Читать книгу Dark Star - Moritz Ackermann - Страница 11
III
ОглавлениеIch war zu jener Zeit bereits ein Dreivierteljahr in Bolivien und hatte meinen ersten vierwöchigen Heimaturlaub angetreten, den ich fast ganz mit meinen Kindern auf dem Anwesen meiner Großmutter in Montreux am Genfer See verbrachte. Kontrastreicher ging es kaum, Bolivien war ja in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht genau das Gegenteil der saturierten Schweiz. Ich genoss die Zeit sehr, vor allem wegen des ungezwungenen Zusammenseins mit meinen Töchtern, und weil ich meine geliebte Großmutter noch mal sehen konnte, die zwar geistig noch fit war, körperlich aber auf dem absteigenden Ast - ich wusste nicht, ob ich sie noch einmal wiedersehen würde. Und was ihre Kinder mit ihrem Anwesen anstellen würden, an dem ich sehr hing, stand in den Sternen.
Meine Töchter sahen toll aus und reiften zu jungen Frauen heran. Wir lachten viel, schwammen im See, machten Spiele und genossen die Zeit so intensiv, wie man eine Zeit genießt, wenn man weiß, dass sie begrenzt ist. Dementsprechend dunkelte sich unsere Stimmung in den letzten Tagen vor meiner Rückreise nach Bolivien ein und wir wurden sentimental. Die Mädchen fragten mich, warum ich so weit weg in Bolivien arbeiten müsse. Ich wusste nicht einmal eine richtige Antwort. Eigentlich hatte ich ja mit ihnen und ihrer Mutter dorthin gewollt. Warum die mich just in jenem Moment verlassen hatte, war mir nach wie vor unklar. Ich antwortete, dass ich wirtschaftlich gesehen keine Wahl hätte, was irgendwie auch stimmte, denn meine Beratungsarbeit in Deutschland hatte sich durch die Lustlosigkeit, die ich bei ihrer Verrichtung zuletzt empfunden hatte, mehr oder weniger von selber erledigt. Der Abschied war schwer und tränenreich. Immerhin konnte ich jede Begegnung mit meiner Ex-Frau vermeiden, sie hatte bereits einen neuen Partner, einen jungen Tunesier.
Auf der Rückreise wandelte sich die Euphorie der Hinreise in eine tiefe depressive Verstimmung. Diese verschärfte sich noch, als ich im letzten Flug nach La Paz neben einem arroganten Huhn von der GTZ saß, der anderen deutschen Entwicklungshilfeinstitution, bei der die Entwicklungshelfer das Vierfache von dem verdienten wie wir beim DED.
Sie war dort oberste Finanzchefin, flog zu einem Kongress nach Lima und empörte sich, dass es bei diesen Kurzflügen keine erste Klasse gab. Dann erklärte sie mir, welche Airlines ihrer Erfahrung nach die beste erste Klasse hätten. Sie wusste nicht genau, um was es auf dem Kongress in Lima gehen würde, aber sie hatte sich schon die besten Restaurants ausgesucht, denn Lima war ja bekannt für seine Spitzenküche. Ich wunderte mich darüber, wie weltfremd und schamlos sie war, solche Geschmacklosigkeiten auch noch öffentlich zu verkünden. Wir vom DED rackerten - zwar sinnlos, aber immerhin - an der Entwicklungsfront und die GTZler flogen erster Klasse, ließen sich vom Chauffeur im Range-Rover durch die Gegend kutschieren und planten irgendwelche Großprojekte, die keiner wollte und brauchte.
Die letzten fünfhundert Kilometer mit dem Bus nach San Ignacio stand ich irgendwie durch, ich war mit den Wartezeiten an den Flughäfen bereits mehr als drei Tage unterwegs. Man wird auf solchen Reisen zu einem stumpfen Gegenstand. Man wartet nur noch: in den Flughäfen, in den Flugzeugen, im Hotel, im Bus. Irgendwann am Ende des vierten Tags kam ich mitten in der Nacht ins Haus zurück, und als Marcela mich zur Begrüßung verschlafen umarmte, musste ich weinen, ich war fix und fertig mit den Nerven. Trotzdem verbesserte sich meine Stimmung nach der Rückkehr in unser Haus schnell. Nicht zuletzt dank Marcela, die verstanden hatte, wie schwer für mich die Rückkehr von dieser Reise gewesen war.
In der Zeit danach veränderte sich die politische Lage in San Ignacio spürbar. Der Bürgermeister Erwin Mendez verabschiedete sich gerade in seine dreimonatige, wahlbedingte Abwesenheit. Ich hatte damals einen illegalen Auftrag angenommen - aus Geldnot und aus Langeweile. Die Leute im Munizip hatten irgendwann kapiert, dass ich Statistiker war. Das Katasteramt war völlig durcheinander. Da alle Mitarbeiter in ihren Computern ihre eigene Version der Grenzverläufe hatten, war nichts mehr klar. Der eine Mitarbeiter hatte eine von ihm festgelegte Version der Grundstücksgrenzen im Computer, der Kollege hatte was völlig anderes gepflegt. Es floss bei den physischen Vermessungen ja immer Geld von den Besitzern, beziehungsweise Verkäufern, zu den Vermessern, so dass letztere das registrierten, was da eben vor Ort jeweils verabredet worden war. Da es aber im Munizip kein Intranet gab, pflegte eben jeder der Vermesser so seine eigene Realität in seinem PC. Es führte dazu, dass keiner mehr wusste, wie denn jetzt genau die Besitzlage unter den Nachbarn war. Besonders die Neuankömmlinge aus dem Hochland, die Collas, waren schwer verstört, weil sie teures Geld für ihr Grundstück bezahlt, aber überhaupt nichts Verbrieftes in der Hand hatten, was ihnen den Grenzverlauf ihres Grundstücks rechtlich garantiert hätte. Die wurden natürlich besonders beschissen.
Mein Auftrag wurde geheim beredet, weil ich den Entscheidern vom Munizip klargemacht hatte, dass ich Derartiges eigentlich nicht tun dürfte, es war in meinem Arbeitsvertrag ausdrücklich verboten. Es lief darauf hinaus, dass ich mit einem Gehilfen des Katasteramtes loszog und alles nochmal neu vermessen sollte. Das klingt komplizierter, als es war, denn da wirklich fast alles rechteckig und symmetrisch angelegt war, ging es in erster Linie darum, die zur Straße hin feststellbaren Grenzen richtig zu vermessen. Das ging mit dem Lasermessgerät dann auch relativ flott.
Manolo, der für das Projekt abgestellte Typ vom Munizip, ein uninteressierter Fettwanst, funktionierte nach anfänglicher Nörgelei mit seinem Laserstativ auch ganz gut, nachdem er gemerkt hatte, dass die ganze Sache machbar war. Ich kriegte tausend Dollar für vier Wochen Knochenarbeit. Wir liefen alle 287 Häuserblocks der Stadt ab und nahmen die Maße der bestehenden Grenzverläufe auf, den Status quo. Das Ganze wurde dann von mir in einen CAD-Plan eingepflegt, in dem ich die falsch registrierten Grenzen korrigierte. Ich bekam am Ende sogar mein Geld.
Einer der letzten Flecken, die ich gegen Ende der Arbeit für das Katasteramt registrierte, war der Colla-Markt. Er lag in einem Stadtviertel, in dem lose einzelne Marktflecken verteilt lagen, von denen jeder etwa einen Häuserblock einnahm. Der Fleischmarkt, der Gemüsemarkt, der Alltägliche-Utensilien-Markt. Der Colla-Markt lag abseits, denn die lokalen Verkäufer akzeptierten keine Highländer auf ihren Märkten, so dass die Jungs aus dem Altiplano einfach ihren eigenen Markt auf einer brachliegenden Parzelle eröffnet hatten – sozusagen instand besetzt, alles unter schwarzen, provisorisch aufgespannten Plastikplanen und leichten Holzkonstruktionen.
Die Start- und Landebahn des lokalen Flughafens lag in direkter Nähe zur Stadt. Und wenn dort Maschinen landeten, röhrten sie erst einmal über den Colla-Markt und einzelne Plastikplanen flogen immer wieder weg, alles hüllte sich in Staub.
