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Das Individuum und die Welt I
ОглавлениеIch trat aus dem klimatisierten Flughafengebäude ins Freie. Die feuchte Hitze des bolivianischen Tieflands schlug mir voll ins Gesicht. Sofort eilten Taxifahrer herbei und boten ihre Dienste an. Ich schwieg und ging auf den Typen mit dem am nächsten geparkten Taxi zu. Der nahm mir eifrig das Gepäck ab und verfrachtete es in den Kofferraum. Er tat sich schwer mit der großen Reisetasche. Beim Losfahren fragte ich ihn, wie viel es zum Hotel ›Continental‹ kosten würde. Er meinte sieben Dollar, das sei Standard. Stimmte sogar, wie ich später feststellen konnte.
Santa Cruz de la Sierra war besser als das bolivianische Hochland, trotz der Hitze. Es gab viel Grün und Palmen, ich hatte die Landschaft im Anflug begutachtet. Ich ließ das Autofenster runter und die heiße Luft blies mir ins Gesicht. Es roch beruhigend nach Natur, Staub, Hitze und Abgasen. Die Fahrt gestaltete sich zügig, er wusste, wo das Continental lag und fuhr wie ein Gestörter. Rechts überholt, links von einem Trailer abgedrängt, scharfe Bremsung, der nächste Versuch, rechts am Trailer vorbei zu kommen, klappte sogar, er sichtlich zufrieden … so ging das die ganze halbe Stunde bis ins Zentrum, wo das Hotel lag.
Dort kam sofort ein Angestellter heraus und nahm die schwere Reisetasche an sich, ansonsten hatte ich einen Rucksack mit Laptop, den nahm ich. Die junge dicke Frau an der Rezeption war freundlich, der Deutsche Entwicklungsdienst DED hatte mir ein Zimmer reserviert. Ich nahm den Schlüssel entgegen.
Das Hotel war recht modern gestaltet, auch, wenn man in Europa nicht mehr so bauen würde. Die Frontfassade bestand in der gesamten Gebäudehöhe aus bläulich verspiegeltem Glas und bildete die Fassade für die sehr große und hohe Lobby des Hotels. Das Gebäude hatte sechs Stockwerke und war damit für die Stadt ein Hochhaus. Ich kam ins kühl klimatisierte Zimmer und knallte die Tasche in die Ecke. Obwohl ich mittlerweile die Tragetechnik für das schwere Ding beherrschte, blieb sie schwer. Sie enthielt alles, was ich glaubte, die kommenden zwei Jahre zu brauchen.
Das Zimmer roch gut und war sauber. Ich legte mich verschwitzt und stinkend aufs Bett und schaltete den Fernseher ein. Duschen lohnte eh nicht, ich würde es am Abend tun, wenn es kühler würde. Auf HBO lief ein guter Film über vier amerikanische Jugendliche, die im vom Papa geliehenen Wohnmobil in eine üble Gegend Chicagos gelangten und dort von Gangs böse heimgesucht wurden. Ich kannte den Film, ließ ihn aber laufen, er bildete ein vertrautes Szenario in einem mir unbekannten Land. Ich verfolgte die Handlung aber nur beiläufig und ließ nochmal die vergangenen vier Tage an mir vorbeiziehen.
Die Anreise nach La Paz war kompliziert gewesen, weil der DED mir einen Billigflug mit drei Zwischenstopps und insgesamt zwölf Stunden Wartezeit gebucht hatte. Der Flughafen von La Paz lag eigentlich nicht in La Paz selber, sondern in einer Stadt oberhalb von La Paz, die El Alto hieß und ziemlich groß, aber völlig desolat und trostlos war, besonders bei Nieselregen und Nebel um sechs Uhr morgens. Fehlgeschlagene Versuche von Urbanismus, kranke streunende Hunde und auf den Bürgersteigen liegende Alkoholkranke. Der Flughafen sah beim Verlassen des Geländes aus, wie nach einem beschissenen Bürgerkrieg. Ausgeweidete Uraltflugzeuge, ausgebrannte Hangars, herumwehende Plastiktüten. Das Morbide in Lateinamerika kann seinen Charme haben, aber nicht für mich an jenem Ort zu jener Uhrzeit.
Untergebracht war ich im Norden der Stadt bei Anneliese San Martín, der Chefin des DED-Büros in La Paz. Ein deutschstämmiges altes Walross aus einer anderen, vergangenen Zeit. Meine Apartmentwohnung auf ihrem Anwesen war okay, ein Museum der deutschen fünfziger Jahre. Da ich an einem Freitag angekommen war, hatte ich das Wochenende vor mir, ohne genau zu wissen, was ich tun könnte. Ich lief einfach los und verfiel in eine schwere, depressive Verstimmung. La Paz war triste, hässlich, kalt und machte auf mich den Eindruck, als laste ein böser Fluch auf der Stadt. Dauernd schlug das Wetter um. Kam die Sonne raus, was selten passierte, musste man sich die Klamotten vom Leib reißen, war der Himmel bewölkt, fröstelte man sofort. Die Luft hatte einfach keine Konsistenz, sie war zu dünn und konnte keine Wärme speichern.
Alle Restaurants im Norden waren grauenvoll. Schlafen war auch nicht der Knüller, ich wachte dauernd auf, hatte einen flachen, unruhigen Schlaf. Am darauffolgenden Montag kam es zu einem kurzen Treffen mit meinem Koordinator, Peter Dijkstra. Ein Holländer, der Deutsch sprach, aber lieber spanisch reden wollte. Also unterhielten wir uns auf Spanisch. Er schilderte mir knapp mein Aufgabengebiet. Ich wusste tatsächlich nicht mehr, als dass es um lokale Wirtschaftsförderung in San Ignacio de Velasco ging, einem kleinen, aber wegen der strategischen Lage auf politischer Ebene recht bedeutenden Kaff im bolivianischen Tiefland an der brasilianischen Grenze. Der Bürgermeister namens Erwin Mendez war mein lokaler Partner, was bedeutete, dass ich ihm irgendwie beisitzen sollte, damit das mit der wirtschaftlichen Entwicklung vor Ort besser klappte.
Ich mochte Peter Dijkstra nicht, er war ein kurzgeschorener, hohläugiger Unsympath. Die Gespräche mit ihm verliefen kurz, es war ein von beiden Seiten uninteressiert geführtes Briefing. Er hatte zwei Regionen zu betreuen, eine davon war die Chiquitania, ein Gebiet, das mehrere Munizipien umfasste, von denen eines, San Ignacio, mein Einsatzgebiet war. Es würde nicht einfach werden, war seine Einschätzung; Erwin Mendez sei ein Schlitzohr und ein Vertreter der kreolischen1 Unterdrücker, wie er es nannte. Die Wahl Mendez' als Partner des DED vor Ort sei gefallen, weil der DED sich letztlich erhoffte mit ihm als Verbündeten und Chef des flächenmäßig größten Munizips der Chiquitania, am meisten in der Region erreichen zu können.
1 Kreolen sind im lateinamerikanischen Sprachgebrauch die Nachkommen europäischer Einwanderer.
Meinen Auftrag erläuterte er mir nur grob. Morgen würde ich die Weiterreise ins Einsatzgebiet antreten. Ich fragte nicht viel nach. Ich hatte mir bis dahin wenig Gedanken gemacht, was auf mich zukommen würde und wollte es erst mal dabei belassen. Nachdem er mir noch ein paar Entwicklungshelfer, die gerade im DED-Büro waren, vorgestellt hatte, drückte er mir zum Abschied noch ein Manual über erfolgreiche lokale Wirtschaftsförderung in die Hand - es würde sich als sehr nützlich erweisen.
Ich verließ das Büro, es befand sich in der Zona Sur, dem wohlhabenden Stadtteil von La Paz. Es war dort weniger morbide, aber nicht schöner als im Norden. Ich lief an endlosen Zeilen von Geschäften und Fast-Food-Restaurants vorbei. Supermarktartige Sportartikelgeschäfte, Damenmode, Damenunterwäsche, DVD-Straßenverkäufe, Telefonkabinen, Internet, chinesischer Plastikschund, Handyläden, Straßenverkäufer, Geldwechselstuben … das übliche Programm der Konsumgesellschaft. Es war bereits halb sieben am Abend und es dämmerte. Ich suchte mir ein nettes Restaurant, aß zu Abend und begab mich anschließend zurück zu Annelieses Anwesen im Norden. Obwohl ich etliches an Wein getankt hatte, fiel mir das Schlafen schwer. Dauernd wachte ich auf und rang nach Luft, als ob immer ein Atemzug fehlen würde. Außerdem schmerzten mir die Knochen und der Kopf. Ab vier Uhr morgens lag ich wach im Bett und versuchte erst gar nicht, nochmal einzuschlafen. Eine Stunde später rief ich mir ein Funktaxi zum Flughafen. Der Flug ging um sieben und ich war heilfroh, La Paz verlassen zu können.
Ich stand von meinem Hotelbett auf und schaute aus dem Fenster. Es war drei Uhr am Nachmittag. Ich machte kurz das Fenster auf, schloss es aber gleich wieder, die Hitze draußen haute mich fast um. Ich brauchte eine Weile, bis ich innen die Temperatur der Klimaanlage richtig eingestellt hatte, man musste das iterativ machen und sich langsam an die richtige Einstellung rantasten. Ich fand sie bei 27°C und schlief nochmal ein, das Schlafmanko der letzten Tage forderte seinen Tribut.
Ich wachte um acht Uhr abends mit großem Hunger auf, ging runter an die Rezeption und fragte nach der Gegend, wo man hier so ausging, um was zu trinken und zu essen. Eine neue, ebenfalls dicke Rezeptionistin nannte mir die Adresse eines Asaderos2 in einer angesagten Gegend. Sie bestellte mir ein Funktaxi, das mich auf eine nahe gelegene, sehr befahrene Avenida und schließlich zu meinem Zielrestaurant brachte.
2 Steakhouse
Ich war sehr zufrieden, das Essen war prima und der Service ausgezeichnet. An der Wand hingen die Büchsen von Butch Cassidy und Sundance Kid, beide waren auf ihrem Abenteuertrip nach Bolivien erschossen worden, genau wie Che Guevara gut sechzig Jahre später. Hoffentlich würde ich hier lebend rauskommen, scherzte ich mit mir. Zurück im Hotel ließ ich nochmal den Plan für den kommenden Tag Revue passieren. Ich würde die Büroleiterin des DED in Santa Cruz treffen, die mir alles Weitere, vor allem das Praktische, erklären würde. Mir würde mein Auto übergeben und dann sollte ich in die Chiquitania zu meinem Einsatzgebiet fahren.
Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Bestelltaxi ins DED-Büro von Santa Cruz. Christina Villácis hieß die sympathische Büroleiterin, sie zeigte mir alles. Sie gab mir eine Einführung in die Abrechnungspraxis des DED. Ich musste alle Belege sammeln und zusammen mit den auszufüllenden spezifischen Formularen monatlich einreichen. Sie beglückwünschte mich zu dem neuen Toyota Prado.
»Hombre, da hast du ja richtig Glück gehabt. In San Ignacio fahren die Kollegen noch mit Autos aus den Achtzigern rum.«
»Na, hoffentlich falle ich da nicht unangenehm auf.«
»Nooo, die freuen sich auf deine Ankunft, ich habe heute Morgen mit Wilson Mendoza gesprochen. Wilson arbeitet im Thema Landkonflikte in San Ignacio. Er ist einer unserer Besten vor Ort. Er schlägt vor, dass du bei ihm im Haus wohnst.«
»Ach ja?« Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Klar suchte ich was zum Wohnen, aber diesen Wilson kannte ich ja nicht.
»Wilson ist Kolumbianer, er kommt also aus einer Krisenregion und weiß, wie man mit Konflikten umgeht.«
»Wie arbeitet er denn im Thema Landkonflikte?«
»Er schlichtet die. Genau weiß ich auch nicht, was er macht, aber euer Koordinator, Peter Dijkstra, hält sehr viel von ihm.«
»Ah so.« Dieser Wilson konnte sympathisch sein oder auch nicht.
Es war später Vormittag geworden, als sie mir alle Mitarbeiter und deren Arbeitsgebiet vorgestellt hatte – ich konnte mir weder Namen noch Aufgabengebiete merken. Dann lud sie mich ein, mich zu Tomás Echeverría zu bringen, denn der sei ja, wie sie bereits wusste, meine nächste Station. Wir fuhren durch Santa Cruz und ich fand die Stadt eigentlich ganz schön, zumindest im Zentrum. Es gab nur wenige zweistöckige Häuser, die allermeisten waren einstöckig mit davorliegenden Säulengängen, die den Passanten ein Flanieren ohne Kopfverbrennung garantierten. Nur die Gebäude in den Häuserblocks um die Plaza Central waren zweistöckig. Es hatte etwas von Wildem Westen, ein Flair, wie ich es immer in Lateinamerika entdecken wollte. Es war aber ein Flair des Vergangenen, denn die urbane Realität sieht heute in den meisten südamerikanischen Metropolen anders aus.
