlosen, zum großen Teil Leibeigene, die für die Burgherren und die Kirche schuften.

Der Bildungsstand ist minimal: Das Bildungsgut – die Bibel und andere religiöse Schriften, die von Mönchen in den Klöstern mit der Hand abgeschrieben und kunstvoll verziert werden – ist nur wenigen außerhalb dieser Religionsgemeinschaften zugänglich. Sie existiert nur in Latein, und das können nicht einmal die meisten Priester. Das Gros der Menschen kann nicht lesen und schreiben, hat noch nie eine Bibel zu Gesicht bekommen, weiß aber dafür, dass der lange, beschwerliche Weg zu Gott – die hohen Turmspitzen der gotischen Kathedralen weisen ihn unmissverständlich – über Priester, Bischöfe, Kardinäle und den Papst geht.

Wohnen und Essen sind denkbar einfach; die primitiven Backsteinhäuser haben keine Fenster, sondern nur ausgesparte Öffnungen, die oft auch als Schießscharten dienen und die klein sind, damit die Winde nicht zu sehr hineinwehen können, und fast keine Möbel. Der Mensch und seine Umgebung sind den Naturgewalten schutzlos ausgesetzt; die Natur, die Menschen in eisigen Wintern erfrieren lässt und mit einer Dürre oder einem nassen Sommer den Hungertod ins Haus bringt, wird als Bedrohung empfunden. Das Essen besteht, bei härtester Arbeit im Dienste des Gutsherrn, ohnehin oft nur aus einer einfachen Mahlzeit pro Tag. Vergewaltigungen der Bauerstöchter durch herumziehende Ritter oder den Burgherrn selbst sind an der Tagesordnung; die Kindersterblichkeit ist enorm, die Anzahl der Schwangerschaften ist es auch, denn ohne Kinder gibt es nicht einmal den Schimmer einer Hoffnung auf Altersversorgung. Tiefe Religiosität existiert neben tiefstem Aberglauben und Hexenwahn.

Es ist diese Welt, die durch die Renaissance abgelöst wird. Intellektuell und kulturell vollzieht sich ein unglaublicher Wandel:

 Die klassische Literatur der Griechen und Römer, deren Manuskripte entweder verschwunden waren oder weitgehend unbeachtet herumgelegen hatten, erfährt eine neue Blütezeit und bringt viele Diskussionen und Neuschöpfungen hervor.

 Eine so genannte humanistische Bewegung entsteht, die sich von der mittelalterlichen Obsession mit Religiosität und Askese ab- und einem Weltbild zuwendet, in dem der Mensch mit seinen irdischen Freuden und Leiden eine wichtige Rolle spielt.

 Die Beschäftigung mit der Philosophie der griechischen Antike führt zum Fragen und Zweifeln, zu Skeptizismus und Kritik; Menschen fühlen sich auf einmal fähig, zu denken und zu entdecken.

 Das Interesse an Bildung steigt, wirksamst unterstützt durch die Erfindung des Buchdrucks und der Einführung von (preiswertem) Papier und Bleistiften; in vielen Teilen Europas werden Universitäten gegründet.

Mit dem geistigen Wandel geht der ökonomische Hand in Hand. Wenn heute so viele vom «rasanten» Wandel reden und glauben, er sei eine Erfindung unserer Zeit, dann irren sie sich: Die wirtschaftlichen Veränderungen der Renaissance können es in Bezug auf Auswirkung mit denen unseres Zeitalters durchaus aufnehmen. Ausschlaggebend hier sind

 die Erfindung des Kompass,

 der Bau großer Segelschiffe,

 die Entstehung von Banken.

Die Entdeckung neuer Erdteile, Ahnungen, dass sich das gesamte Universum vielleicht doch nicht um die Erde, seinen vermuteten Mittelpunkt, dreht, sowie das Finden neuer Transportwege ermöglichen die Kolonialisierung anderer Teile der Welt und begründen einen regen Handel mit fernen Ländern. Mit dem Entstehen boomender Städte nimmt die Abhängigkeit von den Launen der Natur ab; die Gesellschaft ist nicht mehr ausschließlich Agrargesellschaft, sondern jetzt eine Mischform aus Landwirtschaft, Gewerbe und internationalem Handel.

Der Zusammenbruch des mittelalterlichen Feudalismus sowie das Entstehen starker, zentralisierter Monarchien, die auf nationaler Einigung beruhen – Portugal und Spanien (Kastilien und Arag ó n), Frankreich und die Niederlande sowie England – repräsentieren die politischen Veränderungen. Kein Zufall, dass diese Nationen auch die Gründungsnationen der großen Reiche der Neuzeit sind. Italien und Deutschland gelingt eine nationale Einheit im T6. Jahrhundert nicht, was sich ökonomisch noch negativ in den folgenden Jahrhunderten auswirken wird.