Die Collas hatten aber deutlich bessere Angebote als die Cambas: Das Gemüse und Obst war frischer, alles war schöner präsentiert. Die Frucht- und Gemüsetürme wurden sogar nach den Flugzeugstarts wieder entstaubt. Bei den Cambas war alles durcheinander. Außerdem bauten die Collas ihr Grünzeug selber an, was ihnen eine erheblich bessere Marge als den Cambas brachte. Das wiederum verstärkte den Neid der Cambas, denn die mussten ihr Obst und Gemüse zu teuren Preisen aus Santa Cruz importieren. Das war für sie stressfreier, als selber anzubauen. Untereinander kamen sie mit den verabredeten Preisen klar - solange niemand günstiger anbot. Und genau das taten die Collas.
Als ich mich fast am Ende der Startbahn befand und gerade im hohen Gras den Grenzstein des Planquadrats des Marktes suchte, hörte ich plötzlich Explosionen vom stadtseitigen Ende des Blocks, an dem die Plastikplanenzelte des Colla-Marktes lagen. Auf der Straße vor den Eingängen des Colla-Marktes hatte sich eine laut skandierende Menschenmenge gebildet. Es wurden Feuerwerkskörper ins Innere des Colla-Marktes geschleudert. In jenem Moment fand mein Begleiter Manolo den gesuchten Grenzstein, der Tumult schien ihn wenig zu interessieren. Ich sagte ihm, er solle beim Grenzstein warten und ging in großem Bogen um die Szene herum zur Straße, um mich von dort aus wieder dem Geschehen zu nähern. Ich fragte einen herumstehenden Alten, was denn los sei?
»Die Collas haben in Santa Rosa die Busse unserer Delegation blockiert, die an der Demonstration für die Separation in Santa Cruz teilnehmen wollte. Die konnten nicht weiter. Jetzt sind sie zurück und jetzt gibt's die Strafe!« Er lachte hämisch.
In dem Moment startete eine kleinmotorige Maschine, röhrte über die Menschenmenge und hüllte alles in eine Staubwolke. Als sich der Schleier gelegt hatte, wurde erkennbar, dass etliche Cambas die unklare Sicht genutzt hatten, in den Colla-Markt eingedrungen waren und dort einzelne Stände mit Getreidesäcken, gestapeltem Gemüse und Obst umgeschmissen hatten. Plastikplanen wurden angezündet, die Holzgestelle, über die sie gespannt waren, brannten auch bald.
Notgedrungen mussten sich die Collas zurückziehen, auch wenn immer wieder wutentbrannte, korpulente Männer aus ihren Reihen in Richtung ihrer brennenden Stände liefen, um wild auf die zerstörenden Camba-Vandalen einzudreschen. Das hatte bei den meisten zur Folge, dass sie selber böse vermöbelt wurden und noch Tritte kassierten, selbst als sie schon am Boden lagen.
Erwin und seine Hofschranzen waren auch gekommen. Sie standen abseits im Schatten eines Säulenganges. Höhnisch beobachteten sie das Geschehen und lachten schenkelklopfend. Plötzlich kamen zwei Lastwagen aus der städtischen Kaserne angepoltert. Am Eingang des Marktes kamen sie ruckartig zum Stehen und es hüpften vier Züge blutjunger, mit Maschinenpistolen bewaffneter Hochlandsoldaten heraus und formierten sich. Sie trugen weiße Helme und eine Schärpe über ihren Tarnanzügen, die sie als Militärpolizei auswies. Ich wusste gar nicht, dass das geht - einfach so von Soldat auf Polizei umzuswitchen.
Erwin und Konsorten hatten aufgehört, zu lachen und schauten nun ernst auf die Militärs. Der Befehlshaber schrie sich die Seele aus dem Leib, jeder zweite Soldat gab eine Schusssalve in die Luft ab, dann setzten sie sich im Dauerlauf in Richtung Colla-Markt in Bewegung. Es dauerte nicht lange, da kamen von dort auch schon die ersten Schüsse. Weil die meisten Plastikplanen qualmten, war wenig zu sehen. Inzwischen war draußen die gaffende Menschenmenge weiter angewachsen, Teile von ihr skandierten unaufhörlich ›Collas raus!‹, ›Unsere Chiquitania!‹ und Ähnliches.
Die Collas zogen sich in Flughafenrichtung aus ihrem Markt in die umliegende Pampa zurück. Große Teile von ihnen bewegten sich im Lauftempo in Richtung meines Gehilfen Manolo, der immer noch am startbahnseitigen Ende des Planquadrates teilnahmslos und gähnend an sein Stativ gelehnt stand. Die Frauen rannten tittenschlonkernd voran, die meisten mit Kleinkindern im Arm. Die Männer bildeten die Nachhut, um die Frauen vor den sie verfolgenden Cambas abzuschirmen.
Die Frauen waren auch die ersten, die meinen Gehilfen erreichten, ihn sofort als Camba identifizierten, auf ihn einschlugen und -traten. Er wurde einfach umgerannt und jeder der vorbeikam, verpasste ihm was. Ich machte drei Typen vom Munizip in der Nähe aus und schrie ihnen im Vorbeilaufen zu, dass Manolo dort hinten am Ende des Geländes alleine stand, oder mittlerweile lag, ich sah ihn nicht mehr. Die Jungs kamen sofort mit, schließlich war ein Camba in Lebensgefahr.
Als wir ankamen, lag Manolo wimmernd am Boden, sein Wanst quoll über den Hosenbund. Sein Gesicht war auf der einen Seite bereits blau angelaufen, aus dem Mundwinkel sickerte Blut. Wir richteten ihn auf, stützten ihn zu zweit und bewegten uns in Richtung Straße. Die anderen Munizipler eilten herbei, um uns vor weiteren Angriffen der vorbeirennenden Collas abzuschirmen. Die Luft war staubschwer, es roch nach verbranntem Plastik und Schwarzpulver.
Die Sonne neigte sich einem weiteren wunderschönen, blutorangeroten Untergang entgegen. Auf der Straße angelangt, übergaben wir Manolo einem der beiden Rettungsteams, die das städtische Krankenhaus vor Ort bereits abgestellt hatte. Sie konnten für die Verletzten des Marktes noch nichts tun, da aus dem Colla-Markt immer noch Tumulte und vereinzelte Schüsse hörbar waren. Daher bekam Manolo zunächst ihre volle Aufmerksamkeit.
Als in der folgenden Verschnaufpause mein Blick über die Zuschauer schweifte, erkannte ich plötzlich das Gesicht des Mannes, vor dem ich auf dem verlassenen Anwesen des Bischofs auf dem Wasserwege abgehauen war. Seinen Namen, den mir Anna genannt hatte, hatte ich nicht vergessen: Eduardo Rózsa Flores, der Glatzkopf mit Bart und großer Narbe auf der Backe. Er stand inmitten zweier sonnenbebrillter Begleiter in einem höher stehenden Säulengang und schien sichtlich zufrieden mit dem Geschehen, alle drei grinsten und scherzten. Er hatte diesmal keine Tarnklamotten an, sondern Shorts, T-Shirt und Adiletten, wie seine beiden Begleiter auch. Einer der beiden war auffallend dünn und schlaksig und einen Kopf größer als Rózsa Flores. Ich fragte mich, ob Rózsa Flores mich wiedererkannt hatte, als er sich umdrehte und meinen Blick traf. Er lächelte mich, gar nicht unsympathisch. Ich erschauderte trotzdem und vermied seinen Blick, schaute wieder zum Geschehen. Als etliche junge Soldaten mit gefangenen Camba-Aktivisten in Gewahrsam, vom Markt wieder auf die Straße kamen, trollten sie sich in Richtung von Erwins Gruppe, klatschten mit denen ab und verschwanden. Erwin und seine Hofschranzen wandten sich auch ab und verließen langsam die Szene.
Die Soldaten verfrachteten die Gefangenen schnell in die Lastwagen und beeilten sich, wieder abzuhauen, denn die empörte Zuschauermenge formierte sich bereits und forderte lauthals die Freilassung ihrer Leute.
Wie ich später hörte, wurden die Gefangenen der lokalen Polizei übergeben, welche sich vor Ort komplett aufs Zuschauen beschränkt hatte. Die gefangenen Cambas saßen ab jenem Moment im Knast des Polizeireviers ein und wurden in San Ignacio fortan zum Symbol des Kampfes der Nación Camba für ihre Befreiung von den unerwünschten Collas und der Ausbeutung durch diese. Mahnwachen wurden kurz darauf aufgestellt, Kerzen brannten wochenlang vor dem Knast des Polizeipräsidiums und die Märtyrer erhielten andauernd Fresspakete.
Als ich kurz darauf nach Hause kam, saßen meine drei Mitbewohner auf der Terrasse, Wilson redete aufgeregt, es war bereits dunkel. Sie tranken Bier und rauchten Joints. Ich grüßte die Mädels per Wangenkuss und drückte Wilsons schlaffe Fischhand. Ich setzte mich dazu und lauschte erst mal, was Wilson denn so in Aufregung versetzt hatte.