Sie hielt vor einem Haus, das völlig unverhohlen mit seinem 70er-Jahre-Stil protzte. Bungalow-artig, überzogen modern und doch schon veraltet, so etwa wie in ›Tim und Struppi bei den Picaros‹. Tomás arbeitete für den Evangelischen Friedensdienst, wie Christina mir mitteilte. Ich las das Eingangsschild am Gartentor: JECIS, es ging um Landkonflikte. Das war seine Partnerorganisation. Alle Entwicklungshelfer hatten Partnerorganisationen. Ich nahm, bis auf Weiteres, Abschied von Christina.
Die Tante an der Rezeption war erfrischend unfreundlich und zeigte mit einem Kopfschwenk in die Richtung von Tomás' Büro. Sie hatte es geschafft, kein Wort mit mir zu verlieren. Tomás hätte ich als Peruaner eingeschätzt, er war klein, untersetzt und wirkte wie ein kettenrauchender AOK-Sachbearbeiter. Der Name ließ darauf schließen, dass es sich um einen Lateinamerikaner handelte. Dies war der Fall – er eröffnete mir praktisch beim Eintreten, dass die Eltern mexikanische Ärzte waren, die in Berlin gearbeitet hatten. Sie hatten wenig Zeit für ihr Kind Tomás, das dementsprechend eher alleine aufwuchs und damit ohne Weitergabe der nativen Spanischkenntnisse. Die Eltern ließen sich dann auch recht zügig scheiden und gingen ihrer Wege; Tomás war als Siebzehnjähriger ins Berlin der frühen Achtziger gehagelt und hatte sein Spanisch erst später gelernt, auf Trips nach Spanien und Südamerika.
Das jedenfalls war die Kurzform, die er mir gleich beim Platznehmen in seinem Minibüro servierte. Es war, anders als der Rest des Gebäudes, schäbig und klein, mit zwei winzigen Schreibtischen versehen. In der Ecke stand ein kleiner Aktenschrank mit horizontal gestapelten Schnellheftern. Alles wirkte sehr ungeordnet und schlecht abgelegt, staubig obendrein. Ich setzte mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und er sich hinter seinen Schreibtisch mit aufgeklapptem Laptop, auf dem er immer wieder rumklickerte, während er redete. Er sprach viel und schnell, neigte dazu, die Silben zu verschlucken und zu nuscheln - so im Carl-Lagerfeld-Style.
Es schien mir, dass er in seiner Erzählung die Bedeutung seiner Arbeit sehr hervorzuheben suchte. Ich konnte das alles in Gänze zwar noch nicht beurteilen, da ich ja gerade erst angekommen war und keine Ahnung hatte. Aber er redete eben viel von sich und der Wichtigkeit seiner Arbeit. Zwischendurch klinkte ich mich immer mal wieder aus. Ich hatte schon immer Konzentrationsprobleme, auch bei Themen, die mich eigentlich interessierten. Umso länger waren jetzt meine Abstecher in die eigene Gedankenwelt. Ich fragte Tomás, ob ich rauchen könne. Er hatte nichts dagegen, ich steckte mir eine an.
Als er anfing, die Vorteile und Nachteile der Kollegen vom DED in Santa Cruz durchzugehen, fing es wirklich an mich zu langweilen – ich kannte ja keinen und konnte somit nicht mitlästern. Tomás war im Endeffekt aber bemüht, mir einen umfassenden Überblick seiner Arbeit zu vermitteln. Ich bekam mit, dass JECIS früher eine NRO3 war, die sich auf das Beobachten und Verfolgen von Landkonflikten in Bolivien spezialisiert hatte. Am Anfang wollten sie aktiv und schlichtend auftreten, dann wurde ihnen vor kurzem, bei Straßenkämpfen, das Büro in Santa Cruz abgefackelt, seither traten sie – so Tomás – nur noch indirekt auf, beobachtend, denn: »Die haben vor kurzem Kollegen die Gasse runtergeprügelt, da war alles dran! Wir waren froh, dass die hinterher noch lebten! Jetzt wird nur noch gemonitort. Wir sind weniger Leute und fahren flexibel raus. In die Chiquitania zum Beispiel, wo du arbeiten wirst. Wir kommen da demnächst zu einem Besuch vorbei, da geht's grad ab.« Seine Oberlippe bräselte vor sich hin.
3 Nichtregierungsorganisation
»Ach ja? Inwiefern denn? Mich überrascht das etwas, in Bonn hat einem davon keiner was davon erzählt.«
»Die Situation ist komplex. Verschiedene Interessengruppen streiten sich ums Land. Dabei gibt's hier noch so viel freies Land. Das Munizip San Ignacio zum Beispiel ist fast so groß wie Baden-Württemberg und hat nur 40.000 Einwohner. Dass die euch in Bonn nichts davon erzählt haben, kann ich mir vorstellen.«
»Wer streitet sich denn da?«
»Einmal die Ganaderos, die Viehbesitzer. Die machen die Hälfte der Wirtschaftsleistung von San Ignacio aus. Die Ganaderos bewirtschaften ihre riesigen Weidelandflächen extensiv und sind eigentlich ziemlich unproduktiv, die machen ihr Geschäft über die Hektarzahl. Die wachsen nicht groß und schrumpfen auch nicht. Sorgen machen die wirklich Großen: Ausländer, Brasilianer, Argentinier, sogar Iren sind dort am Investieren. Die kaufen riesige Flächen auf, weil das Land so billig ist. Bei denen kannst du pro Anwesen 50.000 Hektar rechnen, das sind fünfhundert Quadratkilometer!«
»Okay, das scheint wirklich viel, aber wem treten die auf die Füße?«
»Warte, kommt gleich. Die kaufen also wie die Verrückten Land und sind kräftig dabei, das abzuholzen. Kannst du dir vorstellen, wie lange das dauert? Fünfhundert Quadratkilometer Primärwald wegzuhauen? Da gehen Jahre ins Land, auch wenn die moderne Maschinenparks haben. Na, und die treten hier vor allem den Indianern auf die Füße, denn die meisten von denen haben keine legalen Landtitel. Die stinkendreichen Investoren lassen hingegen Kohle fließen und bekommen auf die Weise alles ›legal‹ tituliert. Wir vermuten, dass das alles Drogengeld ist, die Ausländer waschen das hier, weil hier unten im Tiefland eben die ganzen internationalen Kontrollen noch unterentwickelt sind.«
»Wieder die armen Indianer …« meinte ich. Tomás war ganz in seinem Element. Ich bemühte mich zu verstehen, was los war, doch fiel es mir weiter schwer, mich zu konzentrieren. Ich bat um einen Kaffee. Ich bekam einen aus seiner Thermoskanne.
»Ja, aber nicht ganz. Unser Präsident Evo Morales Ayma hat denen inzwischen etliches an Rechten gegeben. So werden mittlerweile Landflächen, die nicht aktiv landwirtschaftlich genutzt werden und die nicht in Hand der regionalen Indianerorganisationen sind, einfach vom Staat konfisziert.
Die Internationalen haben sich also vor ein paar Jahren ihr Land gekauft und sind nun im Rekordtempo dabei, das alles urbar zu machen, damit ihnen die neue Regierung das Land nicht wegnimmt, es könnte ja ungenutzt erscheinen. Da sie aber auf absehbare Zeit mit der Abholzung ihres gigantischen Landbesitzes nicht hinterherkommen, sorgen sie auf andere Weise vor.
Zum Zweiten betreibt die Regierung massive Ansiedlungspolitik von Hochlandindianern hier im Tiefland. Die werden hier unten Collas genannt. Kommt von ›Collasuyo‹, dem ehemaligen südlichen Inkareich. Die Cambas, so nennen sich die Tiefländer, können die Collas nicht leiden und wollen sie am liebsten wieder vertreiben. Die aber denken nicht daran, weil hier unten die Böden viel ertragreicher sind und sie wirtschaftlich viel besser dastehen, als im kargen Hochland. Außerdem sind sie fleißig, das macht denen hier unten Angst. Da wird es früher oder später krachen.«
»Das habe ich verstanden, ich verstehe aber immer noch nicht, zwischen wem genau es krachen wird. Wollen die Indianer mit Harken und Heugabeln auf die Großgrundbesitzer losgehen?«
»Die Großgrundbesitzer haben Paramilitärs engagiert. Die werden irgendwann der Armee, die präsidententreu – und damit indianertreu - ist, gegenüberstehen.«
»Tomás, ich kann das nicht glauben, ich bin hier hergekommen, um lokale Wirtschaftsförderung zu betreiben und nicht, um eine Krisenzone zu managen.«
»Halb so schlimm, Kollege, lass uns was mittagessen gehen. Ich erklär dir alles, aber du musst gut aufpassen. Viele Kollegen interessiert das nicht, aber ich versichere dir: Bolivien implodiert bald!«
Dies war die Unterhaltung mit Tomás in seinem Büro. Ich fragte mich, warum er mir das alles erzählte. Ich wusste, dass der Zweck des Treffens mit ihm war, mich über die Konfliktlage im Land im Allgemeinen und in meiner Einsatzregion im Besonderen aufzuklären. Aber er ging offensichtlich weiter und wollte mir irgendwelche Theorien vermitteln. Er schloss sein Büro ab und wir stiegen in seinen völlig abgefuckten Ford Fiesta.
»Wir gehen in ein deutsches Lokal, das ist ganz gut. Nicht nur, weil es da deutsches Essen gibt, sondern weil es gute Qualität ist.«
»Okay, prima.« meinte ich. Mein Beifahrerfenster ließ sich nicht herunterleiern und es war krachheiß im Auto. Als er das Auto gestartet hatte, fing die Klimaanlage an, mir ihren abgestandenen Gestank voll ins Gesicht zu blasen. Ich protestierte nicht, obwohl ich Klimaanlagen hasste. Die Fahrt wäre anders gar nicht machbar gewesen.
Nachdem er angefahren war und sich in den massiven Verkehr eingeordnet hatte, fragte er nach meiner Familie. Mir wurde plötzlich klar, dass ich die letzten beiden Tage fast überhaupt nicht an sie gedacht hatte. Ich würde am Nachmittag meine Kinder anrufen.
»Der geht's gut, danke.« Ich war vormittags nicht der große Redner, jetzt wurde ich noch wortkarger.
»Wann kommen die an?«
»Die kommen gar nicht, Tomás.« Ich bemühte mich, neutral zu klingen, ich fühlte mich irgendwie erwischt. Es war mir unangenehm, ihm von meinem Rausschmiss von zuhause erzählen zu müssen. »Meine Frau hat mich vor zwei Wochen rausgeschmissen und will nicht herkommen. Sie ist Ecuadorianerin und hat keinen Bock auf Lateinamerika. Lustig, was?«
»Sie wird irgendwann zu dir zurückkehren. Wenn du das dann noch willst.« meinte Tomás nach einer kurzen Weile.
»Da wäre ich nicht so sicher. Die Auseinandersetzung war zuletzt recht bitter. Woher willst du das so genau wissen?«
»Weil es immer so ist. Es sei denn, du machst jetzt grobe Fehler. Ich würde mich erst mal total zurückziehen.« Mich überraschte die Sicherheit, mit der er meinen Fall analysiert zu haben glaubte.
Tomás fuhr wie ein Henker. Nicht so sehr schnell, sondern einfach grauenhaft schlecht. Er wechselte die Spur, ohne zu blinken, ohne Schulterblick und so weiter. Er hupte außerdem die ganze Zeit. Ich vermutete eine Zwangshandlung, um seinen selbstaufgebauten Fahrstress auf die anderen Verkehrsteilnehmer zurückzuübertragen.
»Naja, ich mach jetzt halt hier erst mal mein Ding alleine. Zwei Jahre sind ja genug Zeit, um manches zu verarbeiten.«
»Hmm …« meinte Tomás und schwieg eine Weile. Mein Eindruck war, dass er meine Lage irgendwie zu kennen schien. Ich war jedenfalls froh, dass das Thema Familie erst mal beendet schien, eine Minute zuvor wären mir fast die Tränen runtergelaufen, als er mich danach fragte.
Santa Cruz outete sich im kolonialen Zentrum immer mehr als eine wirklich hübsche Stadt. Die Säulengänge waren allgegenwärtig, und rund um die Plaza Mayor schön gestaltet, mit kunstvollem Stuck dekoriert. Die Frauen waren zum Teil hübsch, hatten gute Figuren, manche zumindest. Beim näheren Hinsehen schien mir die Frauenschaft dann geteilt: einerseits wirklich schöne Vertreterinnen der Gattung, anderseits grauenhaft fette und schwabbelige Mollusken; nicht zu reden von den Männern - älter als dreißig waren fast alle fette Säcke.
Das Restaurant ›La Casona‹ war in einem klassischen Gebäude untergebracht, zweistöckig. Der Wirt war Deutscher, verheiratet mit einer Bolivianerin, Helmut Stockbach, Küchenmeister aus Andernach am Rhein.