Der letzte Punkt schließlich betrifft den Glauben. Die Kirche verliert ihren Anspruch auf Einmischung in sämtliche Bereiche des Lebens, indem sie ihre Glaubwürdigkeit verliert. Das Papsttum der Renaissance befindet sich auf einem moralischen Tiefpunkt: Entweder profilieren sich die Päpste als Kriegsherren oder als Familienväter. Sie leben wie Renaissancefürsten, haben teilweise mehrere Geliebte und größere Familien – das Wort «Nepotismus» datiert aus dieser Zeit, als die Päpste ihre unehelichen Söhne zu Neffen (nepoti) erklärten und ihnen manchmal bereits in jungen Jahren zu einträglichen Kardinalsernennungen verhalfen. Sie fördern die Künste, indem sie sich Kirchen, Statuen und Grabmäler von unvorstellbarem Luxus bauen lassen: Leonardo, Michelangelo und Raffaello sind Nutznießer dieser Verschwendungssucht.

Die Kassen, die entweder durch Kriegsführung, die Unsummen verschlingenden Kreuzzüge oder den aufwändigen Lebensunterhalt geplündert worden sind, können durch das Ablassgeschäft wieder gefüllt werden: Für eine entsprechende Summe kann man sich von der Schuld an allem und jedem freikaufen, ja sogar für einen geplanten Mord im Voraus die Schuld erlassen bekommen. «Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt», weiß der Volksmund zu berichten, und redegewandte Priester ziehen durch die Länder und nehmen den Armen noch das letzte bisschen Geld ab, indem sie versprechen, ihnen – bei entsprechender Zahlung auch ihren Verwandten – das Fegefeuer zu ersparen und sie damit dem Paradies ein Stückchen näher zu bringen.

Ein deutscher Mönch namens Martinus hinterfragt die Ethik dieses Geschäfts. Mit 95 Thesen zur Säuberung und Reformierung der Kirche und ihrer fragwürdigen Repräsentanten protestiert er dagegen und sucht den Dialog mit Rom. Dort denkt man nicht daran, den lästigen jungen Mann aus dem Norden ernst zu nehmen – ein Kommunikationsfehler, der sich bitter rächen wird: Bruder Martinus gibt nämlich nicht auf, lässt sich nicht wegwünschen, übersetzt statt dessen die Bibel in eine für alle Deutschen verständliche Sprache und sorgt so dafür, dass «das Volk» sich zu einer Art religiöser Mündigkeit mausert. Als er 1546 stirbt, hat er mit großem persönlichem Einsatz eine neue Religion begründet, deren Name Programm ist: den Protestantismus – und ganz nebenbei die Grundlagen geschaffen für die deutsche Sprache, wie wir sie heute kennen …

Das also ist die Umgebung, in der Leonardo mit seinem Wissensdrang und seiner Experimentierlust agiert. Er kann praktisch die Welt neu erfinden oder entdecken und von einer Zukunft träumen, in der Undenkbares gedacht wird. «Die Menschen werden von den fernsten Ländern aus miteinander sprechen und antworten», ist nur eine seiner Voraussagen, die sich als richtig erweisen werden. Denn er hat es ja nicht nur beim Träumen belassen, sondern kräftig dafür gesorgt, dass diese Träume Wirklichkeit wurden.

Michael J. Gelb, der dem Genie Leonardo den Titel «Schutzheiliger aller unabhängigen Denker» verleiht, schreibt ihm sieben Prinzipien zu, aus denen sich die Grundzüge seiner Lebensgestaltung und seines Lebenswerks herauslesen lassen, sozusagen die «Leonardo-Unternehmenskultur». Sie könnten tatsächlich auch als Leitfaden für uns Heutige dienen. Um sie auf ihre Aktualität oder Zeitlosigkeit zu testen, stellen wir sie neben sieben moderne Denkinstrumente (hätte Leonardo gelacht ob der Vorstellung, dass man zum Denken Instrumente braucht, oder hätte sie ihn fasziniert?) solcher Denkgrößen wie Edward de Bono, Tony Buzan oder Frederic Vester. Diese Herren haben sich alle professionell mit Denken beschäftigt und eine hochwertige Ansammlung von thinking tools erarbeitet. Würde man diese tools benutzen, wäre unsere Zeit reicher an Kreativität, wirksamer in der Katastrophenbekämpfung oder -Verhinderung und effizienter in der Konfliktlösung.

Beginnen wir also mit dem Prinzip des Leonardo, das ihn mehr als alles andere geprägt hat: CURIOSITÀ, seine offenbar grenzenlose Neugier …

Wo lassen Sie denken? - 7 Schritte zur Innovation

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