Es ging um die Blockade in Santa Rosa de la Roca am Vormittag. Er war zufällig in einer Comunidad in der Nähe gewesen und hatte auf der Rückfahrt nur kurz in Santa Rosa angehalten, um in einem Laden Wasser zu kaufen. Am Ortsausgang Richtung Santa Cruz hatte er einen Menschenauflauf beobachtet und sich neugierig an den Rand des Geschehens gestellt. Er war überrascht von der, wie er sagte, ›überkochenden, aggressiven‹ Stimmung vor Ort.
Die Collas der Gegend waren in Scharen aus ihren umliegenden, neu gegründeten Weilern nach Santa Rosa gekommen, um die Cambas aus San Ignacio daran zu hindern, zur Pro-Referendum-Demo nach Santa Cruz zu reisen.
Wilson hatte sich nahe genug beim aufgebrachten Mob positioniert, um zu verstehen, was dort los war. Die angereisten Collas hatten am Ortsausgang bereits angefangen, Barrikaden zu errichten: Autoreifen, Baumstämme, Möbelstücke - dasselbe Blockadematerial wie überall. Die Nebenstraßen, die durchs Gestrüpp neben der Hauptstraße verliefen, waren ebenfalls verbarrikadiert. Es gab kein Durchkommen mehr. Einige Reisende in beide Richtungen hatten es versucht und wurden dabei vom aufgebrachten Colla-Mob fast auseinandergenommen. Auch diejenigen, die es über die Feldwege versucht hatten, kamen entnervt zurück, um sich wieder brav in die Autoschlangen beiderseits der Straßensperre einzureihen.
Wilson hatte ansonsten zweierlei Interessantes beobachtet. Zum einen hatte er Hermann Rhön in einem Telefonladen wild gestikulierend, schreiend offensichtlich mit dem Bürgermeister telefonierend gesehen - in Santa Rosa gab es kein Handynetz. Zum anderen, und das weckte wirklich mein Interesse, hatte er bei den Mannschaften, welche die Sperren bei seinem Eintreffen immer noch höher bauten, mehrere europäisch aussehende Gestalten gesehen. Diese passten, unter den tiefbraunen Collas, zum Geschehen, wie Schneewittchen unter afrikanische sieben Zwerge.
Sie feuerten die Collas an und legten auch beim Barrikadenbau mit Hand an. Die ganze Palette an Schimpfwörtern gegen die Cambas, gemischt mit Parolen wie ›Bolivien nur geeint!‹ oder ›Ein Volk, eine Nation!‹, beteten sie rauf und runter, peitschten die Stimmung der Collas auf, und schenkten Zuckerrohrschnaps an alle aus, die ihrem hetzerischen Treiben beiwohnten.
»Die sind Europäer. Ich habe die schon mal gesehen. Ich beobachte in letzter Zeit zusammen mit dem Leiter von Fundación Tierra Libre vom hügeligen Terrain aus die Aktivitäten zweier großer Haziendas, die der Iren und die der Brasilianer, Santa Flor. Ein Drittel der von denen gekauften Flächen ist eigentlich Indianergebiet. Die jetzigen Besitzer haben deshalb massive Probleme mit diesen Indianern, die das ihnen rechtmäßig zustehende Land zurückhaben wollen.
Wir haben extra ein Präzisionsfernrohr gekauft - das hab ich von meinen DED-Fonds bezahlt. Wir haben den Fokus jeweils auf die Höfe der Anwesen gerichtet, also dort, wo gewohnt, administriert und gegessen wird, und wo außerdem die ganzen schweren Maschinen geparkt sind.«
»Das ist ja richtig abenteuerlich, Don Wilson!« unterbrach ihn Marcela zynisch. »Weiß der DED von deinen James-Bond-Aktivitäten? Ich meine, euch ist es ja streng verboten, investigativ oder politisch aktiv zu sein.« Erst jetzt merkte ich, dass die Stimmung zwischen Marcela und Wilson unangenehm angespannt war.
Wilson wechselte übergangslos von Erregung in blanke Wut. Er hatte sich in den vergangenen Wochen sehr verändert, war introvertierter geworden, zurückgezogener aber auch reizbarer. Er hatte irgendwann angefangen, die Wände seines Zimmers mit wirren hingeschmierten Skizzen zu tapezieren. Viele schemenhafte, unidentifizierbare Landkarten, Ortsnamen und Akteure: der Bischof, die Ausländer, Erwin Mendez, die großen Hacienderos oder die Namen ihrer Anwesen, die Indianer und nicht zuletzt die ›Fremden‹. Außerdem kiffte er ununterbrochen, morgens, mittags, abends, nachts.
Er schlief irgendwie kaum noch. Zunächst fiel es mir gar nicht auf, erst als Marcela mich darauf hinwies, merkte ich, wie er nachts durchs Haus schlich und öfter auch im Garten verschwand. Er bediente sich auch heimlich an meinem Dope. Er wusste, dass ich es in meiner Schreibtischschublade aufbewahrte und er fand, dass das günstiger war, als selber welches zu kaufen. Stellen konnte ich ihn aber nie und merkte es auch selber nicht, denn das ›Grüne‹, wie es vor Ort genannt wurde, um es aus Dealer-Sicht beim Bestellen vom ›Weißen‹ zu unterscheiden, kam ja immer in tennisballgroßen Packungen - da merkte man nicht so, wenn was fehlte. Marcela hatte es aber beobachtet und mir gesteckt. Ihre rein sexuelle Beziehung zu Wilson war schon länger auf dem absteigenden Ast.
Wilson sprang auf, seine großen Augen sprangen ihm fast aus dem Gesicht. »Du verblödete Fotze hast überhaupt nichts kapiert! Ich hab dir wahrscheinlich schon das Hirn rausgefickt!«
Das war eine definitiv neue Tonart im Haus. Es war so absurd, dass Marcela und ich uns verblüfft ansahen. Sandra zog das Kinn mit Spitzmund runter und drehte ihre großen Augen zur Seite.
»Mit was denn, Wilson? Mit deinem Mini-Schwänzchen? Stimmt, jetzt, wo du's sagst, da war was.« Marcela stand auf. Wilson starrte sie völlig entgeistert an. Ich stand auch auf.
»ICH SCHNEID DIR DIE TITTEN AB, DU FOTZE!« schrie er mit violettem Gesicht und machte zwei Schritte auf Marcela zu, ich stellte mich ihm in den Weg.
»Wilson, komm ein bisschen runter, das ist jetzt nicht so angenehm, was du hier veranstaltest.«
Er schaute mich mit seinen irren Augen an, es vergingen ewige Sekunden, dann ließ er seine Schultern hängen und fing an zu lächeln. Ein ganz komisches Lächeln. Dann umarmte er mich kurz und sagte beim Wiederloslassen:
»Okay, das war's. Ihr habt keine Ahnung, was hier abläuft und es ist auch besser so.« Er tätschelte meine Schulter und ging ins Haus, fummelte noch irgendwo in seinem Zimmer herum und verließ das Haus türenknallend.
»Der spinnt!« sagte Marcela nach einer Ruhepause zitternd. Sie war noch verängstigt von Wilsons nervöser Reaktion. »Er erzählt immer wirreres Zeug. Das mit diesen Ausländern wird zur Obsession bei ihm. Er glaubt, dass das hier so wird, wie in Kolumbien. Also, dass die Tieflandeliten hier eine Art Privatarmee aufbauen, wie die Paramilitärs in seiner Heimat.
Er engagiert sich mit den linksgerichteten Indianerführern für eine Gegenmobilmachung. Das ist kompletter Wahnsinn, nicht nur, dass er es vom DED aus nicht darf, allen Ausländern ist es strikt verboten, sich in politische Dinge einzumischen.
Seit Evo Morales gemerkt hat, wie sehr USAID sich in die inneren Angelegenheiten Boliviens eingemischt hat, ist er da sehr empfindlich. Die Amerikaner mussten zum großen Teil zusammen mit dem US-Botschafter das Land verlassen. Und die haben nur in Schulen und Gemeindezentren sublim gegen seine Regierung argumentiert.
Wilsons Engagement für die Indianer wird nicht unbemerkt bleiben, eitel, wie er ist. Wenn die merken, dass der sich bei der Scharf- und Mobilmachung der Cambas untereinander einmischt, ist er dran.«
»Moment, das wäre dann ja erst mal Camba gegen Camba, also die Indios hier unten gegen die weißen Eliten?« fragte ich. Ich behielt die Informationen, die mir Anna über Wilson gegeben hatte, für mich.