Schön vor allem der Innenhof: Ein geschmackvoller Garten mit Springbrunnen in der Mitte, umgeben von balkonartig angelegten Rundgängen im ersten Stock; die Gästeplätze unten waren im Innenhof verteilt. An den Wänden hingen Indianerhandarbeiten und Naturgegenstände, wie ausgehöhlte Kürbisse und sackartige Vogelnester. Das sonst übliche Deutschland-Trallala war nicht vorhanden, zum Glück. Ich war zufrieden, dort anzukommen und hörte Tomás zunächst wieder mal nicht mehr zu. Als wir uns gesetzt hatten, verlor ich mich darin, die anderen Gäste zu studieren. Viele europäische Gesichter, reiche bolivianische Familien mit nervigen Kindern und ansonsten Abenteurerfratzen.
Am Nebentisch hatten zwei deutsch miteinander redende Haudegen Platz genommen, beide im Paramilitärlook gekleidet, der eine klein und dicklich, der andere lang und dürr. Nach einer Weile gesellte sich eine dralle, grellgeschminkte Bolivianerin mit ihrer schwabbeligen Tochter zu ihnen und die Haudegen fingen an, Edelsteine abzuwiegen, welche sie aus ihrem Dschungelcamp mitgebracht hatten und nun an die Händlerin verscheuern wollten. Ganz schnell ließen sie die Steine, die in verschiedenen Farben leuchteten, über die Feinwaage wischen. Die Männer radebrechten spanisch, die Alte sprach rattenschnell ihren Tieflanddialekt. Alle schienen sich blendend zu verstehen. Nach zwanzig Minuten brach das Ganze ab und alle vier küssten sich zum Abschied. Das Geschäft war gelaufen, ohne dass Ware oder Geld den Besitzer gewechselt hätte. Tomás bemerkte, dass ich die Szene beobachtet hatte.
»Die kommen von ganz tief drin. Die sind zwei Monate im Busch, dann kommen sie raus, verscheuern ihren Kram, gehen dann in den Puff und lassen sich volllaufen. Dann brauchen sie noch drei Tage, um ihren Kram einzukaufen, den Kater loszuwerden und verschwinden dann wieder dahin, wo sie hergekommen sind.«
»Scheinen harte Typen zu sein.«
»Sind sie auch. Den Kleinen kenne ich, der war in den Neunzigern Fremdenlegionär. Ein Ostdeutscher, sogar ausgezeichnet in der NVA. Nach der Wiedervereinigung ist er zur Legion. Dort blieb er zehn Jahre und hat sich dann nach Brasilien abgesetzt. Brasilien ist ein hartes Pflaster, auch die Typen werden alt, so ist er nach Bolivien gekommen. Hier scheint es sich besser und ruhiger angehen zu lassen. Den anderen kenne ich nicht, aber der Kurze hat schon etliche Typen abgemurkst.«
»Du klingst wie ein Insider.« meinte ich. »Hat der dir das erzählt?«
»Ich bin ein Insider. Und ja, ich bin mal mit dem versackt, nicht hier, sondern im deutschen Biergarten. Der war stockvoll und hat geglaubt, sein hinterstes Stübchen auskehren zu müssen. Ich hab's mir angehört, hab mich dann aber heimlich verdrückt, als er auf dem Tisch eine Schnarchpause eingelegt hatte. Das ist eine andere Welt, in der die leben, sag ich dir. Die sind die meiste Zeit voll und gleichzeitig gewaltbereit; das ist nicht die lockere Gesprächsrunde. Die sind immer parat, den Abzug zu drücken, und über die Art von Leuten wollte ich jetzt ein bisschen mit dir reden.«
Mir war nicht klar, was er meinte. »Tomás, ich verstehe nicht, auf was du raus willst. Ich habe auch keinen Bock, mit solchen Typen zu verkehren. Warum redest du die ganze Zeit davon, dass in San Ignacio die Post abgeht und du mit mir über solche Gestalten reden möchtest.«
»Pass auf. Ich erkläre es dir von verschiedenen Seiten. Du bist ein harter Bursche, das habe ich gleich bei deiner Ankunft in mein Büro gemerkt. Du bist nicht so wie die anderen Schluffies, die hier antanzen und am liebsten chantend den Locals irgendwelche Konzepte nahebringen wollen, die denen eigentlich am Arsch vorbeigehen. Du hast Mumm.« Na, wenn er das glaubte … »Aber versprich mir eines: kein Wort zu Peter.«
»Welcher Peter?« fragte ich.
»Na, Peter Dijkstra, dein Koordinator!« meinte er. »Der Typ ist eigentlich so ein Lila-Latzhosen-Heini ohne cojones4. Die Sorte von Entwicklungshelfer kenne ich zu gut. Machen den ganzen Tag rum, um ihren Job und den der ihnen zugeordneten Entwicklungshelfer aufzublasen, damit alles ganz wichtig ist und alle ihren Job behalten.« Tomás wurde mir immer sympathischer.
4 Hoden
»So habe ich mir die auch immer vorgestellt. Ist das tatsächlich so?« Seine Offenheit brachte mich zum Lächeln.
»Davon kannst du verdammt ausgehen.« Tomás trank einen tiefen Zug aus seinem Paulaner Weizenbier. »Letzthin war ich im Chaco, da kam mir eine unserer Neuen entgegen, die war etwa einen Meter neunzig lang und wog schätzungsweise hundertfünfzig Kilo. Die arbeitet da jetzt in einer Region, in der die Leute im Winter immer noch Hungerperioden durchmachen. Sie arbeitet in der Armutsbekämpfung. Die hat sich ihren Ehepartner aus Afrika mitgebracht, ihrem letzten Einsatzort. Die stehen da auf so fette Weiber.« Er trank noch einen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Bueno, das zum Thema Kollegen.« Der Ober kam gerade vorbei, Tomás leerte sein Weizenbier und bestellte zusammen mit dem Essen ein neues. Er nahm Schweinshaxe, ich Suprême de Poulet.
Ich schnitt noch mal das Thema der Konflikte in San Ignacio an. »Was passiert denn da in San Ignacio gerade konkret so. Muss ich mir Sorgen machen?« Ich entdeckte kleine Schaumkronen aus Spucke in seinen Mundwinkeln.
»Ähh … nein, musst du nicht. Es ist kein Fall bekannt, in dem ein Expat5 irgendwie zu Schaden gekommen oder bedroht worden wäre. Andererseits hätte es mich hier auch erwischen können - vor zwei Monaten, als der rechte Mob durch die Straßen zog und die Mitarbeiter von JECIS vermöbelt hat.
5 Expatriot
Ein kleines bisschen gefährlich kann es schon sein. Aber da dein Gegenpart der Bürgermeister ist, Erwin Mendez ist Rechtsausleger, dürfte dir wenig Gefahr drohen.«
Das Essen kam. Mein Huhn war sehr gut, mit Ratatouille, einem grünen Salat mit Champignons und Kresse und einer französischen Vinaigrette. Tomás schaufelte sich seine fette Haxe mit Bratkartoffeln rein. Den Krautsalat rührte er nicht an.
»Und die anderen Entwicklungshelfer vor Ort? In welchen Bereichen arbeiten die eigentlich?«
»Also da ist erst mal Wilson Mendoza. Ein Volldepp, das Lieblingskind von Peter.«
»Was für ein Peter?« Das sollte ein Witz sein.
»Sag mal, verdrängst du den? Du wirst mit dem mindestens die kommenden zwei Jahre zu tun haben – wenn du nicht kündigst. Also: Wilson hängt den ganzen Tag rum und wichst vor sich hin, ich meine nicht nur im praktischen, sondern auch im übertragenen Sinn: Er findet sich fantastisch und genial. Er schreibt gerade ein Buch, klingt doch richtig intellektuell, oder? Das macht er mit Peter zusammen, es geht natürlich um Landkonflikte. Ansonsten macht er glaube ich nichts, außer den Wichtigen rauszuhängen.
Von dem Buch habe ich das Exposé gelesen, völliger Schrott. So ein Da-sind-die-Guten-und-dort-die-Bösen-Buch. Klar hatten es die Indianer schwer und unbestreitbar verhalten sich die Großgrundbesitzer nicht immer rechtmäßig. Aber die Sachlage ist weit komplizierter, als dass man sie auf eine so simple Gutmenschen-Formel bringen könnte. Es ist unheimlich schwer, objektiv zu bleiben. Es geht ganz schnell, das mit dem Mitleid. Aber man darf nicht vergessen, dass die Indianer hier im Tiefland nichts gebacken kriegen. Und daran ist bestimmt nicht nur die spanische Conquista schuld, die sind hier unten ja gar nicht angekommen. Eher im Gegenteil: Die Jesuiten haben hier in der Provinz Velasco im 18. Jahrhundert irrsinnige Entwicklungsarbeit geleistet, die haben damals mehr zustande gebracht als wir alle in den letzten vierzig Jahren zusammen, hier in Bolivien. Aber sie wurden von der spanischen Krone vertrieben, weil sie das ganze Tiefland kontrollierten und zu mächtig wurden. Ein paar Jahre später mussten die spanischen Eroberer sich selber verabschieden und konnten deswegen im Tiefland nie wirklich Präsenz entfalten. Für was auch – an Landwirtschaft waren die nie interessiert, mehr an Bodenschätzen und die gab's halt vor allem im Hochland.«
Das klang interessant. Ich erinnerte mich an einen Film mit Robert De Niro. »Hat das was mit dem Film zu tun, ›The Mission‹?«
»Genau, der wurde im Munizip San Ignacio gedreht. Die machen da auch Barockmusik. Aber weiter mit den Entwicklungshelfern: Rosemary Camacho ist Bolivianerin und arbeitet im Thema Gender, also schwerpunktmäßig Frauen- und Minderheitenrechte. Behinderte und Homosexuelle fallen eigentlich auch in ihr Gebiet, aber sie hat da irgendwie nicht so richtig Bock drauf, möchte nur mit Frauen arbeiten. Markus Treffer aus dem Schwarzwald arbeitet in einem Forstprojekt, das den Indianern zu regelmäßigen Einkommen aus der Forstwirtschaft verhelfen soll. Wolfgang Blatter arbeitet mit MINGA, einer Campesino-Kooperative, die organischen Kaffee vermarktet, oder besser gesagt: vermarkten sollte. Sein Spanisch ist katastrophal und dementsprechend kommt er auch mit seiner Arbeit voran. Thomas Hahn aus Frankfurt arbeitet im Wasserbereich, ein wichtiges Thema für die Region, ein guter Mann.
Das ganze östliche Tiefland liegt auf einer der ältesten Felsformationen der Erde - der brasilianischen Platte. Die kommt teilweise an die Erdoberfläche und liegt maximal zwanzig bis dreißig Meter tief. Dadurch können sich da unten keine größeren Wasserreserven aufbauen. Theoretisch schon, in irgendwelchen vertikalen Gesteinsspalten, die geben aber letztendlich auch nicht viel Speicherkapazität her und sind zudem noch schwer zu finden.
Thomas macht gute Arbeit, um Auswege aus der kommenden Krise aufzuzeigen. Denn in zehn Jahren werden dort doppelt so viele Menschen leben wie jetzt, davon kannst du sicher ausgehen, und dann wird das Wasser knapp.
Dann springt da noch so eine Nachwuchskraft rum, einer von denen, die nur ein Jahr bleiben: David van der Waahn. Er ist auf so einem Naturheilertrip und möchte, dass sein Vorname englisch ausgesprochen wird. Er isst nur rohes Zeug und offensichtlich übertreibt er es, denn, wie ich gehört habe, fallen ihm gerade die Zähne aus. Ich schätze Proteinmangel. Völlig durchgeknallt, der Typ. Aber wie das beim DED so ist: Es kümmert sich keiner drum. Er ist bei Markus Treffer angesiedelt und der ist froh, wenn der Wahnsinnsbolzen wegbleibt.«
»Wie hart! Wie alt ist der?«
»Dreißig. Kommt aber rüber wie ein Siebzehnjähriger. Bueno, alle sind Peter unterstellt und machen dort eigentlich, was sie wollen. Diese Laxheit kann funktionieren, wie im Falle von Thomas, Markus und einigermaßen bei Rosemary, definitiv nicht im Falle von Wilson und David, die das offensichtlich für sich auszunützen wissen. Aber das ist einkalkuliert beim DED – immer etwa fünfzig Prozent Leistungsschwund. Personalauswahl im DED, ein Thema für sich.« Er schnippelte an seiner Haxe rum und bestellte beim vorbeihuschenden Ober noch ein Bier. An seiner Backe klebte ein Stück Fleisch und sein Mund war fettverschmiert. Vielleicht würde er das alles in einem Aufwasch nach dem Essen wegmachen.
