Читать книгу Wo lassen Sie denken? - 7 Schritte zur Innovation - Monique R. Siegel - Страница 5
Produkte einer anregend-anstrengenden Epoche
ОглавлениеRenaissancemensch: eine Metapher für Männer (bei Frauen scheint das weniger erwähnenswert zu sein, vielleicht, weil Vielseitigkeit ohnehin zu ihren tradierten Eigenschaften gehört?), die, vielseitig interessiert, über Talent, Können und Wissen auf ganz verschiedenen Gebieten verfügen.
Viele italienische Künstler, die zwischen Beginn des 14. und Ende des 16. Jahrhunderts leben, sind Multitalente, gleichzeitig erfolgreich in Architektur, Bildhauerei und Malerei. Eine Reihe von ihnen leistet Pionierarbeit als Ingenieure im Bauwesen; andere versuchen sich in Poesie oder hinterlassen Spuren als Musiker. Unternehmerisches Denken, Zeitmanagement und die Führung von großen Ateliers müssen ebenso zu ihren Talenten gehören wie Verhandlungsgeschick im Umgang mit großzügigen, aber äußerst fordernden Auftraggebern. Sie leben in einer Zeit, in der es plötzlich Universitäten und Banken gibt, in denen das respektierte Rittertum zum gefürchteten Raubrittertum verkommt, Ketzer zwar noch verbrannt werden, aber nicht, bevor sie ihr Saatgut hinterlassen können, das die Spaltung der katholischen Kirche in zwei christliche Religionen einleitet. Die Renaissance, die mit den Werten der kirchlich zentralgesteuerten Welt des Mittelalters bricht und so vieles neu andenkt, fördert die Künste ebenso wie den Handel. Die Epoche war urban, international und zukunftsorientiert – und gleichzeitig politisch turbulent, unsicher und oftmals grausam.
Nirgendwo ist das pointierter zusammengefasst als in dem Filmklassiker «Der dritte Mann», der auf einer Romanvorlage von Graham Greene beruht. In der Auseinandersetzung des verbrecherischen Protagonisten, gespielt von Orson Welles, und seinem Antagonisten, Joseph Cotton, antwortet der amoralische «Held» auf die Vorhaltungen und Anklagen seines ehemaligen besten Freundes: «Sei nicht so trübsinnig. Es ist alles halb so schlimm. Denk daran, was Mussolini gesagt hat: In den dreißig Jahren unter den Borgias hat es nur Krieg gegeben, Terror, Mord und Blut. Aber dafür gab es Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz herrschte brüderliche Liebe, 500 Jahre Demokratie und Frieden. Und was haben wir davon? Die Kuckucksuhr.» Nun, es waren nicht die Schweizer, sondern die Schwaben, die dieses wertvolle Kulturgut in die Gesellschaft eingebracht haben, aber abgesehen von der geographischen Fehlangabe enthalten diese Zeilen brisanten Stoff zum Nachdenken.
Nachdenken? Wenn Sie jetzt überlegen müssten, was das ist, wäre dieser Vorgang nicht Nachdenken. Nach-denken setzt Denken voraus, basiert auf Wissen und ist ohne eine Vorstellung von Kontext nicht möglich. Nachdenken ist Einordnen, Evaluieren, Entscheiden ebenso wie Lernen, Begreifen und Erkennen. Nachdenken führt in vielen Fällen zu einer anderen Dimension des Urteilens und Handelns, erhellt Zusammenhänge und löst häufig den viel zitierten Aha-Effekt aus. Das alles fordert einen gewissen Zeitaufwand – und damit wären wir der Erklärung einen Schritt näher, warum unsere Zeit keine Chance hat, Renaissancemenschen zu produzieren, obwohl es noch nie in der Geschichte der Menschheit einen so leichten Zugang zu Wissen gegeben hat. Wer in dieser hektischen globalisierten Wirtschaftswelt nimmt sich heute schon genügend Zeit zum Denken?