»Ja, aber ich glaube nicht an eine Privatarmee der Camba-Eliten. Das ist Humbug. Wilson möchte sich gerne als Teil einer bewaffneten Linksrevolution sehen, aber das passt gar nicht zu ihm, der Typ ist der absolute Schisser. Ich denke, er redet das herbei, um sich wichtig zu machen und zu fühlen. Wie ein Junge, der Kriminalfall spielt, sich reinsteigert und überall Verbrecher vermutet.«
»Kenne ich gar nicht, das Spiel.«
»Das haben wir auch als Kinder gespielt.« meinte Sandra. »Man startet in einer Gruppe, fängt an, rumzuschnüffeln, findet seltsame Dinge, beobachtet Leute und fängt an, überall Verbrecher und Kriminelle zu sehen, der Hausmeister, der Postbote und so weiter.«
»Genau!« meinte Marcela. »Oh Gott, der Typ ist so selbstfixiert, ich kann ihn nicht mehr ertragen. Sein Ego sprengt alles.«
Ich schlug vor, was zusammen essen zu gehen, ich hatte ziemlichen Hunger. Und ich wollte das Thema von Wilsons Geheimwissen alleine ergründen. Die beiden waren einverstanden und wir gingen in das einzig annehmbare Restaurant, in dem es ganz guten Fisch und auch diesen Kaiman gab. Leider war alles immer frittiert und mit einer dicken, fettigen Panade überzogen. Aber die Qualität war einigermaßen, alles schmeckte unverdorben. Den Rest des Abends lästerten wir über alles und jeden und lachten. Dennoch war ich beunruhigt wegen Wilson. Er schien irgendwie gerade abzudrehen.
Die Vorfälle setzten sich fort. Es war ja keineswegs so, dass nur die Cambas die provozierenden Aggressoren waren, die Collas wehrten sich nicht nur, sie gingen selber auch wenig zimperlich mit den Cambas zur Sache, wo immer sich Gelegenheit bot. Wie von einer unsichtbaren Hand getrieben, entstanden aus dem Nichts Prügeleien, Brandschatzungen und Massenschlägereien. Im darauf folgenden Monat bekam die Aggression eine beunruhigende Beschleunigung und Eigendynamik. Es ging am Monatsletzten des Mai 2009 los, ich war bereits fast ein Jahr in San Ignacio. Ein klapperdürrer Franziskanerprior namens Fray Fausto wurde auf dem großen Platz von Mitgliedern des Comité Cívico und der Unión Juvenil de San Ignacio zusammengeschlagen. Eine Meisterleistung des Mobs gegenüber dem alten Mann. Es wurde kolportiert, dass der Bischof vor seinem Palast gestanden und der Szene lächelnd zugeschaut hätte.
Fray Fausto wurde unterstellt, offen die MAS11 zu unterstützen, die Colla-Partei des Staatspräsidenten Evo Morales Ayma, und die Bewohner der ihm zugeordneten Comunidades zur Wahl derselben aufzurufen. Ich selber schlief zu dem Zeitpunkt noch, aber bald weckte mich Juán und nahm mich auf seinem Motorrad mit.
11 Movimiento al Socialismo - Bewegung für den Sozialismus
»Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Die sind in Lynch-Stimmung.«
»Fühlst du dich bedroht?«
»Nicht wirklich, Erwin hat heute Morgen öffentlich die Gewalt von gestern verurteilt und alle zur Ruhe aufgerufen. Außerdem war ich eben in der Bürgermeisterei, da waren alle normal zu mir.«
Dann erzählte er mir, was mit Fray Fausto geschehen war. Der war mittlerweile im Krankenhaus angekommen und wurde versorgt. Eine gebrochene Rippe, Schürfwunden an Gesicht und Hinterkopf.
Juán wollte kurz bei Don Fafafa vorbeischauen, um mit dessen Koch über den Gewürzgarten zu reden, die Oreganopflanzen hatten schlappgemacht. Das Anwesen Don Fafafas lag jenseits der Mautstation, an der in Fahrtrichtung nach Santa Cruz immer Geld abkassiert wurde. Rätselhaft wofür, wurden die zweihundert Kilometer Feldweg nach Concepción doch in keinster Weise gewartet, weniger noch geteert. Zu jener Zeit, während der Regenzeit im Mai, versanken die transkontinentalen Trailer aus und nach Brasilien kurz vor San Ignacio im roten Schlamm. Es entstanden regelrechte Camps von Steckengebliebenen. Die warteten dann teilweise bis zu drei Wochen, um wieder freizukommen. Es war ein echtes Chaos. Leichtere Fahrzeuge mussten teilweise über die Böschungen fahren, um an den quergestellten, festgefahrenen, bis zum gesattelten Container im Schlamm versunkenen LKWs vorbeizukommen.
Da die Burschen sich nicht von ihren Fahrzeugen entfernen durften, kam eben die Ware zu ihnen: Garküchen rückten an, Nutten, fahrbare Diskotheken sowie Alkohol- und Coca-Verkäufer. Die brasilianische Popmusik aus dem Hinterland lag wie ein permanenter Singsang-Schleier über der Szene jenseits der Mautstation.
Als wir der Mautschranke näher kamen, war dort schon wieder irgendein Tumult. Als wir etwa zweihundert Meter entfernt waren, hielt Juán an.
»Das ist das Comité Cívico. Und Don Edmundo läuft gerade wieder zu Hochform auf.«
Don Edmundo war ein Cousin von Hermann Rhön, der Oberschranze Erwins im Munizip, und sah ihm nicht unähnlich. Er war zum Zeitpunkt meiner Ankunft, vor nunmehr sieben Monaten, zum Präsidenten des Comité Cívico gewählt worden. Das Comité Cívico war eigentlich als eine Art Schlichterstelle konzipiert, die eher vermittelnd und integrativ auf die Lokalpolitik und ihre ständig aufkeimenden Konflikte wirken sollte. Dieses Ziel hatten sie offensichtlich aufgegeben. Don Edmundo Schrenz stakste mit erhobenem Blondschopf durch die Meute von Mithetzern und schrie irgendetwas von Boykott und Scheißpräsident. Mit ausladenden Armbewegungen trieb er seine Gefolgschaft an, die Mauthütte zu schleifen.
»Das ist doch auch die Unión Juveníl, die da mitmacht oder?« fragte ich, in Edmundos Pulk waren neben der aufgebrachten dunkelhäutigen Menge auch wieder die scheinbar unvermeidlichen Teenager mit Sneakers und Baseballkäppies erkennbar.
»Ja, die sind immer dabei. Edmundos Scharfmacher.«
»Und jetzt?« Edmundo hatte mit seiner Meute bereits das Mauthäuschen umgestürzt und die Polizei, die normalerweise dort die Maut abkassierte, stand in einiger Entfernung hilflos bis verunsichert herum und schaute zu, wie das Ding nun zertrümmert wurde. Von hinten kam ein Motorrad mit einem einfachen Polizisten und Subteniente Sigchá auf dem Rücksitz, es war der Polizist, der mich und Odile damals, nach der Rettungsaktion für den verletzten Polizisten, in Empfang genommen hatte. Juán machte kehrt und wir fuhren zurück in Richtung San Ignacio.
»Und Don Fafafa und der Oregano?« fragte ich Juán.
»Besser, wir hauen ab. Die sind jetzt zu allem fähig.« Ich spürte Panik in seiner Stimme.
»Was ist los Juán, ich kapier nicht, was hier eigentlich passiert.«
»Die wollen alle Collas hier loswerden und schüchtern sie ein.«
»Und was hat das mit der Mautstation zu tun?«
»Keine Ahnung. Ich muss zu meiner Familie. Kann ich dich an der Plaza lassen?«
»Klar, mach nur, kein Problem.« Ich spürte zunehmend, dass hier etwas Dramatisches dabei war, seinen Lauf zu nehmen.