»Wie ist das also mit den Konflikten in San Ignacio. Oder in der Chiquitania? Was hat das für eine Auswirkung auf meine Arbeit in der lokalen Wirtschaftsentwicklung?«
»Gute Frage. Ich habe verstanden, dass du strukturell arbeiten sollst. Nicht so sehr an konkreten wirtschaftlichen Entwicklungsprojekten, sondern vielmehr am Aufbau einer Verhandlungsplattform zwischen Munizip und privaten Wirtschaftsakteuren. Die Strukturen der Beziehungen der Akteure des Munizips untereinander, der Beziehungen der privaten Akteure untereinander und der Beziehungen zwischen diesen beiden Blöcken, sind sozial sehr komplex und von den von mir vorhin beschriebenen Konflikten geprägt. Das heißt: Wenn du tatsächlich einmal so weit kommen solltest, Strukturen für das Funktionieren einer solchen Plattform zu schaffen, wirst du automatisch mit diesen Konflikten konfrontiert. Nicht als Betroffener, aber als Organisator des Ganzen darfst du dich da auf erhebliche Frustrationsmomente gefasst machen.«
Ich verstand langsam, was meine Arbeit in San Ignacio beinhalten würde. Eigentlich klang das alles recht spannend. Zumindest besser, als irgendwelchen Indianerinnen Webstühle aufzuschwatzen oder biologisch zertifizierte Gemüsebeete zu jäten. Was ich immer noch nicht verstand war, warum er mir so viel Zeit schenkte.
»Warum erzählst du mir das alles, Tomás? Du willst mich warnen vor Gefahren, die für mich nicht gefährlich sind und davor, dass ich in meinem Job auf Widerstände stoßen werde, richtig?«
»Ja, aber ich brauche auch deine Hilfe. Wilson arbeitet, wie ich auch, im Konfliktbereich. Aber ich komme mit diesem Gernegroß einfach nicht klar. Wie ich dir sagte, arbeite ich jetzt mit JECIS vor allem im Konfliktmonitoring. Schlichtungen und Ähnliches unterlassen wir seit den Vorfällen. Aber ich kann nicht dauernd in die Chiquitania reisen, du wirst ja sehen, das ist eine stressige Reise. Ich brauche kleine Berichte von dir über Konfliktatmosphärisches aus dem Munizip. Der Bürgermeister Erwin Mendez ist dein Gegenpart, und wenn du mit ihm gutstehst, wirst du Zugang zu vielen für mich interessanten Informationen aus dem Bereich der kreolischen Großgrundbesitzer haben. Das ist eine Bitte an dich, denn es ist ja nicht dein Arbeitsfeld.«
Ich war mir nicht sicher, obwohl mich das Thema interessierte. »Das bleibt unter uns?« fragte ich ihn.
»Claro, compañero, wir können es auch so machen, dass wir manchmal einfach locker telefonieren. Weißt du schon, wo du dort wohnen wirst?«
»Wilson soll ein Haus gemietet haben, in dem was frei ist.«
»Scheiße! Aber mach dir erst mal ein eigenes Bild von ihm. Vielleicht kommst du ja klar mit ihm.« Er lachte in sich hinein.
»Ist er so schlimm?«
»Er ist ein Riesenarschloch, ein Wichtigtuer.«
»Warum hasst du ihn so?«
»Ich hasse ihn nicht, ich verachte ihn ganz einfach. Die Welt ist voll von solchen Deppen, in jedem Land, auf allen Ebenen. Seine Eitelkeit und seine Selbstliebe sind seine Persönlichkeit, mehr ist da nicht. Aber ich sage dir, was noch schlimmer ist: Dass solche Typen Erfolg haben, liegt nur daran, dass die Welt voll von Heinis ist, die auf solche Typen reinfallen, dass es Strukturen gibt, die mehr vom Schein, als vom Sein leben.«
Ich sah das ähnlich, langsam wurde er mir richtig sympathisch.
»Bist du zu allen so offen? Ich meine, woher weißt du, dass ich das alles nicht einfach an Peter und Wilson weiterreiche?«
»Wirst du nicht, ich habe eine gute Menschenkenntnis. Außerdem hat mich Peter selber gebeten, dir die lokale Lage nahezubringen und das ist eben meine Wahrnehmung. Wahrscheinlich hatte er Schiss, es selber zu tun, weil die Lage in der Chiquitania ja im Moment halt doch Gefahrenstufe Orange ist. Eine Stufe vor Rot, das bedeutet dann Abreise für alle Entwicklungshelfer. Aber glaub mir, das ist halb so heiß, wie getan wird. Lass uns gehen, ich bringe dich ins Hotel. Oder wo willst du jetzt hin?« Er rief den Ober und bat um die Rechnung. Als der kam, zahlte er und lehnte jede Kostenbeteiligung ab. »Das geht aufs Haus, mein Lieber. Hast du heute Abend Zeit? Ich habe noch etliches auf Lager, das du wissen musst.« Mir war's recht, ich hatte eh nichts vor. Außerdem hatte ich nicht verstanden, worauf er mit seinem Kommentar über die Haudegen am Nebentisch hinaus wollte. Er würde um acht bei mir im Hotel vorbeikommen.
Ich ließ mich von ihm ins DED-Büro bringen, ich hatte endlos Zeit übrig und keine Lust im Hotel fernzusehen. Im Büro war ziemlich viel los - viele junge Leute standen herum, alternative Lebenseinstellungen und Helfersyndrome durchzogen durch die Lobby. Ich klopfte an Christinas Tür und fragte nach der Bibliothek, die sie vormittags erwähnt hatte. Sie begrüßte mich wieder strahlend und wies mir den Weg.
Das DED-Büro war in einem großen, modernen Einfamilienhaus mit wandgroßen Fenstern in bester Lage untergebracht. Die Büros der festen Mitarbeiter waren im ersten Stock, das Kaminwohnzimmer im Erdgeschoss bildete den Eingangsbereich mit Sitzecke, ein großes Konferenzzimmer schloss sich an und das ehemalige Esszimmer neben der großen Küche war zur Bibliothek mit langem großen Arbeitstisch umfunktioniert. An den setzte ich mich und konnte mich problemlos ins WLAN einloggen, um meine Mails abzurufen. Im Postfach war aber nur Pornospam und Werbung von Flugbörsen, die ich in der Vergangenheit genutzt hatte. Ich versuchte, aus ein paar Metern Entfernung die Titel auf den Buchrücken zu lesen. Ich war zu faul, aufzustehen und erwartete sowieso nicht viel. Soweit ich erkennen konnte, handelte es sich meist um intern editierte Literatur der deutschen Entwicklungshilfe und verschiedener Nichtregierungsorganisationen. Ich hatte die Sorte Literatur schon in Bonn während der Vorbereitungszeit kennengelernt, meist einseitig positivistische Arbeits- und Projektberichte. Ich fragte mich, ob das je jemand lesen würde. Ich musste an den Leitfaden zur Wirtschaftsentwicklung denken, den Peter Dijkstra mir in die Hand gedrückt hatte.
Da fiel mir eine interessant aussehende, groß gewachsene junge Frau in Jeans und weißem T-Shirt ins Auge. Sie stand am anderen Ende des Raumes, zunächst mit dem Rücken zu mir. Mir gefielen gleich ihre schlanken, gebräunten Arme und ihre breiten Hüften bei schmaler Taille. Ihre dunkelbraunen Haare reichten ihr bis an die Hüfte. Ich musterte sie eine Weile ausgiebig, sie konnte mich ja nicht sehen. Als sie sich leicht zur Seite drehte, sah ich ihren großen schönen Busen. Jetzt muss nur noch das Gesicht gut sein!, sagte ich mir. Als sie sich ganz zu mir herumdrehte, blickte sie mich unvermittelt an, aus grünen, weitstehenden Augen. Ihre Gesichtszüge waren irgendwie hart, ich konnte aber zunächst nicht sagen, warum. Später würde ich diesen Eindruck auf den Verlauf ihrer Augenbrauen zurückführen. Ihr Gesicht wirkte irgendwie maghrebinisch und sehr interessant. Sie lächelte mich kurz an und verließ die Bibliothek mit einem Buch in der Hand. Ich hörte, dass sie draußen an Christinas Tür klopfte und mit ihr sprach. Ihr Spanisch hatte einen französischen Akzent. War sie Entwicklungshelferin? Es gab Ausländer, die als Entwicklungshelfer arbeiteten, aber eher Schweizer oder Holländer. Für Franzosen war es eher untypisch, deutsch zu sprechen oder überhaupt, sich auf Nichtfranzösisches einzulassen. Sie kam nicht mehr zurück in die Bibliothek und ich wünschte mir insgeheim, ein echter Aufreißer zu sein, oder zumindest die Gabe zu haben, leicht ins Gespräch zu kommen. Aber mein Mund blieb umso fester verschlossen, je attraktiver Frauen für mich waren. Vielleicht würde ich sie gar nicht mehr wiedersehen und so versuchte ich, nicht mehr an sie zu denken. Ich dachte an meine Ex-Frau und überlegte, ob ich schon in der Lage wäre, eine neue Beziehung zu starten. Obwohl zwischen uns bittere Trennungsfeindseligkeit herrschte, war ich emotional eher träge. Andererseits hatte ich bei der Französin deutlich dieses Gefühl im Unterleib gespürt, das sich einstellt, wenn man eine Frau ansieht, die man anziehend findet. Was Frauen anbelangte, neigte ich eher dazu, meinen Gefühlen als meinem Verstand zu trauen.
Ich versuchte, an was anderes zu denken und surfte im Internet, las Nachrichten, recherchierte über San Ignacio. In Deutschland hatte ich mir nur Fotos von Reiseberichten angesehen, jetzt wollte ich mehr Informationen zur politischen Lage vor Ort haben. Im bolivianischen Netz war einiges zu finden, das meiste bestätigte Tomás' Einschätzung: Die Berichterstattung in den lateinamerikanischen Medien ist weniger analytisch, sondern besteht einfach aus Berichten über Tatsachen oder über Zusammenhänge, die für solche gehalten werden. Trotzdem konnte ich mir aus den Berichten über kurz zurückliegende, vor allem gewaltsam verlaufene Ereignisse ein etwaiges Bild von der Lage in Bolivien machen; vor allem über den sich verschärfenden Konflikt zwischen Hoch- und Tiefland. Neben dem Namen des Präsidenten Evo Morales, seinem Vize Tomás García Linera und einer Unzahl mir unbekannter Politiker fiel hierbei vor allem immer wieder ein kroatisch klingender Name: Branko Marinkovich, Präsident des ›Comité Cívico‹ von Santa Cruz. Was das genau sein sollte, wusste ich nicht und beschloss daher, Tomás am Abend nach dem Mann und seinem Spezialkomitee zu fragen.
Ich war am späten Nachmittag ins Hotel zurückgekehrt, duschte und zog mich schnell an. Tomás kam um Punkt acht Uhr, er ließ mich von unten über die Rezeption rufen. Ich freute mich, ihn zusehen. Seine bissige Art gefiel mir. Wir gingen zu seinem Ford Fiesta und zu meiner kompletten Überraschung saß die junge Frau aus dem DED-Haus auf der Rückbank. Wir stiegen ein und er stellte mir Odile Monchardon vor. Ich gab ihr die Hand, denn im engen Auto war der sonst übliche Begrüßungskuss nicht machbar. Tomás erklärte mir, dass Odile freie Journalistin sei, Beiträge für die französische Tageszeitung ›Le Canard Enchaîné‹ schrieb und sechs Monate in Bolivien bleiben würde, um ein Buch zu schreiben. Ich schwieg die meiste Zeit der Fahrt – wie häufig bei Anwesenheit für mich sehr attraktiver Frauen.
Tomás fuhr durch den stockenden Abendverkehr und erzählte vom Rest seines Nachmittages. Er hatte mit Wilson Mendoza gesprochen, dem Typ aus San Ignacio, der auch am Konfliktthema arbeitet und bei dem ich vielleicht wohnen würde. Er hatte sich aufgeregt, weil Wilson die Arbeit für einen gemeinsamen Artikel nicht erledigte. Es ging natürlich um Landkonflikte, um Indianer, die kürzlich von Großgrundbesitzern unrechtmäßig aus ihrem Gebiet verdrängt worden waren.
»Wilson ist ein stinkfauler Sack. Ich weiß gar nicht, was der da eigentlich die ganze Zeit macht. Er ist der Liebling von Peter und hängt nur rum. Er macht auf Frontschwein, weil er sozusagen dort arbeitet, wo die Konflikte im Moment besonders stark hervorbrechen und lebt angeblich gefährlich, weil die Konfliktarbeit von den Großgrundbesitzern im Tiefland nicht gerne gesehen ist. Wir in Santa Cruz hingegen seien ja fern vom wirklichen Geschehen, so seine Einstellung in etwa.«
Er hielt vor dem Asadero Los Hierros, das ich bereits vom Vortag kannte. Mir war seine Wahl recht, der Laden war gut. Das Lokal war zweigeteilt - einer der beiden Bereiche war der, in dem ich am Vortag gesessen hatte. Dieser war im Haciendero-Style gestaltet, mit Rinderschädeln an der Wand und den erwähnten Flinten. Auf den Holzsäulen in der Mitte des Lokals waren die Brandzeichen der großen Rinderzuchtfamilien eingebrannt. Der andere Teil, den ich am Vortag für ein anderes Lokal gehalten hatte, war durch einen schmalen Durchgang getrennt. In diesem ebenfalls großen und zur Straße hin offenen Restaurantteil befand sich in der Mitte eine ausladende, quadratische Bar. An den Wänden und zur Straße hin standen moderne Esstische aus rauem Vulkangestein. Die Beleuchtung war durchdacht und modern, es war so ein Avantgarde-Ambiente. Wir gingen zur Bar und bestellten argentinischen Weißwein.
