Читать книгу Das Feuerzepter - Морган Райс, Morgan Rice - Страница 10
KAPITEL EINS
ОглавлениеIn der schwarzen Leere des Nichts spürte Christopher Blue einen Sog, der sich vielleicht mit der Anziehungskraft von Magneten vergleichen ließ. Es war ein furchtbares Gefühl und eines, an das er sich bereits schmerzhaft gewöhnt hatte. Das Gefühl der Zusammensetzung seiner Atome. Er wusste, was als nächstes kam, sobald er wieder seine menschliche Form eingenommen hatte: das ziehende, reißende, qualvolle Gefühl des Auseinandergezogen-Werdens. Atom für Atom. Immer wieder und wieder. Wie oft hatte er das nun schon durchlebt? Hundert Mal? Millionen Mal? Befand er sich seit Tagen oder seit Jahren in diesem endlosen, furchtbaren Kreislauf? Er wusste es nicht. Sein Leben bestand aus dem immerwährenden Drücken und Ziehen des Nichts, dem einnehmenden Gefühl des Hasses – und dem Namen Oliver.
Oliver. Sein Bruder. Das Objekt seiner tiefen Abscheu. Der Grund, weswegen er hier gelandet war.
Er war allein im Nichts. Es gab keine Geräusche. Kein Licht. Nur den schrecklichen Kreislauf, der seine Atome auseinanderzog und wieder zusammenfügte. Doch Chris hatte seine Erinnerungen und die wiederholten sich so oft wie das Zerreißen seiner Atome. Er dachte an Oliver. An seinen Moment der Feigheit im alten Italien, als ihm klar wurde, dass er ihn nicht töten konnte. Und er dachte an die Portale, die immer näherkamen, ihm schließlich die Extremitäten vom Körper rissen und ihn an einen Ort zwischen den Zeiten schickten. Er verweilte in diesen Erinnerungen während er den schmerzhaften Prozess wieder und wieder durchlitt.
Plötzlich veränderte sich etwas. Da war ein Licht.
Licht? Chris dachte nach.
Er hatte fast vergessen, dass so etwas existierte.
Aber es war da. Hell. Ein Glühen. Ein blendendes Licht, das in den Augen weh tat. Wie lange war es her, seitdem er zum letzten Mal Licht gesehen hatte? Zwanzig Sekunden? Zwanzig Jahre? Beide Antworten klangen für Chris absolut plausibel.
Das Licht wurde immer heller und im nächsten Moment war es überall. Die Dunkelheit, die seine Wirklichkeit gewesen war, wurde durch dieses plötzliche Licht ausgetauscht. Und dann, mit einem zischenden Geräusch, das aus allen Richtungen zu kommen schien, war Chris plötzlich irgendwo. Nicht mehr nirgendwo, sondern irgendwo. An einem Ort mit Steinfliesen auf dem Boden, die kalt an seinen Bauch drückten, und einem Geruch in der Luft, der ihn an ein altes, feuchtes Schloss erinnerte. Chris hatte Gerüche, genauso wie Licht, vollkommen vergessen. Dasselbe galt für Berührungen. Und trotzdem waren all diese Sinneswahrnehmungen plötzlich wieder da.
Die Fliesen an seinem Bauch waren hart im Vergleich zu seinem fleischigen Körper. Die Luft war kühl und er fühlte eine leichte Brise auf seiner Haut.
Körper! Dachte Chris. Haut!
Lachend hielt Chris seinen Oberkörper fest, strich mit seinen Händen darüber. Er spürte seine Rippen und sein Schlüsselbein und all das schwammige Fleisch. Er lachte wieder, als ihm dämmerte, dass er sich nicht mehr in der Leere des Nichts befand, wo er als verstreute Teilchen herumgeschwebt war. Nein, er war wieder ein Ganzes. Und dieses Ganze befand sich in der Wirklichkeit.
Jetzt musste er nur noch herausfinden, in welche Wirklichkeit er befördert worden war.
Er richtete sich in eine sitzende Position auf und sah sich um. Der Raum sah vertraut aus. Rote Wände, die wie frisches Blut aussahen. Ein großer hölzerner Thron. Ein Sitzungstisch aus Eiche. Eine hohe, gewölbte Decke. Eine Glasvitrine voller Waffen und Ampullen. Ein Fenster, durch das graues Licht hereingefiltert wurde.
Er stand mit wackeligen Beinen auf und ging zum Fenster. Es überblickte ein mit Gras bewachsenes Feld, das sich bis zu einer Baumreihe ausdehnte. Wie schwarze Silhouetten standen die Bäume am Horizont.
Gras! Chris war begeistert. Bäume!
All das hatte er vergessen. Der Anblick schickte eine Welle der Freude durch seinen Körper. Sein Lachen wurde hysterisch.
„Christopher Blue“, ertönte eine kalte, weibliche Stimme.
Keuchend drehte sich Chris auf seinen Zehenspitzen um. Eine Frau stand im Zimmer. Eine finster dreinblickende Frau, die einen langen schwarzen Umhang trug, der bis zum Boden reichte. Ihre Arme waren verschränkt.
Mit einer plötzlichen Grausamkeit kam ihr Name zu ihm zurück: Madame Obsidian.
Schreckliche Angst durchfuhr ihn. Er stolperte nach hinten, bis er gegen die Steinmauer stieß und sich nicht weiter zurückziehen konnte.
„Sie…“, stammelte er. „Sie haben mich gefoltert!“
Jetzt kam alles zurück.
„Das war deine Strafe“, sagte Madame Obsidian ohne auch nur den kleinsten Funken Reue zu zeigen. „Weil du mich enttäuscht hast. Weil du meinen ausdrücklichen Befehl verweigert hast. Ich kann es wieder tun. Wann immer ich möchte.“
Chris schüttelte den Kopf. Er hatte das Gefühl, am Rande der Verzweiflung zu sein. Allein das Wissen, zurück an den Ort der Turbulenzen, der unendlichen Qual, zurückgeschickt werden zu können, brachte ihn um den Verstand.
„Bitte nicht“, bettelte er und fiel auf die Knie. „Bitte schicken Sie mich nicht zurück.“
„Steh auf du wehleidiges Wesen“, sagte Madame Obsidian. „Betteln wird dich nicht retten.“
„Was wird mich retten?“, fragte er verzweifelt und stand auf. „Was kann ich tun, um nie wieder an diesen Ort zurückkehren zu müssen?“
„Folge meinen Anweisungen“, antwortete sie. „Und töte Oliver Blue.“
Oliver…
Der Name hatte ihn in seiner Zeit im Nichts stets begleitet. Oliver, sein kleiner Bruder. Jahrelang hatte er ihn gehasst. Hatte nichts mehr wollen, als ihm weh zu tun, ihn leiden zu sehen. Und dann, aus Gründen, die er nicht länger verstand, war er in letzter Sekunde zurückgeschreckt. Als Oliver ihm endlich ausgeliefert war, hatte er seine Meinung geändert und ihn gehen lassen.
Aber Chris realisierte nun, dass er seine Meinung nicht nochmal ändern würde. Er hatte keinen Funken von Mitgefühl mehr übrig. Nicht für Oliver. Nicht für irgendjemanden. Seine Zeit im Nichts hatte jedes positive Gefühl, das er je gehabt hatte, ausgelöscht. Zurück blieben lediglich Wut, Angst und Hass.
„Ich werde Sie nicht nochmals enttäuschen“, sagte Chris. „Ich werde Oliver Blue vernichten.“