Juán ließ mich an der südlichen Seite der Plaza Mayor absteigen und zischte ab. Ich durchquerte den Park der Plaza in Richtung Munizip. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich erst gar nicht den nächsten Tumult bemerkte, der sich schon wieder an einer der Seitenstraßen im Norden der Plaza ereignete. Es war in der Straße, in der das Büro von Wilsons Partnerorganisation Fundación Tierra Libre lag. Genau genommen fand der Tumult direkt vor dessen Büro statt. Ich ging ein paar Schritte auf die Szene zu, um zu sehen, was genau los war. Durch die Säulen des Gebäudes konnte ich sehen, dass die Holzfensterläden von Wilsons Bürogebäude verschlossen waren. Es flogen bereits erste Bierflaschen gegen Fassade und Fensterläden des einstöckigen Hauses. Der Mob bestand aus derselben Mischung von angetrunkenen Jugendlichen und eifrigen Munizip-Cambas, wie bei der Szene an der Mautstation, nur diesmal geschah es unter der Leitung von Herrmann Rhön. Sein hochroter Kopf ragte aus der Menge und er schien gerade zu Hochform aufzulaufen. Als Herrmann aus dem Pulk trat, um eine Flasche Bier anzusetzen, ging ich zu ihm.
»Was ist denn hier los, Hermann?« fragte ich, gestellt naiv, denn es war mir mittlerweile klar, dass auch diese Aktion irgendwie gegen die Collas gerichtet war, beziehungsweise, dass für eine unabhängige Nación Camba demonstriert wurde.
»Es geht jetzt los, mein Freund. Wir machen jetzt Schluss mit denen.« Er war mindestens halbvoll. »Trink eins und wirf die Flasche!« Er holte eine Bierflasche aus den Kästen, die sie mitgebracht hatten, und hielt sie mir vor die Nase.
»Edmundo, wir dürfen uns nicht politisch engagieren, ich verliere meinen Job.« Ich nahm die Bierflasche. Ich verstand ihn kaum, das Gegröle und Flaschengeklirre waren ohrenbetäubend.
»Was soll der Scheiß, du bist doch einer von uns, oder?«
»Klar Hermann, ich hab aber eine Familie in Deutschland zu versorgen, wenn ich den Job verliere, komme ich in Schwierigkeiten.«
Er schaute mich schief an. Dann lachte er und schlug mir auf die Schulter. »Dann schau halt zu. Erwin kommt auch gleich.« Er wollte sich gerade abwenden, um wieder zu seinem Mob zurückzukehren, doch ich hielt ihn zurück.
»Sind da Leute drin, Edmundo?«
»Klar, die holen wir jetzt da raus!«
Ich musste an Wilson denken, fragte aber nicht weiter. Ich entfernte mich von der Szene so weit, dass man wieder telefonieren konnte, und rief Wilson an. Er antwortete sofort und brüllte in meine Hörmuschel.
»ROBERT, DIE WOLLEN UNS LYNCHEN!!!«
»Könnte sein. Bist du da drin?«
»KLAR BIN ICH DA DRIN!« schrie er weiter. »HOL MICH HIER RAUS!«
»Wie denn bitte, da sind fünfzig Verrückte vor deiner Tür!« Ich musste etwas schmunzeln. »Bist du alleine?«
»NEIN, VERDAMMTE SCHEISSE, DIE BEIDEN SEKRETÄRINNEN SIND BEI MIR. KOMM VON DER SEESEITE IN DEN GARTEN DES HAUSES, BEEIL DICH, ICH SCHEISS MIR GLEICH IN DIE HOSE!!!«
Ich rannte die fünfhundert Meter zu unserem Haus, holte die alte Hilux raus und röhrte über den City-Ring zum Staudamm, fuhr dann langsam das Seeufer entlang und versuchte herauszufinden, welche der weit oberhalb liegenden Häuserrückseiten zu Wilsons Büro gehörten. Schließlich sah ich Wilson hektisch winkend im Türrahmen einer kleinen Holztür in einer das hintere Gelände seines Bürogebäudes umgebenden Mauer stehen. Ich fuhr so weit heran, wie es ging, musste aber in gut fünfzig Meter Entfernung stehenbleiben. Zur Holztür führte ein Weg, auf dem mir Wilson, beladen mit Aktenstapeln, entgegengerannt kam. Die beiden Sekretärinnen folgten, ebenfalls schwer beladen.
»Komm mit und hilf mir, da fehlt noch was. Die kommen oben gleich ins Büro gestürmt.«
Ich lief hinter ihm her. Hinter dem Mauertürchen warteten noch etliche Aktenstapel, die wir aber zu viert in einem Gang zum Auto schafften und zu den anderen auf die Ladefläche meiner alten Hilux knallten. Ich fuhr los, Wilson schaute ängstlich nach oben, ob die Meute bereits durch das Fluchttürchen in der Mauer drängte. Ich fuhr zurück auf den Cityring, zurück ins Dorf und in Richtung Hermann Rhön's Meute.
»BIST DU GEISTESGESTÖRT?« rief er schrill. »DIE BRINGEN UNS UM!«
»Quatsch, die sind so mit sich und ihrer Aktion beschäftigt, dass die uns gar nicht wahrnehmen. Die denken, ihr seid da noch drin.«
Wilson duckte sich tief unter die Konsole, die Sekretärinnen auf der Rückbank taten es ihm gleich. Ich fuhr näher an die Szene ran und sah, dass sie tatsächlich einen der massiven Holzläden aufgehebelt hatten und die ersten der Meute hineinkletterten.
»Sind sie drin?« ächzte er unter der Konsole.
»Ja, die klettern rein.«
»Oh Gott, oh Gott.«
»Reg dich ab, du bist ja in Sicherheit.«
»Ja, aber das ist alles so furchtbar. Mir ist speiübel!«
Ich fuhr in eine Seitenstraße, die vor dem Ort des Geschehens von der Hauptstraße abbog, so dass ich das Treiben gerade noch vom Auto aus einsehen konnte.
»FAHR WEITER, VERDAMMTE SCHEISSE!« brüllte er mich an, er quälte sich unsicher unter der Konsole hervor.
»Mach mal langsam, Meister, das ist mein Auto und ich habe dich gerade gerettet.« Mein Ton wurde bestimmt.
»DU SOLLST JETZT LOSFAHREN SONST …«
»Sonst was?«
Er war jetzt ganz aus seinem Versteck hervorgekrochen und fing an, mit beiden Fäusten auf die Konsole zu prügeln. Dann hörte er mit einem Mal auf und schaute mit knallrotem Gesicht starr geradeaus. Ich überlegte kurz. Die wussten ja, wo Wilson wohnte. Ich wollte nicht, dass der Trupp plötzlich vor unserem Haus auftauchte. Was hatten die bloß an Wilson gefressen? Ich rief den Bürgermeister Erwin an. Er ging sofort ans Telefon.
»Erwin, weißt du, was Hermann und die anderen gerade anstellen?«
»Ja, er hat mich eben angerufen, sie wollen die Idealisten von der Fundación Tierra Libre ein bisschen ärgern. Nichts Schlimmes.«
»Das sehe ich anders, Erwin, die sind in Lynchstimmung und gerade gewaltsam in die Büroräume eingedrungen. Ich habe Angst, dass die jetzt zu unserem Haus kommen und da weitermachen. Könntest du Hermann nicht sagen, dass es reicht für heute?«
»Hm … die sind doch harmlos.«
»Erwin, ich bitte dich ja nur um einen Gefallen. Ich wohne dort und arbeite für dich. Wir sind befreundet, ich verdiene solche Aggressionen nicht.«
»Na gut, ich rufe Hermann mal an, mal schauen, was der meint.«
»Erwin, pfeif' die Truppe zurück, es geht zu weit.«
Er hatte aufgelegt.
Als ich wieder zum Tumult blickte, zog Hermanns Truppe bereits ab. Ich fuhr über einen Umweg nach Hause, das Schlimmste befürchtend. Ich hatte das Tor der Autoeinfahrt offengelassen und fuhr direkt rein, stieg aus und schloss das Tor. Wilson rührte sich nicht. Die Sekretärinnen blieben ebenfalls im Auto sitzen und hatten angefangen, zu heulen. Ich ging zu Wilsons Tür und machte auf.
»Komm Wilson, wir schaffen die Akten ins Haus.« Ich versuchte nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn Hermann anrückte. Mir ging das Ganze auch langsam an die Nieren. Wilson blieb einfach weiter sitzen. Ich fing an, die Aktenstapel ins Haus zu schaffen. Was soll an den Scheißakten so wichtig sein?, dachte ich mir. Im Haus kam mir Marcela entgegen, sie half mir, den Kram reinzutragen und ich erzählte ihr dabei, was passiert war. Als alle Akten im Haus waren, stieg Wilson aus, die Sekretärinnen folgten ihm wie Schoßhündchen.