»Odile arbeitet an einem Buch über die Konfliktlage in Bolivien, vor allem Tiefland vs. Hochland, aber auch Landkonflikte. Ich greife ihr dabei unter die Arme.« meinte er großspurig und zwinkerte ihr zu. Sie lächelte verlegen und blickte mir kurz in die Augen. Das Grün ihrer Augen war lähmend schön. Ich versuchte immer, meinen Blick nicht auf ihren Busen zu lenken. Frauen merkten das immer. Sie hatte dasselbe T-Shirt vom Nachmittag an, war offensichtlich ungeduscht und überhaupt nicht zurechtgemacht.
»Mal sehen, ob ich das hinkriege. Zunächst soll ein Beitrag im Canard erscheinen, aber mein gesetztes Ziel ist es, ein Buch über die aktuellen Entwicklungen hier zu schreiben. Die Story soll im Herbst rauskommen.«
»Wird das eine größere Sache? Ich meine, du hast ja ziemlich viel Zeit dafür oder?« Ich sprach sie zum ersten Mal direkt an.
»Ja, aber die Zeit hat mir der Verlag gewährt, weil ich denen klar gemacht habe, dass das hier eine ziemlich komplexe Sache ist, die sich im Moment auch dynamisch entwickelt und nicht abgeschlossen ist. Zudem wird es mein erstes Buch.«
»Na, stapel mal nicht tief, du hast immerhin den Nachwuchswettbewerb der französischen Journalisten gewonnen, wie heißt der noch? Und dann gleich Assistentin des Chefredakteurs …« Tomás schleimte und schien sie ebenfalls prima zu finden. Ich hatte schon oft hässliche Knöpfe wie ihn kennengelernt, die trotzdem bei Frauen landen konnten, auch bei gutaussehenden. Also fing ich an, eifersüchtig zu werden.
»Ich bin sicher, dass Tomás dir da sehr weiterhelfen wird. Wie sieht denn dein Programm so aus?«
»Ich bin seit zwei Wochen in Santa Cruz und habe Archive durchgekämmt. Vor allem die Berichte der Tageszeitungen des Landes in den letzten beiden Jahren. Jetzt fahre ich in die Chiquitania und werde dort drei Wochen bleiben.«
»Du fährst doch in den kommenden Tagen. Weißt du schon wann? Robert muss da auch hin, sein Einsatzort.« warf Tomás ein. Ich spürte Vorfreude in mir aufsteigen, wollte aber nicht gleich antworten, denn es bestand ja die Chance, sie erst mal anzuhören und mich dann eventuell nach ihr richten zu können.
»Ich will in den kommenden Tagen los, mit dem Bus.« meinte sie. Ihr französischer Akzent gefiel mir, sehr.
»Ich fahre übermorgen. Wär doch praktisch, wenn wir zusammenfahren würden. Was machst du denn so in der Chiquitania?«
»Interessante Frage. Die Archive habe ich ja bereits hier zumindest ansatzweise gesichtet. Ich möchte dort vor allem mit den Konfliktakteuren reden, Interviews machen und so weiter. Besonders interessiert bin ich an der Rolle der amerikanischen Entwicklungshilfe in der Dynamik des aktuellen Konfliktes zwischen Evo und dem Tiefland.«
»Ach ja,« warf Tomás ein, »darüber haben wir noch nicht geredet. USAID ist in eine Reihe von Vorfällen verwickelt. Evo Morales wirft denen vor, die Rechtskonservativen hier unten politisch direkt zu unterstützen.«
»Richtig, die machen so Bildungsprogramme mit deutlich pro-amerikanischem Briefing, gegen Evo Morales.« Odile wurde souveräner und fing an, mit Tomás zu fachsimpeln. Tomás bemühte sich stets, seine umfassende Konfliktkompetenz unter Beweis zu stellen, während sie deutlich ruhiger blieb. Sie beeindruckte mich und ich fragte mich zum ersten Mal, ob sie einen Partner hätte. Zur Diskussion hatte ich nicht viel beizusteuern und verstand vieles nicht. Ich schweifte in Gedanken wieder ab und stellte mir die Fahrt mit ihr nach San Ignacio vor.
Nach einer Viertelstunde, beim zweiten Glas Wein, setzten wir uns an einen der Tische und bestellten. Tomás nahm Bife, ich ebenfalls. Sie aß ein Gericht namens ›Matambre‹, welches aus dem Brustlappen des Rindes zubereitet wird. Tomás bestellte noch was zu trinken, diesmal eine ganze Flasche. Als er auf die Toilette ging, fragte sie mich nach meiner Arbeit. Tomás hätte ihr irgendwas von Wirtschaftshilfe erzählt. Ich erzählte ihr, was ich bereits wusste. Ich tat das beiläufig, ich wollte souverän wirken.
Tomás kam, der Kellner auch und brachte die neue Flasche Wein, die Tomás bestellt hatte. Wir redeten weiter, und als das Essen kam, waren wir alle drei bereits angetrunken. Odile ließ uns ihren Matambre probieren, die eindeutig bessere Wahl als unsere Bifes, die ziemlich zäh waren. Ich versuchte, sie beim Essen unauffällig zu mustern. Sie hatte gute Essmanieren und offensichtlich viel Stil. Ihre Augenbrauen trafen sich fast in der Mitte. Ich stellte mir die Form ihrer Brüste vor. Bei der Größe mussten sie fallen, aber wenn die Form stimmte, umso besser. Was groß ist, fällt eben. Der Kontrast ihres Busens zu ihrer schlanken Figur trieb mich in den Wahnsinn. Im Gesicht hatte sie leichte Spuren von früherer Akne, die aber wegen ihrer braunen Haut wenig auffielen. Außerdem mag ich bei Frauen die kleinen Abweichungen und Defekte. Modelaussehen langweilt mich.
Die Stimmung lockerte sich nach dem Essen weiter, Tomás hatte die zweite Flasche Wein bestellt und wir rauchten, unterhielten uns über Essen, über Lateinamerika und dessen Zukunft, Santa Cruz, die Entwicklungshilfe. Odile wusste überall sehr gut Bescheid und Tomás versuchte weiter, sie zu beeindrucken. Schließlich ergab es sich, dass ich Tomás auf die Haudegen vom Mittagstisch ansprach.
»Tomás, du hast mir noch nicht gesagt, warum du so geheimnisvoll von den Typen heute Mittag am Nebentisch erzählt hast. Du meintest, du wolltest mir irgendetwas über diese Art Leute erzählen.«
»Stimmt. Ich wollte warten, bis Odile dabei ist. Ihre Arbeit hat viel mit denen zu tun.«
Sie lächelte neugierig. »Was für Typen denn, Tomás?«
»Wir haben heute Mittag beim Essen zwei von diesen Abenteuerheinis gesehen, ehemalige Söldner, zumindest einer von ihnen. Ich selber habe vor ein paar Tagen einen deutschen Journalistenfreund getroffen, der im Balkankrieg als Korrespondent gearbeitet hat. Der meinte, dass im östlichen Tiefland, vor allem in der Provinz Velasco, irgendwas im Gange sei. Es wurden vermehrt Paramilitärs gesichtet, schwer bewaffnet. Zuerst waren vor Monaten ein paar Indianer mitten im Urwald auf waffenstarrende Typen getroffen, die sie für eine Spezialeinheit der Armee hielten. Die Indianer meldeten das Aufeinandertreffen aber später der Polizei, weil die Paras plötzlich angefangen hatten, auf die Indios zu schießen. Nicht um sie umzubringen, sondern um sie zum Abhauen zu bewegen.«
»Vielleicht waren es irgendwelche Söhnchen von reichen Hacienderos, die Paintball spielen wollten mit denen.« warf Odile ein. Tomás' Lachen war eine Mischung aus abgehacktem Ächzen und Glucksen. Es ging irgendwie nach innen, obwohl es auffallend laut war.
»Könnte man denken, aber für mich verbindet sich das mit einer anderen Meldung. Wenig später wurden am anderen Ende der Provinz Velasco - Ihr müsst euch vorstellen, die ist so groß wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen - ebensolche Paramilitärs gesichtet, und zwar von einem Angestellten der Diözese von San Ignacio, als dieser am späten Nachmittag in der Nachbargemeinde San Rafael die kirchliche Radiostation inspizierte, was der vermutlich täglich macht. Diese liegt auf einem kleinen Hügel vor San Rafael und etwa einen Kilometer von dem Städtchen entfernt, mit ziemlich hohen Antennen.
Als er ankam, merkte er, dass da irgendwer auf den Antennen rumkletterte, er hörte Stimmen und schaute nach oben, konnte aber nichts erkennen, es dämmerte bereits. Dann sah er ein paar Typen auf sich zukommen, die er als übel aussehend und schwer bewaffnet bezeichnete. Er beschrieb sie später so, wie auch die Indianer ihrerseits die Aggressoren beschrieben hatten. Ihm war aber aufgefallen, dass sie keinerlei Armeeabzeichen trugen. Als sie bei ihm angekommen waren, zogen sie ihm eins über und weg war er.
Am nächsten Morgen wurde er von der örtlichen Polizei geweckt, als diese eine ihrer beiden täglichen Streifen bei den Antennen abfuhren. Er wurde erst ins Krankenhaus gebracht und dann aufs Polizeirevier. Er erzählte denen das, was ich hier sage und was so auch im Lokalfernsehen berichtet wurde. Wir empfangen das hier auch in Santa Cruz, deswegen konnte ich den Vorfall von hier aus verfolgen. Das war aber nur kurz, die nationalen Medien hier haben dem Vorfall damals keine weitere Bedeutung beigemessen.«
Ich folgte ihm aufmerksam, ich spürte Interesse.
»Du sagtest ja selber, dass Bolivien für solche Kerle eine Art letztes Paradies sei.« bemerkte ich.
Er überging meinen Kommentar. »Mir scheint, dass an der Geschichte mehr dran ist, denn beispielsweise haben die nationalen Medien vor zwei Monaten berichtet, dass auf einer Hazienda ein Massengrab mit zehn Brasilianern gefunden wurde. Indianische Tagelöhner hatten beobachtet, wie Paramilitärs – als solche hatten sie diese nach den beiden anderen Vorfällen bereits erkannt – nächtens Leichen in einen mit einer Planierraupe ausgehobenen Graben warfen. Die Planierraupe hatten sie gesehen, sie stand neben dem Ort des Geschehens. Sie waren durch mehrere Schusssalven aufmerksam geworden und hatten sich angeschlichen, ohne dass die Paras sie sehen konnten. Am nächsten Nachmittag meldeten sie den Vorfall der Polizei von San Ignacio, dem mit einhundertzwanzig Kilometer Entfernung nächstgelegenen größeren Ort.
Die Hazienda liegt an der brasilianischen Grenze, neben einem Naturschutzgebiet und neben einer im Allgemeinen nicht viel befahrenen Strecke, die aber von Schmugglern bevorzugt wird, und das nicht zu knapp. Die Polizei fuhr hin und grub die Leute mit der Schippe aus. Die Planierraupe war irgendwie nicht mehr da. Die Toten wurden durch Inaugenscheinnahme als Brasilianer erkannt. Deren Identifikation durch die Behörden in Brasilien war nicht weiter schwer, da sie ja zwei Tage zuvor erst erschossen worden waren. Es handelte sich um mehrere bekannte Schmuggler, zwei Auftragskiller und zwei Zuhälter aus den Dörfern des brasilianischen Grenzgebietes. Den Grund für ihre Ermordung kennt man bis heute nicht, reine Vermutungen. Aber eines wundert mich, nämlich dass es auf der Hazienda eines Deutschen passiert ist. Dr. Franz Rhön, fünfundneunzig Jahre alt und für mich ein alter Nazi. Da er aber offensichtlich mit fünf Angestellten alleine auf seiner Hazienda lebt, dürfte er kaum in der Lage gewesen sein, die brasilianischen Berufskriminellen alleine zur Strecke zu bringen.«
»Klar dürften dem Alten die ganzen zwielichtigen Gestalten stinken, die dauernd durch seine Viehweiden und Waldflächen ziehen und mit ihnen eine Menge anderer Bolivianer auch, unter denen ebensolche Kriminelle wie die toten Brasilianer. Aber der Oldtimer sich mit denen anlegen? Schwer vorzustellen.« warf Odile ein.
»Aber mit Hilfe von Söldnern ginge da schon was.« meinte ich humorig, um mitzureden.