»Die hat er sich wahrscheinlich gefügig gefickt!« meinte Marcela zu mir, ohne darauf zu achten, ob Wilson sie hörte oder nicht. Sie überraschte mich immer mit ihrem kruden Humor und ich musste lachen. Wilson hatte inzwischen sein Handy am Ohr und telefonierte offensichtlich mit Hans Radeberger. Es war eine Weile vergangen und Hermann Rhön und seine Truppe waren nicht aufgetaucht. Vermutlich war auch Erwin klar geworden, dass das alles No Go war. Ich stand mit Marcela auf der Terrasse herum, wir warfen uns erstaunte Blicke zu. Sie war völlig abgekocht. Nach einer Weile kam Wilson raus zu uns.
»Es ist soweit, wir werden alle hier abgezogen, Hans hat Gefahrenstufe rot ausgerufen.« Er klang triumphierend, schien wieder ruhig und normal. Da Hermann definitiv nicht aufzukreuzen schien, beschloss ich, zu Thomas Hahn zu fahren und dann zu Markus Treffer. Ich musste mit jemand Normalem reden. Ich polterte mit der Hilux im Rückwärtsgang wieder auf die Straße, stieg aus, verschloss das Tor und schoss los. Marcela wollte nicht mit, sie hatte noch zu arbeiten. Ich beschloss, eine kleine Runde durchs Stadtzentrum zu machen. Alles war wieder ruhig, wahrscheinlich waren alle schon beim Saufen in irgendwelchen Hinterstuben. Vor Wilsons Büro zeugten nur die Scherbenhaufen von der Szene, die vor knapp einer Stunde dort stattgefunden hatte.
Die Passanten kauften ein, schlenderten durch den Park oder saßen in Cafés am Platz. Es war wie in allen Großstädten Lateinamerikas, wo die Demonstrationen auch immer ins Tagesgeschäft integriert wurden. Man schlenderte an knüppelnden Polizisten vorbei, nahm auch das Tränengas hin, kaufte weiter ein und lästerte mit bekannten Passanten über die verzogene Studentenjugend. Man tat im Großen und Ganzen so, als würde die Gewalt fünfzig Meter entfernt gar nicht existieren. Insofern musste man auch nichts ändern, wenn sie plötzlich vorbei war, es war ja schließlich nichts geschehen.
So auch in San Ignacio. Alles war wie vorher. Auch im Munizip, wo ich kurz vorbeischaute, gingen alle ruhig ihrer Arbeit nach. Es war gespenstisch. Ich beschloss, zuerst zu Markus Treffer zu fahren.
Markus war bereits vom Büro in La Paz benachrichtigt worden und packte schon seine Sachen. Wir setzten uns kurz zu einem Bier hin und ich erzählte ihm von Wilsons Rettung am Nachmittag.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so weit kommen würde. Trotzdem ist es übertrieben, uns hier abzuziehen.« meinte er.
»Eigentlich schon. Aber irgendwas hat das mit Wilsons Arbeit zu tun. Keiner von uns hat in irgendeiner Weise mit Politik oder den Spannungen zwischen den Gruppen hier zu tun, nur er. Außerdem hat er sich irgendwie eingemischt, ich durchschaue das nicht ganz. Auch, dass Peter Dijkstra so plötzlich abgeschossen wurde, kommt mir seltsam vor. Hans Radeberger ist eigentlich ein eher milder Chef.«
Unsere Unterhaltung wurde durch einen Anruf auf mein Handy unterbrochen, jetzt wurde auch mir mitgeteilt, dass wir abreisen würden. Ich kippte mein Bier runter und verabschiedete mich. Thomas Hahn war die Organisation der Abreise übertragen worden, also fuhr ich zu ihm, um zu erfahren, wer mit mir im Auto reisen würde.
Als ich ankam, war auch er mit Packen beschäftigt. Wir setzten uns auf seinen Hotelbalkon mit Blick zum Platz hin. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu und der Platz lag friedlich und schön unter uns, mit seinen Palmen, Grünanlagen und spielenden Kindern. So, als wäre in den letzten Tagen nichts passiert und das Dorf wäre in seiner scheinbar unabänderlichen Verschlafenheit immer noch dasselbe.
»Du nimmst Rosemary mit. Hans meinte, du sollst Marcela fragen, ob sie nicht auch mit will, auch wenn sie nicht für den DED arbeitet.« sagte Thomas.
»Klar, ich glaube aber, sie wird bleiben wollen. Sie scheint völlig ruhig. Angst hab ich auch keine, wenn nur dieser verblödete Wilson nicht wäre. Nicht nur, dass er hier seine Nase in Dinge gesteckt hat, die ihn nichts angehen. Er wird auch immer seltsamer.«
»Ja, scheint mir auch so. Ich bin ihm gestern begegnet, da hat er wirres Zeug geredet. Irgendwas von Umsturz und Separation. Er wird alleine fahren. Ich habe das mit Hans besprochen.«
»Vielleicht besser so. Ich glaube, er dreht durch. Rosemary ist doch so dick mit ihm befreundet, sollte sie nicht besser mit ihm im Auto sein?«
»Kann sein, findet aber nicht statt. Ich hab ihr gesagt, dass sie mit dir fährt. Ihr Typ bleibt hier, um aufs Haus aufzupassen, er ist ja von hier. Junge, die wollte erst gar nicht weg. Aber sie muss mit, sie ist ja Colla. Ich hab ihr gesagt, dass sie keine Wahl hat, sonst ist Schluss mit der Arbeit und den fünfzehnhundert Dollar, die sie bei uns verdient.«
Thomas meinte noch, unser Treffpunkt wäre morgen früh bei uns um sechs Uhr vor unserem Haus. Das sei am einfachsten, weil es alle Entwicklungshelfer kannten. Ich verabschiedete mich und fuhr nach Hause. Als ich das Hotel verließ, sah ich den Bischof vor seiner Residenz am Platz stehen und in meine Richtung schauen. Ein paar Meter entfernt lehnten seine beiden indianischen Riesenbabys streichholzkauernd am Eingangsportal des überdimensionierten Palastes. Das verblödete Arschloch!, dachte ich mir.
Ich stieg ins Auto und fuhr nach Hause. Während der Fahrt rief ich noch Erwin Mendez an, um mich abzumelden. Er klang nervös und beschäftigt, äußerte aber Verständnis für unsere Abreise und meinte, ich solle zurückkommen, sobald alles vorüber sei. Ich dachte noch über diese Äußerung nach. Wie wollte er wissen, dass alles bald vorüber sein würde?
Als ich zuhause angekommen war, ließ ich das Auto auf der Straße, ich rechnete damit, nochmal losfahren zu müssen; bei all der Hektik war das nicht auszuschließen. Als ich ausstieg, bemerkte ich dichten Rauch, der von unserem Garten aus über die Mauer auf die Straße zog. Ich schloss die Außentür auf und ging die drei Meter zur Haustür. Als ich den Hausflur betrat, staunte ich nicht schlecht - es sah aus wie auf einem Schlachtfeld.
Die massiven und schweren Tropenholzmöbel waren schwer beschädigt oder zertrümmert. Im Esstisch steckte eine Axt, zwei Stühle waren komplett zerlegt und ihre Bestandteile lagen herum, die schweren Sitzbänke lagen umgestürzt im Flur verteilt. Überall waren Papiere und Bücher aus der Gemeinschaftsbibliothek verstreut, vor Marcelas Zimmer lag eine zusammengestauchte Jeans mit Unterhose im Schritt und im Garten loderte ein Riesenfeuer.
Ich wurde vorsichtig und ging langsam in Richtung Terrassentür. Unterwegs schaute ich in die offenen Zimmer von Marcela und Sandra, keine der beiden Frauen schien da zu sein. Vorsichtig öffnete ich die Terrassentür und trat auf die Veranda. Ich achtete darauf, dass die Tür hinter mir leise schloss. Die Hitze des Feuers im Garten war auf der Haut spürbar, vor allem im Gesicht. Es verbrannten Akten, ganze Berge, ich vermutete, es waren die von Wilson. Langsam wurde mir klar, dass Wilson jetzt wirklich seinen Schub bekommen hatte, der sich seit langem angekündigt hatte.
Aber wo waren all die anderen? Ich rief, erst noch zaghaft dann lauter, nach Wilson. Keine Antwort, dann noch lauter nach Marcela. Niemand antwortete. Ich ging am Feuer vorbei tiefer in den Garten, bis ich im mannshohen Gras einen kleinen Trampelpfad entdeckte, den ich bis dahin noch nie gesehen hatte. Ich schob mit den Armen vorsichtig die schneidenden Gräser vor meinem Gesicht zur Seite und folgte dem Pfad, währenddessen ich immer mal wieder nach Marcela und Wilson rief.
Obwohl der Pfad mit dem hohen Gras verhangen war, machte er einen benutzten Eindruck. Er führte zu dem dunklen, dschungelartigen Gestrüpp im unzugänglichen Teil des Gartens, den ich bei meiner Ankunft mit Odile betrachtet, aber seither nie wieder Beachtung geschenkt hatte. Ich stand plötzlich vor dieser Mauer aus Schlingpflanzen, Farnen und Bäumen und spürte die Kühle, die es ausströmte. Der Pfad führte durch eine niedrige, schmale Öffnung in den Kern dieses Naturwalls.
Ich wollte gerade wieder zum Rufen ansetzen, da hörte ich aus dem Inneren ein Ächzen und eine gepresst flüsternde Stimme, von der ich glaubte, sie Wilson zuordnen zu können. Ich schlüpfte durch die Öffnung und hielt inne, um mich an die Düsternis des Ortes zu gewöhnen, denn es war nun fast dunkel, zumindest wenn man aus dem gleißenden Licht außerhalb des Gestrüpps eindrang. Nur vereinzelt drangen isolierte Sonnenstrahlen durch das Dach des kathedralenartigen Inneren, der Himmel war nur durch kleine Öffnungen zu erahnen, die wie helle Sterne am Nachthimmel leuchteten.
Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Düsternis und ich folgte langsam dem Pfad, der zunächst links abbog und dann in eine weite Rechtskurve mündete, wie die Form eines Fragezeichens. Das gepresste Flüstern wurde lauter und ich begann Wortfetzen zu verstehen, »Fotze … zeig ich's … ich fick dich … allen zeig ich's … komplett wahnsinnig … Dreckstück … Nutte …« und so weiter. Es schien jemand beschimpft zu werden oder es wurde sich über irgendetwas oder jemanden beschwert.
Der Weg musste spiralförmig verlaufen, denn die Rechtsbiegungen dominierten und wurden immer enger. Außerdem konnte ich durchs seitlich begrenzende Dickicht den daneben liegenden Verlauf desselben Weges erahnen, den ich gerade zuvor beschritten hatte. Irgendwann erreichte ich das Zentrum. Es war wie eine kleine Höhle, mannshoch und vielleicht so groß wie zwei Tischtennisplatten, direkt neben dem dicken Stamm des größten Baumes im Dickicht, der die ganze Kuppel zu tragen schien. Am Ende der Höhle befand sich eine Erhebung, wie ein kleiner Altar, auf dem brannten mehrere Kerzen, es standen Fotos von Personen darauf, die ich nicht erkennen konnte, sowie kleine Figürchen und Federn. Die seitliche Begrenzung des Raumes bestand aus lose in die Erde gesteckten Riesenbambusstämmen. Und in der Mitte lag Wilson mit runtergezogener Hose und pulsierenden Arschmuskeln auf der völlig reglosen Marcela. Ich blickte erst in ihre ausdruckslosen Augen und dann sah ich ihre seltsam verdrehten Arme, sie waren ein paar Mal gebrochen. Wilsons gepresstes Flüstern ging weiter, er nahm mich nicht wahr und fickte weiter in Marcela hinein. Ich gewann den Eindruck, dass er nicht wirklich flüstern wollte, sondern versuchte, irgendeine Stimme anzunehmen, denn er sprach in einem fremden, heiseren und kratzigen Tonfall. Ich wusste nicht, ob Marcela noch lebte, hatte plötzlich Panik, denn die ganze Szene war so wahnsinnig, krank und absurd.
»Na, du Fotze, jetzt spürst du, wie der dunkle Vater fickt. Der fickt dich jetzt kurz und klein. Dreckmöse, ich hab ihm alles erzählt. Und er war gar nicht glücklich über dich!« presste Wilsons Stimme weiter. Zwischendurch ohrfeigte und boxte er sie immer wieder ins eh schon zugeschwollene Gesicht. Ich stand einen Moment da, um meinen Ekel und meine Panik zu überwinden. Dann suchte ich irgendeine Waffe, fand aber nur die oberschenkeldicken Riesenbambushölzer. Ich drehte eines aus dem weichen Boden, holte aus und stieß ihn mit voller Wucht wie ein Billard-Queue von hinten gegen Wilsons Schädel. Der kippte zur Seite, war aber keineswegs ausgeknockt. Benommen saß er neben der leblosen Marcela auf der Erde, sein steifer Schwanz ragte ihm aus dem Schoß und er stierte mich entgeistert an. Dann fing er an, ganz fremdartig zu grinsen und schließlich lauthals zu lachen.
Plötzlich ergriff er eine kleine Flasche und schüttete mir eine braune Flüssigkeit entgegen, die auf meinem Arm und auch auf der Hose landete. Er wollte sich gerade in meine Richtung aufrappeln, da rammte ich ihm nochmal den Bambus rein, diesmal voll in seine wahnsinnige Fresse. Das hatte ihn dann doch angeknockt. Er lag nun flach auf dem Boden, versuchte sich aufzurichten, sackte aber immer wieder zurück.
Aus einer klaffenden Platzwunde auf seiner Backe sprudelte Blut. Außerdem hatte er aufgehört, so dämlich zu lachen und diese Scheiße zu reden, was die Situation deutlich erträglicher machte.
Ich kniete mich runter zu Marcela und wuchtete sie mir auf die Schulter. Ihre Arme fühlten sich so knochenlos an, wie die einer Figur aus der Muppet-Show. Ich startete zwei, drei Versuche, mich mit ihr auf der Schulter aufzurichten und den völlig durchgeknallten Wilson und seinen Scheißtempel des Wahnsinns endlich zu verlassen. Irgendwann kam ich hoch. Wilson versuchte währenddessen weiter aufzustehen, schaffte es aber immer noch nicht.
Ich stolperte den Spiralweg zurück. Obwohl ich im Laufschritt ging, erschien er mir unendlich lang und mir wurde schummerig. Schließlich gelangte ich wankend zum Ausgang, duckte mich mit der geschulterten Marcela und schritt ins gleißende Sonnenlicht zurück.
Dort war die Situation nicht gerade besser. Wilsons Aktenfeuer hatte das Gras im Garten entzündet, was mich überraschte, denn das Gras war eigentlich grün und saftig. Das gesamte Gras zum Haus hin musste lichterloh brennen, denn lautes Knacken kam von dort und eine riesige Rauchsäule stieg in die Höhe. Die ganze Situation schien mir zu entgleiten, ich fühlte mich immer seltsamer, als wäre ich auf einem psychedelischen Trip.
Ein starker Wind kam auf, der uns den Rauch und die Hitze des Feuers entgegen blies. Ich sah überhaupt nichts mehr und wusste auch nicht mehr, wo es lang ging. Mir schien, dass der Pfad vor uns direkt in Richtung Feuerwand führte. Meine Füße stießen gegen etwas Weiches, ich erblickte vor meinen Füßen eine Kröte von der Größe eines Fußballs, die offensichtlich vor dem Feuer floh. Sie blickte mich kurz blöde an und hopste wieder ins hohe Gras, weg vom Feuer. Ich folgte ihr wankend.
Marcela schien mir mit jedem Schritt mehr zu wiegen. Tot fühlt sie sich jedenfalls nicht an, sagte ich mir. Ich hörte die Hopser der Riesenkröte nur noch vor mir rascheln, ich hatte sie gleich nach ihrem Eintritt in den Graswald aus dem Blickfeld verloren. Als ich dachte, ich würde zusammenbrechen, erreichten wir die hohe Ziegelmauer, die um das Grundstück des Hauses gezogen war und ich sah einen alten Bauschutthaufen davor, der spärlich von kniehohem Unkraut bewachsen war, wie eine Insel im Grasmeer. Ich ließ Marcela auf den Haufen gleiten, setzte sie ab und lehnte sie an die Mauer.
Sie war bis auf ein Unterhemd völlig nackt. Ich schaute ihr in die Augen - sie starrten reglos geradeaus. Ich fasste ihr an den Hals und fühlte ihren Puls normal schlagen, überraschend langsam vielleicht, aber er schlug. Ich setzte mich völlig fertig neben sie und verschnaufte. Ich wusste nicht, was tun, das Feuer oder der Rauch schien immer näher zu kommen. Die Mauer hätte ich alleine und in nüchternem Zustand sicher hochklettern können. Aber ich war nach der Tour mit Marcela erstens zu erschöpft, und zweitens war ich komplett stoned von irgendetwas.