»Darauf will ich hinaus. Der Alte wurde verdächtigt, leugnete gegenüber der Polizei gegenüber aber alles hartnäckig und man musste ihn schließlich gehen lassen, es gab ja keinen einzigen Beweis. Die Polizei ging den Hinweisen der Indianer nicht weiter nach und fahndete auch nicht nach den unbekannten Paramilitärs. Ach ja, die Indianer hatten auch zu Protokoll gegeben, dass die Männer eine ausländische Sprache gesprochen hätten. Ob es Englisch war, konnten sie nicht sagen. Dass es Brasilianisch gewesen sei, glaubten sie nicht.«
»Was für eine Verbindung siehst du? Glaubst du, dass ein böser alter Mann sich eine Soldateska anheuert, um in seinem kleinen Kackreich aufzuräumen?« fragte ich.
»Ich denke, mein Journalistenfreund vermutet das, aber im größeren Stil. Auf jeden Fall ist er sicher, dass es sich nicht um Bolivianer handelt, Europäer vermutet er. Mit seiner Theorie über die Vorfälle wollte er aber nicht rüberkommen. Ich denke aber, da passiert irgendwas und eine mögliche Verbindung zu den Nazis und Kroaten würde mich schon interessieren, denn im Zusammenhang mit anderen Entwicklungen hier im Lande ergibt das eine Verwicklung verschwörerischen Ausmaßes. Aber für euch beide heißt das zum einen: Augen auf! Denn wenn so was passiert, dann geht es wahrscheinlich zuerst in der Chiquitania rund. Und wie gesagt, ich bitte euch um Berichte über Atmosphärisches aus der Gegend. Wir telefonieren einfach mal zwischendurch. Deswegen lade ich euch ja heute Abend auch ein.«
Er grinste und bestellte noch eine Flasche Wein. Ich schätzte, er hatte bereits zu viel intus, denn er trank schneller als Odile und ich. Anzumerken war ihm aber nicht viel. Ich hingegen merkte den Alkohol. Wir wechselten das Thema, langsam wurde er aber auch richtig witzig und brachte Odile zum Lachen. Das machte mich wieder eifersüchtig, und meinem Naturell entsprechend hielt ich mich deswegen zunehmend zurück. Ich hasste Gebuhle.
Schließlich zahlte er und wir gingen. Tomás fuhr mich am Hotel vorbei und ich verabschiedete mich von den beiden, wieder per Handshake. Odile hatte mir ihre Handynummer gegeben, ich sollte sie bitte anrufen, um ihr zu sagen, wann ich genau fahren wollte. Ich ging aufs Hotelzimmer und holte mir einen runter. Dann schlief ich ein.
Am nächsten Morgen wachte ich leicht verkatert auf. Das Frühstück im Hotel war ganz anständig und appetitlich. Mein Wagen würde mir von Christina, wegen der noch fehlenden Versicherungspapiere, erst am nächsten Tag übergeben. Ich würde also frühestens in zwei Tagen losfahren können; denn ich ging nicht davon aus, vor zwölf Uhr mittags aus Santa Cruz loszukommen. Da wir Entwicklungshelfer Nachtfahrverbot hatten und die Reise etwa neun Stunden dauerte, würde ein halber Tag nicht reichen. Ich hatte Odile ja am Vorabend angekündigt, dass ich in zwei Tagen fahren würde. Ich überlegte beim Frühstücken, wann der beste Zeitpunkt sei, sie anzurufen. Mir war danach, es möglichst bald zu tun, aber ich riet mir davon ab. Meine Erfahrung hatte mich gelehrt, dass es sich nicht auszahlt, zu stürmisch vorzugehen. Ich beschloss, erst mal abzuwarten und den Tag zu nutzen, um Santa Cruz weiter zu erkunden.
Nach dem Frühstück ging ich aufs Zimmer, um mir die Zähne zu putzen. Dann lief ich vom Hotel aus los. Das Hotel lag an einer weitläufigen Allee mit gras- und baumbewachsenem, breiten Mittelstreifen, auf dessen Damm sich ein angelegter Spazierweg befand. Diese Allee bildete den inneren Ring, der das koloniale Zentrum von Santa Cruz umschloss.
In Richtung Zentrum jedoch lag hinter dem Hotel und seiner Umgebung zunächst ein ziemlich heruntergekommenes Viertel. Zwar waren auch hier die Gebäude mit den typischen Säulengängen versehen, aber deutlich vernachlässigter als zum großen Platz hin, der im Zentrum der Altstadt lag. Manche Häuser waren unbewohnt und eingestürzt. Auf den Bürgersteigen lag Menschenscheiße. Man konnte durch die fensterlosen Öffnungen der Mauern, zwischen dem dort bereits gedeihenden Gestrüpp die Schlafstätten der obdachlosen Jugendlichen ausmachen, die vor den Gebäuden herumlungerten und bettelten oder sich schnüffelnd dem Kleber-Nirwana hingaben. Sie wirkten krude und wild, ich war innerlich in Habtachtstellung. »Vamos, Mister, gib uns Dollars!« riefen einige und lachten dabei derbe.
Um die Ecke lag ein kleiner Fischmarkt, mit Restaurants davor. Alles wirkte klebrig und schäbig, der Gestank nach vergammelnden Fischresten und Exkrementen beherrschte die Szene. Im Weitergehen näherte ich mich dem Zentrum und kam an mehreren schönen alten Kirchen aus der Gründerzeit von Santa Cruz vorbei. Ich erreichte den Markt ›Los Pozos‹, ein wildes Gewühl von Menschen, die sich vor den Auslagen der Läden und der Straßenverkaufsstände aneinanderrieben. Immer befanden sich die Geschäfte gleicher Art nebeneinander, zuerst Schuhladen an Schuhladen, dann Kleidergeschäft an Kleidergeschäft, Haushaltsgeräteläden, Klimaanlagenläden und so weiter. Die Straßen aber gehörten den mobilen Lebensmittelverkäufern. Schließlich erreichte ich die Straße mit den Fleischerläden. Es stank süßlich nach fauligem Fleisch, obwohl die Auslagen gar nicht so schlimm aussahen. Später sollte mir erzählt werden, dass dort Wurst aus streunenden Hunden verkauft würde.
Ich verließ den Markt in Richtung der Plaza Mayor, ich orientierte mich mit einer Stadtmap, die ich an der Rezeption bekommen hatte. Je näher man an den großen Platz kam, desto angenehmer wurde die Gegend. Der Platz war schön angelegt und recht durchdacht, mit Sitzbänken und Schachtischen ausgestattet. Die hohen Palmen und Bäume spendeten angenehmen Schatten. Auf dem Boden war rötlicher Marmor verlegt.
Auf den Bänken saßen Leute jeden Alters, fast alle waren sie besetzt. Ich suchte eine Sitzgelegenheit und fand eine neben einer Bankreihe, die zur Hälfte von älteren Cruzeños besetzt war. Die waren recht gut drauf, rauchten und palaverten. Sie sprachen von Politik und fluchten auf den Präsidenten Evo Morales.
In einem klassizistischen weißen Gebäude gegenüber befand sich im ersten Stock ein Irish-Pub, das einen prima Überblick über den ganzen Platz versprach. Ich beschloss, später dort was trinken zu gehen. Der Platz war von vier Seiten her eingerahmt mit alten Gebäuden aus der Gründerzeit von Santa Cruz. Der Club Social, eine Art Gemeindehaus mit Mittagstisch, das Rathaus, ein großes Theater, ein Wohnhaus einer ehemals oder immer noch stinkreichen Familie, zwei Banken und schließlich die Kathedrale. Ich studierte die Karte und stellte fest, dass der Platz ziemlich genau im Zentrum des ersten Ringes lag. Weiter außerhalb gab es noch einen zweiten, dritten und vierten Ring. An sich ein durchdachtes urbanes Konzept, dachte ich mir, doch konnte es wohl so gut nicht funktionieren, da der Verkehr das absolute Chaos war. Um den Platz herum schoben sich im Schritttempo hupend die Autos.
Es wollte bereits Mittag werden und ich beschloss, aus Vernunft, etwas zu essen zu besorgen. Ich hatte keinen großen Hunger, lief in einen Supermarkt und kaufte mir Weißbrot und Aufschnittwurst im Vakuumpack. Zwei Bier nahm ich auch mit und setzte mich wieder auf den Platz, wo ich das Brot mit den Händen aufriss und die Wurstscheiben reinquetschte. Bier und Brot waren ziemlich gut, die Wurst weniger, aber gerade noch essbar.
Danach lief ich weiter in die Richtung, die vom Hotel wegführte, und gelangte schließlich auf die zu meinem Ausgangspunkt diametral entgegengesetzte Seite des ersten Ringes. Ich überquerte die breite Straße und gelangte in ein einigermaßen schönes, bürgerliches Viertel mit modernen Einfamilienhäusern. Deren Grundstücke waren alle großzügig angelegt und meistens üppig mit tropischen Pflanzen und Bäumen ausgestattet. Die Bürgersteige waren verhältnismäßig sauber, zumindest im Vergleich zum Rest der Stadt. In sehr vielen Garagen oder Schuppen waren kleine Lebensmittelgeschäfte untergebracht. Auf den Bürgersteigen standen in kurzem Abstand Bäume, die teilweise in grellen Farben blühten.
Schließlich kam ich zum zweiten Ring, den ich überquerte und dann erreichte ich das zentrale Bus- und Zugterminal. Dort herrschte ein unüberschaubares Gewimmel aus Ankommenden und Abreisenden, Straßenverkäufern, Rucksacktouristen in indianischen Schlabberklamotten, Restaurants und Geschäften. Das Areal des Terminals war von einem hohen Metallzaun eingegrenzt. Das Gebäude selbst war ziemlich groß und zweistöckig, dem Stil nach in den Siebzigern aus Betonfertigteilen erbaut. Ich kaufte mir eine Tageszeitung und setzte mich auf eine Bank im Freien innerhalb des Terminalareals. Die Luft stank nach Abgasen, es war aber ein schöner Tag, die Mittagshitze stellte sich nur langsam ein.
Ich überflog mehrere Artikel der Zeitung mit lokalen Meldungen, die mir zunächst nicht viel sagten. Dann stieß ich auf einen Beitrag über ein geplantes Referendum im Department Santa Cruz. Es wurde in offen tendenziöser Art die Notwendigkeit der Autonomie dargestellt, die Bevölkerung zur Teilnahme aufgefordert und dazu gedrängt, mit ›Ja‹ zu stimmen. Es folgte ein weiterer Artikel, in dem der bereits erwähnte Branko Marinkovich in einem Interview die Vorteile und die Notwendigkeit der Autonomie darlegte. Der Tenor war, dass sich das Hochland und La Paz nie um das Tiefland gekümmert hätten und nun, da das Tiefland wirtschaftlich florierte, den hart erarbeiteten Wohlstand der Tiefländer für sich beanspruchen wolle. Außerdem sei der Präsident Evo Morales eine Marionette des venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez, der nichts anderes im Sinne habe, als Bolivien in den Sozialismus zu führen. Es sei Zeit, aufzustehen und sich zu wehren. Ich stieß auf eine weitere Meldung, in der über Zwischenfälle in San Ignacio de Velasco, meinem Einsatzort, berichtet wurde. Drei kubanische Ärzte, die im Rahmen eines Hilfsabkommens ins Land gekommen waren, waren von der Unión Juvenil de San Ignacio krankenhausreif geprügelt worden. Einer der Ärzte würde auf einem Auge erblinden.
Ich rollte die Zeitung ein und steckte sie mir in die Hintertasche meiner Jeans. Es war halb zwölf Uhr vormittags; ich beschloss, ins DED-Haus zu gehen und versuchte, es auf der Stadtkarte zu finden. Schließlich fand ich die Straße, genau in der entgegengesetzten Richtung, die ich vom Hotel aus eingeschlagen hatte. Ich lief los und durchquerte dasselbe Viertel wie auf dem Hinweg, allerdings über eine andere Route, was kaum neue Eindrücke brachte.
Dann stieß ich plötzlich zufällig auf den zentralen Friedhof und beschloss, einen kleinen Abstecher dorthin zu machen. Er war sehr schön, mit viel Grün angelegt und, ebenso wie die Stadt, in Zonen unterschiedlichen Wohlstands aufgeteilt. Das Viertel der Toten aus den reichen Familien bestand aus üppigen, hausförmigen Grüften, die gepflasterten Straßen hatten sogar Namen, wahrscheinlich berühmter Verstorbener und kleine Vorgärten. Dann gab es einen kleineren Bereich mit normalen Gräbern mit Holzkreuzen, die teilweise nicht besonders gepflegt waren. Schließlich kam ich in eine riesige Anlage, in der sich die Gräber in Wandnischen befanden. Die scheinbar endlosen Schubladen der Gräber waren aber nicht überirdisch, sondern labyrinthartig in tiefe, breite Betonschluchten unterhalb der Grasoberfläche gebaut, so dass man sie erst sah, wenn man nah genug war. Hier lagen die Toten der breiten Masse. Man konnte auf den breiten, grasbewachsenen und geländerlosen Mauerrücken von oben in die offenen Gräberschluchten schauen, in deren Wände sich tausende von Nischen befanden. Es roch nach Verwesung und der Ort war unheimlich, schattig. Vereinzelte alte Weiber in schwarzer Kluft, teilweise auf Leitern stehend, um an die höher gelegenen Nischen zu gelangen, fummelten herum, brachten Blumen an oder beteten. Ich verließ den Ort und nahm den Weg in Richtung Büro auf.
Ich überquerte den ersten Ring in Richtung Zentrum, denn um ins Büro zu gelangen, musste ich auf die andere Seite der Altstadt, die ich nun wieder durchqueren musste. Schon bevor ich wieder an den großen Platz gelangte, ging im Verkehr nicht mehr viel voran.
Nach einer Weile fiel mir auf, dass sich die Autos überhaupt nicht mehr vorwärts bewegten. Vereinzelt begannen die Leute, aus ihren Autos zu steigen und in Fahrtrichtung nach dem Grund des Totalstaus Aussicht zu halten. Fast alle hupten.
Ich lief weiter und hörte aus der Richtung des zentralen Platzes laute Sprechchöre und Megafone, verstand aber nicht, was gesagt wurde. An der Mündung der Straße zum Platz hin waren die Bürgersteige bereits so voller Leute, dass das Vorankommen beschwerlich wurde. Ich drängte mich aber durch und kam irgendwann an der Plaza Mayor an. Dort stand auf den Stufen der Kathedrale eine größere Menge mehrheitlich indianisch aussehender Aktivisten unter einem breiten Banner, das sie als Mitglieder der ›Unión Obrera‹6 auswies, vermutlich eine Gewerkschaft.
6 Arbeiterunion
In der Mitte der Aktivisten befand sich ein Redner mit Megafon, der sich die Seele aus dem Leib schrie. Es klang martialisch und hasserfüllt und erinnerte mich an die lautesten Redner des Dritten Reiches. Später erst realisierte ich, dass alle Redner in Bolivien so schrien, egal welcher politischen Couleur.
In einer Entfernung von etwa fünfzig Metern hatte sich eine zweite Gruppe gebildet, die aus weißhäutigen Jugendlichen mit Sneakers und Baseballkappen bestand. Die schrien gegen das Megafon des Gewerkschafters an. Was genau, war noch schlechter zu verstehen als das Plärren der Gewerkschaftsredner mit Megafon. Mir kam das Irish-Pub in den Sinn, das ich auf dem Hinweg am Platz gesehen hatte und ich beschloss, mich dorthin durchzudrängen. Die Lage im ersten Stock versprach einen guten Überblick.
Ich gelangte zum Eingang des alten Gebäudes und über die Treppe in den ersten Stock ins Lokal. Ich bahnte meinen Weg zum breiten Balkon, der bereits ziemlich von Schaulustigen besetzt war. Ich konnte aber noch einen Sitzplatz an der Brüstung ergattern und setzte mich auf den Mauervorsprung. Aus den Gesprächen der Lokalbesucher schloss ich, dass es um das geplante Autonomiereferendum ging. Die Gewerkschafter auf der Kirchentreppe sprachen sich gegen die Autonomie aus, für einen geeinten sozialistischen Staat Bolivien.
Die Gruppe der Jugendlichen ein Stück daneben brüllte dagegen an, sie waren offensichtlich für ein ›Ja‹ zur Autonomie des Tieflandes. Beide Gruppen erhielten permanenten Zustrom weiterer Unterstützer und waren seit meiner Ankunft deutlich angewachsen. Ich bestellte ein Bier und beobachtete die Szene. Von Polizei war keine Spur zu sehen.
Die Lage schien sich weiter anzuspannen, denn beide Gruppen kamen sich nicht nur durch ihr permanentes Anwachsen näher, sondern auch, weil sich nun die jugendlichen Aktivisten langsam auf die Gewerkschafter zubewegten, es handelte sich um die ›Unión Juvenil Cruceñista‹7, wie ich den Kommentaren der anderen Gäste entnahm.
7 Verband der Jugend von Santa Cruz
Plötzlich löste sich eine kleine Gruppe von Jugendlichen aus dem Pulk, rannte auf einige am Rande der Gewerkschaftsgruppe stehende Demonstranten los und riss zwei gegnerische Aktivisten mit sich in Richtung ihrer Gruppe. Praktisch im Rückwärtsgang prügelten sie bereits wild auf die beiden ein. Einen kurzen Moment später wurden sie schon von einer größeren Gruppe Gewerkschafter eingeholt, die nun ihrerseits auf die Jugendlichen eindroschen. Es hatte nicht viel mit Kampftechnik zu tun, sondern es war blindwütiges Hauen, Treten und Kratzen.
Ein Gewerkschafter lag am Boden, er krümmte sich nach einem hemmungslosen Fußtritt ins Gesicht zusammen, ein Jugendlicher war von zwei Gewerkschaftern in die Mangel genommen und versuchte, sich durch Abducken zu retten, bekam aber ein Knie ins Gesicht und sackte zusammen. Aus mehreren Gesichtern floss Blut.
Es war bereits eine wilde Schlägerei im Gange, als ich plötzlich unter den Pubgästen ein bekanntes Gesicht ausmachte. Erst hielt ich es für unmöglich, war mir aber dann sicher: Mathias Zorn, ein alter Freund aus meiner Zeit in Ecuador vor zwölf Jahren. Er war vor vier Jahren plötzlich verschwunden, obwohl wir gut befreundet waren und zuvor immer den Kontakt gehalten hatten. Er stand neben einer Gruppe betuchter Cruzeños, sie schienen gelöst und das Ganze humorig zu kommentieren. Sie tranken Bier und Wein. Ich stand auf, ging in Richtung der Gruppe, Mathias stand mit dem Rücken zu mir.
»Mathias, bist du's?«
Er drehte sich um und sah mich nach kurzem Zögern überrascht und freudig an.
»Mensch Robert, alter Gurkenkönig, du hier?«
»Na offensichtlich!«
Er lachte laut und fiel mir in die Arme. »Was verschlägt dich hierher? Machst du Urlaub in diesem Kackland?« Er lachte wieder laut auf. Er lachte immer zu laut. Im Kontext der Keilerei, die unten lief, war es nicht zu laut, aber in Restaurants beispielsweise war sein Lachen immer viel zu laut.
»Nein, ich bin beim Deutschen Entwicklungsdienst gelandet. Ich bin vor knapp einer Woche angekommen. Und du? Du Arsch warst plötzlich verschwunden, was ist passiert?«
»Alter, das erzähl ich dir, ist aber eine komplizierte Geschichte. Lass uns noch kurz die Spinner da unten beobachten, dann gehen wir was essen, wie wär's?«
Er trug, wie gewohnt, einen dunklen Maßanzug mit geschmackvoller Krawatte und seine Rolex. Sein Gesicht war trotz der erstaunlich schlanken Figur, aufgedunsen und sein Haarschnitt sah aus wie der von Heino in Dunkelbraun. Er stellte mir seine bolivianischen Begleiter vor, die mich beiläufig grüßten und dann wieder ihr Augenmerk auf die Szene auf dem Platz richteten. Es waren eine gut aussehende, groß gewachsene Frau und zwei kleinere Männer mit Brille, ihre Namen hatte ich kurz nach der Vorstellung bereits wieder vergessen.
Mittlerweile war von der anderen Seite des Platzes tatsächlich die Polizei eingetroffen, allerdings in nur geringer Mannzahl und nicht mit der nötigen Ausrüstung - es waren gerade mal drei Autos einfacher Streifenpolizisten. So dauerte es auch nicht lange, bis der erste Polizist seine Packung ins Gesicht bekommen hatte, und zwar von den Jugendlichen, die im Großen und Ganzen den gewaltbereiteren Eindruck machten. Die Polizisten zogen ihren Kollegen hektisch beiseite, ein anderer schrie in seinem Auto ins Funkgerät.
Nach weiteren fünf Minuten kamen vier Kleinbusse mit martialisch ausgerüsteten Polizisten, die mit Schildern und Schlagstöcken vor allem die Gewerkschafter bearbeiteten. Sie schienen fast eine gemeinsame Gruppe mit der Unión Juvenil Cruceñista zu bilden. Weitere drei Kleinbusse fuhren vor. Den Polizisten gelang es schließlich, drei Gewerkschaftler aus dem Kern der Gruppe zu reißen, sie unter ihrem wilden Schlagstockkonzert, das in alle Richtungen ging, zur Bullenwanne zu zerren und sie dort hineinzuprügeln.
Es tauchten jetzt noch mehr Streifenpolizisten auf, die es schafften, die nun ängstlicheren, ihrer Führer beraubten Gewerkschaftler in eine Seitenstraße neben die Kathedrale abzudrängen. Die etwa zweihundert Gewerkschaftler waren jetzt in der engen Straße von den Jugendlichen durch die Streifenpolizisten getrennt. Ein intelligenter Schachzug der Polizisten!, dachte ich mir. Aufgrund der Inhaftierung ihrer Führer fingen die Gewerkschaftler an, sich zurückzuziehen und sich weg vom Platz in die Altstadt zu zerstreuen. Die Unión Juvenil Cruceñista auf dem Platz stimmte laute Sprechchöre an. In Anbetracht ihrer Überlegenheit und des Sieges über die Gewerkschaftler gesellte sich deutlich mehr Volk zu ihnen und skandierte lauthals mit. Die Sprechchöre riefen Parolen für das ›Ja‹ zur Autonomie, gegen Evo Morales, gegen den Sozialismus, gegen den venezolanischen Einfluss auf ihr Land.
Mathias wandte sich wieder mir zu. »Die haben den kompletten Arsch offen, das sind Faschisten.«
»Die Jugendlichen?«
»Ja, die werden von ihren Eltern aufgehetzt und machen an ihrer Statt die Drecksarbeit. Am Montag sind die alle wieder an ihrer amerikanischen Eliteuniversität und machen den Dicken.«
»Prahlen von ihrer Aktion?«
»Klar, das sind die Söhnchen der erzkonservativen Familien von Santa Cruz. Kennst du das ›Almendra‹?«
»Ein Restaurant?«
»Klar, da kriegt man gutes europäisches Essen. Nach drei Jahren hier kann ich kein Fleisch mehr sehen.«
»Ich kenne nur die Casona und das Los Hierros.«
»Das Los Hierros ist gut, aber wie gesagt, mir zu fleischbasiert. Die Casona ist von der Loge, da gehe ich nicht hin.«
»Freimaurer?«
»Genau.«
Er verabschiedete sich laut lachend von seinen Begleitern, ich mich beiläufig ebenfalls. Wir verließen das Lokal, er war auf dem Weg nach unten mit seinem Handy beschäftigt und schickte vermutlich SMS.
Das Almendra befand sich, ähnlich wie die Casona, in einem historischen Gebäude mit Innenhof. Der war nicht so hübsch hergerichtet wie der in der Casona, aber immerhin angenehm kühl, denn die Mittagshitze war erdrückend. Wir setzten uns und bestellten Bier. Mathias war seit jeher ein strammer Trinker. Mich hatte immer beeindruckt, dass er wild durcheinandertrinken konnte und überhaupt keine Katerprobleme hatte. Die Essenskarte war vorwiegend vegetarisch und pastaorientiert. Ich nahm einen Auberginenauflauf, er irgendein Pastagericht mit Tomatensauce.
»Du warst doch immer ein Fleischliebhaber, was ist passiert?«
»Gicht. Ich habe das vor drei Jahren bekommen, wahrscheinlich im Zuge dessen, was mir mit Gary Webb passiert ist. Ich hatte mit ihm ein Buch über die Dark-Alliance geschrieben. Das war zu der Zeit, als wir das letzte Mal Kontakt hatten.«
»Was war die Dark-Alliance noch gleich?«
»Nachdem wir Ecuador verlassen hatten, habe ich eine Zeit lang als freier Journalist für den Spiegel geschrieben. Dann traf ich auf Gary Webb, kennst du ihn?« Ich verneinte.
»Der arbeitete seit den frühen Neunzigern an einem Buchprojekt, in dem er die Verwicklung der CIA in den Drogenhandel der nicaraguanischen Contras aufklären wollte. Mich interessierte das brennend, die Arbeit in Deutschland lief nicht so, wie ich wollte. Ich bin ja seit jeher international ausgerichtet mit Schwerpunkt Lateinamerika. Für den Spiegel musste ich sehr deutschlandpolitische Themen analysieren. Rentenkassen, Versicherungsfonds, Politikerporträts, die Grünen … Gary mochte mich und bot mir an, einen Teil der Recherchearbeit für sein Buch zu erledigen. Er ging sehr vorsichtig und langsam vor. Wir reisten ein paarmal gemeinsam nach Nicaragua. In die USA bin ich nie eingereist, das übernahm er, hielt sich aber die meiste Zeit in Panama-City auf, wo ich ein kleines Büro mit ihm teilte. Wir reden so von den Jahren 1997 bis 2000. Alles klappte ganz gut und gegen Abschluss der Recherchearbeit war nach anfänglichen Zweifeln auch mir klar geworden, dass die von der CIA organisierten Contras ihre Aktivitäten tatsächlich durch Kokainverkauf finanzierten, der von der US-Regierung geduldet wurde.