Nach einem kurzen Moment wollte ich wieder aufstehen, es ging nicht mehr. Ich musste lachen, aber auch das ging nicht mehr, ich saß neben Marcela, vermutlich im selben Zustand wie sie, nur, dass meine Arme nicht gebrochen waren wie die ihren. Wie ich sie kannte, lachte sie innerlich sicher auch gerade.
Und dann stand plötzlich Wilson mit einem saudummen Gesichtsausdruck, der ein Grinsen sein sollte, wieder vor uns. Sein schiefes Lachen hatte jetzt was Terminatorartiges, denn ich hatte ihm mit dem Billard-Stoß mit dem Bambusrohr einen bedeutenden Teil seiner Backe rausgestanzt, der jetzt lose vom Kiefer baumelte und seine ganze linke Zahnreihe freigab. Er hatte meinen Bambus-Stamm mitgebracht. Den sah ich dann auch gleich ziemlich schnell auf mein Gesicht zukommen, unfähig, irgendeine Ausweichbewegung zu machen. Das Ding krachte seitlich an meine Schläfe, ich kippte zur Seite und lag dann Kopf nach unten auf dem Abhang des Bauschutthügels. Es hatte zu meinem Erstaunen nicht weh getan. Ich blickte zu Wilson auf, was nicht einfach war, denn mein Blickfeld wanderte wie von Geisterhand gesteuert immer wieder zur Seite auf die Erde. Wilson machte zwei Schritte in meine Richtung, holte erneut aus und hieb mir wie ein Scharfrichter erneut mit voller Wucht seitlich an den Kopf, ich verlor das Bewusstsein.
Was dann folgte, erzählte mir Marcela später, denn sie war tatsächlich, wie auch ich bis zu jenem Zeitpunkt, die ganze Zeit bei vollem Bewusstsein.
Wilson drosch noch eine Weile auf mich ein. Er wirkte absolut ruhig und sagte gottseidank nichts mehr. Nach einem ewigen Moment wanden sich von hinten mehrere starke Arme um ihn und er fing an, zu zappeln wie ein Käfer. Thomas und Markus waren plötzlich aufgetaucht und versuchten, ihn zu bändigen, was schwierig war, denn der Wahnsinnsbolzen hatte in seinem Schub, oder was immer grad in ihm vorging, offensichtlich übermenschliche Kräfte entwickelt.
Die beiden Retter fingen sich mehrere harte Schläge ins Gesicht ein, blieben aber ruhig und besannen sich immer wieder darauf, Wilson so weit zu beherrschen, dass er sich kaum noch bewegen konnte. Schließlich hatte Thomas, ein Zwei-Meter-Hüne, es geschafft, sich hinter Wilson zu positionieren und ihn von hinten so mit Armen und Beinen zu umklammern, dass der sich tatsächlich nicht mehr rühren konnte. Mit Thomas im Huckepack, trat er nur noch wild um sich und schlug mit den Armen, ohne irgendetwas treffen zu können. Markus brachte ein Seil und sie fesselten ihn. Als er merkte, dass nichts mehr ging, wurde er ganz ruhig und starrte teilnahmslos ins Leere. Dann wandten sich die beiden uns zu. Sandra war auch dabei, sie hatte sich aber erst zur Kampfplatz getraut, als Wilson gebändigt worden war.
Wir wurden ins örtliche Krankenhaus gebracht, wo ich nach einer guten Stunde auf einer Liege wieder zu mir kam. Ich war an einen Tropf angeschlossen und Marcela lag auf einer Liege ein paar Meter entfernt von mir. Ich hatte zunächst Mühe, mich zu erinnern, was passiert war, aber die Erinnerung kam nach ein paar Minuten wieder.
Ich konnte nur aus einem Auge schauen. Mir tat alles weh, was mich beruhigte, denn offenbar kam die Kontrolle über meinen Körper ebenfalls zurück. Den Kopf konnte ich bereits leicht anheben und zu Marcela schauen. Irgendwie schien er aber an der Liege festzukleben. Markus machte einen Schritt zu mir.
»Beweg dich lieber nicht, das ist jetzt nicht so gut.«
»Was ist mit mir?«
»Wilson hat dir eine ziemliche Delle in den Schädel geschlagen und du hast stark geblutet.«
»Ist es schlimm?«
»Du wirst heute Nacht noch nach Santa Cruz geflogen, die Maschine ist schon unterwegs hierher. Marcela kommt auch mit, sie hat innere Blutungen und kann hier auch nicht behandelt werden.«
»Marcela?« rief ich sie.
»Ja, ich bin auch im Arsch.«
»Da bin ich ja beruhigt. Was ist mit meinem Auge?«
»Das scheint in Ordnung, ist aber zugeschwollen.« meinte Markus.
Sandra erzählte mir, nachdem eine Weile geschwiegen wurde, dass sie Markus und Thomas geholt hatte. Es hatte länger gedauert, weil sie nicht wusste, wo die beiden wohnten und sie sich erst im Ort durchfragen musste. Wilson hatte vor ihren und Marcelas Augen die Wohnung zerlegt.
»Er ist plötzlich total ausgerastet. Das Feuer hatte er da bereits angezündet. Wir hatten das gar nicht bemerkt, weil Marcela schlief und ich in meinem Zimmer arbeitete. Er hatte seine Akten rausgetragen und angezündet. Dann suchte er wie blöd irgendetwas, das er nicht fand. Das brachte ihn zum Ausrasten. Ich weiß auch nicht, wo er die Axt herhatte, so weit ich weiß, hatten wir bislang keine im Haus. Er fing an, alles zu zertrümmern, die schweren Sitzbänke segelten plötzlich durch den Flur.
Da kam Marcela aus ihrem Zimmer, schrie ihn an und beschimpfte ihn. Wilson schnappte sich ein herumliegendes Stuhlbein und fing an, damit auf sie einzudreschen. Marcela hatte nicht kapiert, dass er durchgedreht war.
Ich fühlte mich schlecht, weil ich nicht dazwischen gegangen war und ihr nicht geholfen hatte. Ich hatte einfach zu große Angst vor Wilson. Als Marcela am Boden lag, riss er ihr die Jeans und die Unterhose vom Leib, zog sie so an den Füßen hinter sich in den Garten und verschwand mit ihr hinter dem Feuer im hohen Gras. Sie hatte sich die Arme vor den Kopf gehalten, als er zuschlug, deswegen sind die jetzt mehrfach gebrochen.«
»Lieber die Arme, als den Kopf!« meinte Marcela neben mir.
»Ich hätte mir auch lieber die Arme als den Kopf gebrochen. Ich konnte die nur nicht mehr bewegen. Keine Ahnung warum, ich war völlig weggetreten und paralysiert.«
»Dafür hab ich innere Blutungen! Und mein Gesicht ist Brei.«
»Auch wieder wahr. Aber im Ernst: Was hat der Idiot mit uns angestellt, dass wir uns nicht mehr bewegen konnten?«
»Das war der braune Saft, den er dir entgegen geschüttet hat. Ich habe den auch auf die Arme bekommen. Das ist so eine Knock-out-Droge, irgend so ein Wurzelsaft. Der wirkt durch die Haut, keine Ahnung, wo er den herhatte.«
»Und sein beschissenes Refugium da hinten im Dickicht?«
»Keine Ahnung, das sah aus wie ein bekackter Tempel.«
»Ist der ganze Garten abgebrannt?« fragte ich Markus und Sandra nach weiteren Minuten des Schweigens.
»Nein, wieso? Ich habe das Feuer gelöscht, als ich mit Thomas und Markus zurückkam. Es hat nur einfach irrsinnig gequalmt.« sagte Sandra.
»Ich hatte den Eindruck, der ganze Garten würde brennen. Deswegen hatte ich mich auch in die letzte Ecke des Grundstücks zurückgezogen. Scheiße. Wäre ich den Weg weitergegangen, wäre ich jetzt nicht so lädiert. Ich war völlig weggetreten von Wilsons Wurzelsaft.«
Zu weiteren Betrachtungen des gerade Erlebten kam ich nicht, die Maschine war gelandet und wir wurden beide angenehm sediert, so dass ich von den Schmerzen erstmal nichts mehr mitbekam und wohlig dahindöste. Wir wurden mit dem Krankenwagen zum Flughafen von San Ignacio gebracht und auf unseren Liegen in die Cessna verfrachtet. Die Maschine ließ den Motor aufheulen, bog in die Startbahn ein und startete durch. Beim Abheben schlief ich ein. Ich war gut drauf, ich wusste nicht, warum, irgendwie erleichtert. Oder es war das Sedativum. Oder mein Hirn hatte einen Schaden abbekommen.