Der ganze Koks wurde vor allem in der Gegend um Los Angeles unter die Leute gebracht. Wichtigster Kunde war der größte Dealer in den Ghettos, der dann auch die erste große Crackwelle an der Westküste auslöste. Du kennst die Berichte aus den späten Achtzigern, als das Zeug in Mode kam. Die ursprünglich auf Los Angeles beschränkten Banden ›Crips‹ und ›Bloods‹ konnten mittels ihrer Gewinne aus dem Crack-Verkauf auch in anderen Städten Fuß fassen und den Crack-Konsum auch dort in den Vierteln der Schwarzen verbreiten, so dass aus einem schweren regionalen Problem ein massives nationales Problem wurde. Die US-Regierung und die großen Medien hatten diese Verbindung immer bestritten.«
»Klingt ja brandheiß. Und gefährlich, hast du dir darüber nie Gedanken gemacht?«
»Klar, vor allem, als es ans Schreiben ging. Ich war mehr auf die Zusammenhänge in Nicaragua und Mittelamerika konzentriert, während Gary die US-Themen abdeckte. Federführend war er, und als ich ihm die Aufarbeitung meiner Recherchen übergab, brach unser Kontakt ganz plötzlich ab. Meine Bezahlung sollte beim Erscheinen des Buches abgewickelt werden und ich wurde nach seinem Abtauchen zunächst deswegen nervös. Ich hatte ja immerhin drei Jahre vom eigenen Ersparten gelebt.«
»Das ist ja nicht wenig, dein Vater ist stinkreich.« Er besaß mehrere Apotheken in Hamburg.
»Red' keinen Scheiß, ich würde meinen alten Herrn nicht anpumpen, das war noch nie meine Art. Außerdem weißt du, wie er als Konservativer zu meiner Einstellung und Arbeit steht.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Also, Gary war plötzlich weg, ich bin dann nochmal nach Panama geflogen, um im Büro meine Sachen zu holen, das Büro gab es aber nicht mehr. Also das Gebäude war da, aber keine Spur von meinen und seinen Sachen. Viel war es nicht, aber eben das Zeug, das sich so in einem Büro ansammelt, Papier und Ordner halt. Da wurde ich dann langsam echt nervös. Ich reiste zurück nach Deutschland und vernichtete alles, was sich von der gemeinsamen Arbeit dort angesammelt hatte. Die Festplatten wurden verbrannt. Von den Kollegen in Deutschland wusste keiner, an welcher Story ich mit Gary gearbeitet hatte.
Von Gary selbst erhielt ich ein Jahr lang keinerlei Nachricht. 2002 schließlich erhielt ich eine E-Mail von ihm, die von einem russischen Server abgeschickt war. Sie enthielt nur einen Satz, ohne Gruß, ohne Namen: ›Et in Arcadia ego‹.
»Latein, was bedeutet das?«
»Und ich bin in Arkadien. Ich rätselte eine ganze Zeit, was das bedeuten sollte, fand es aber nie heraus. Sechs Monate später wurde Gary in einer Wohnung in Miami mit einem Kopfschuss von hinten getötet, ich erfuhr es aus der amerikanischen Presse. Da wusste ich, dass es Zeit ist abzutauchen. Ich wählte das östliche bolivianische Tiefland und das angrenzende Brasilien als Versteck.«
»Du bist also praktisch seit fünf Jahren hier in Bolivien?«
»Ja, es war aus meiner Perspektive der beste Ort, um mich vor den Amerikanern zu verstecken, denn ich musste mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die von meiner Mitwirkung an Garys Arbeit wussten. Bolivien war damals der beste Ort, um unterzutauchen, weil gerade Evo Morales an die Macht gekommen war und die Amerikaner es zunehmend schwer hier im Lande hatten. Vor einem Jahr wurde der US-Botschafter des Landes verwiesen. Die Amerikaner mussten ihre ganze Präsenz hier im Land reduzieren und neu definieren. Ich reiste über die grüne Grenze von Brasilien aus nach San Ignacio de Velasco und fing dort als Moto-Taxifahrer an zu arbeiten.«
»Ist ja irre. Da fange ich jetzt auch an, zu arbeiten. Bist du noch vor Ort?«
»Nein, nach einem Jahr wagte ich mich wieder raus und bin nach Santa Cruz gezogen. Ich hielt still, wartete ab und machte dort ein weiteres Jahr erst mal gar nichts, außer ziellos durch die Gegend zu laufen, zu saufen und Weiber abzuschleppen. Ich weiß nicht, ob ich entdeckt oder beschattet wurde oder werde. Da aber langsam Zeit ins Land gezogen ist, fühle ich mich allmählich außer Gefahr. Natürlich konnte ich den investigativen Journalismus nicht sein lassen und bin mittlerweile an einer neuen, ziemlich heißen Sache dran. Aber dazu später. Wie ist es bei dir gelaufen? Mann, mir tut es leid, dass ich nichts mehr von mir hab hören lassen …«
»Macht nichts, nachdem, was du mir gerade erzählst, ist es ja mehr als verständlich. Schön, dass dir deine Fickerei nicht zum Verhängnis wurde.«
»Das war teilweise schon etwas gewagt, aber ich musste so viele Annehmlichkeiten sausen lassen, das jedoch wollte ich nicht sein lassen.« Er lachte laut. »Außerdem hab ich viel zu viel gesoffen, vor allem in der Zeit in Santa Cruz, in der ich absolut nichts unternehmen konnte. Und jetzt die Gicht.«
»Du hast schon immer gesoffen.«
»Ja, aber nicht so wie in jener Zeit.« Er lachte lauter.
»Bei mir lief es deutlich provinzieller. Ich hab die Beratungsarbeit bei meinem Vater aufgegeben und zeitgleich ist mir meine Ehe um die Ohren geflogen. Ich musste raus aus dem ganzen Szenario und habe den Job hier für den DED angetreten. Klingt banal im Vergleich zu deiner Räuberpistole.«
»Manchmal wünsche ich mir öde Normalität, aber nur so als Wunsch, ich könnte sie nie ertragen, wie du dir vorstellen kannst.«
»Kann ich mir vorstellen. Ich musste ja auch raus. Ich konnte Irís und das Zusammenleben mit ihr nicht mehr ertragen. Obwohl sie es war, die mich schließlich zuhause rausgeschmissen hat.«
»Ich konnte sie nie leiden, das weißt du. Ich habe dir immer gesagt, Ihr passt nicht zusammen.«
»Stimmt, aber was hätte ich tun sollen, ich habe sie geliebt.«
»Und die Kinder?«
»Sind bei ihr und vermutlich enttäuscht und traurig, dass ich weg bin.«
»Trotzdem, die richtige Entscheidung. Bei deinem Temperament hättest du da nur noch mehr Schaden angerichtet. Streit ohne Ende, vor den leidenden Kindern, die ganze Palette hättest du gebracht. Habt Ihr gar keinen Kontakt?«
»Nur Finanzielles, per E-Mail. Mit den Kindern maile ich und telefoniere. Hab mich seit der Ankunft in La Paz aber auch nicht mehr bei ihnen gemeldet.« Ich würde sie noch heute anrufen, dachte ich plötzlich mit schlechtem Gewissen.
»Und dein Job hier, aus was besteht der?«
Ich berichtete ihm, was ich wusste und von Tomás' Vortrag verstanden hatte.
»Na, da mach dich mal auf was gefasst. San Ignacio ist ganz hübsch, aber du begibst dich auf eine Reise ins Mittelalter. Du furzt und das ganze Dorf weiß es. Der Bürgermeister ist aber ganz in Ordnung. Ein korrupter Spruchbeutel, aber das sind sie hier letztlich alle. Er vögelt junge Indianerinnen und ist machtbesessen. Er hat sich bei der Finanzierung der Ausbildung seiner Kinder ziemlich aus dem Fenster gelehnt und muss noch ein bisschen an der Macht bleiben, um noch Reserven fürs Privatisieren beiseitezuschaffen. Mit dem hab ich aber auch schon ordentlich einen gehoben. Das Problem hier ist, dass die Leute hier, wenn sie saufen, immer bis zum Umfallen saufen. Die kennen keine Bremse. Die scheißen und pissen sich dann auch regelmäßig in die Hose.« Er lachte wieder und ich musste jetzt auch lachen und erinnerte mich an die Zoten, die wir in Ecuador damals gerissen hatten. Stockbetrunken die Polizeistreife abgehängt, Schlägereien in Diskotheken, Fluchten durch Hinterhöfe und über Häuserdächer …
»Wir waren jung und wild und hatten noch diesen Erlebnisdurst. Lateinamerika versprach das große Abenteuer und hat es auch gehalten. Ich habe unsere Zeit später in Deutschland immer vermisst.«
»Ich habe diesen Erlebnisdurst noch immer. Aber du musstest ja Irís heiraten.«
»Sie war schwanger und mir schien es sinnvoll, eine Familie zu gründen. Immerhin habe ich zwei Goldkinder. Das Altern würde mich erschrecken, wenn ich keine hätte.«
»Keine Ahnung, ob ich welche habe.« Er lachte laut.
Das Essen kam, mein Auflauf war ganz gut, aber meiner Meinung nach fehlte irgendetwas. Seine Pasta schien ihm zu schmecken. Er bestellte Reibekäse und noch zwei Bier. Der Hinterhof war im Vergleich zur Straße angenehm kühl, auch wenn dort immer noch um die 30°C herrschten. Nach schweigsamem Essen meinte er:
»Ich muss langsam los, was machst du heute Abend? Wir haben uns noch viel zu erzählen.«
»Äh … keine Ahnung, hast du eine Idee?«
»Wir können essen gehen und dann was trinken.«
Ich wusste, was das hieß, mit ihm einen trinken gehen, ließ mich aber darauf ein. Wir bezahlten und gingen Handynummern tauschend auf die Straße und vereinbarten, uns gegen Abend anzurufen. Wir umarmten uns herzlich.
Es war drei Uhr nachmittags und ich machte mich auf ins DED-Büro, das ich zu Fuß in zwanzig Minuten erreichte. Es war merkwürdig leer, keine Spur von den ganzen jungen Leuten vom Vortag. Christina war die Einzige im Büro und ich setzte mich zu ihr an den Schreibtisch, um die Modalitäten der Autoübergabe am kommenden Tag zu besprechen.
»Da gibt es für dich eigentlich wenig zu tun. Ich habe gestern die Autoversicherung beantragt und die wird morgen hier eingehen. Ich habe dein Fahrtenbuch schon fertiggemacht. Du musst jede, wirklich jede Fahrt da eintragen, auch wenn du nur zum Krämerladen an der Ecke fährst.«
»Warum so rigide? Immerhin ziehen die mir ja zweihundert Euro vom Lohn ab für das Auto.«
Sie zuckte lächelnd mit den Schultern. »Was der DED beschließt, kann ich nicht beeinflussen. Ich denke, die haben das gemacht, weil so viele Entwicklungshelfer mit dem Privatgebrauch übertrieben haben. Aber ich sag dir im Vertrauen: Du kannst dir da jede Menge Fahrtziele ausdenken, die so klingen, als wäre es mit deiner Arbeit verbunden. Am Ende muss nur der Kilometerstand mit dem Eingetragenen übereinstimmen.« Sie lachte.
»Und die Rechnungen musst du sauber aufbereiten, aber das habe ich dir ja schon erklärt.«
»Wann soll ich denn morgen kommen, um das Auto zu holen?«
»Am besten am Nachmittag. Eigentlich sollte die Versicherung morgens kommen, aber, hombre, ich schwöre dir, dass ich denen wieder hinterhertelefonieren muss. Mit Glück habe ich die Versicherung am späten Vormittag.«
»Ans Losfahren ist dann wahrscheinlich nicht mehr zu denken?«
»Du würdest es nicht mehr schaffen, vor Sonnenuntergang in San Ignacio anzukommen. Du könntest höchstens losfahren und dann in Concepción übernachten. Das ist etwa auf halber Strecke.«
»Warum eigentlich das Nachtfahrverbot?«
»Es gab zu viele Unfälle bei Nachtfahrten. Auch Überfälle. Du wirst dich dran gewöhnen müssen, das Leben hier ist gefährlicher als in Europa. Ein Entwicklungshelfer wurde entführt und dann umgebracht. Das war vor zehn Jahren und Bolivien ist seitdem eher wilder geworden, als dass es sich beruhigt hätte.«
Ich ließ mich wenig beeindrucken, ich hatte zum damaligen Zeitpunkt bereits fünf Jahre Lateinamerikaerfahrung, war noch nie überfallen worden und hatte auch bei Nachtfahrten keinen Unfall gehabt.
»Ich werde mich dran halten und aufpassen. Wer ist denn die junge Französin, die hier gestern in der Bibliothek war?«
»Ah, Odile? Sie ist Frankokanadierin. Aber sie lebt seit fünfzehn Jahren in Frankreich. Tomás hat sie hier hergebracht, damit sie mit Leuten aus dem Konfliktbereich zusammenkommt. So für den Gedankenaustausch. Tomás kennt ja Gott und die Welt, er ist unheimlich vernetzt mit allem und jedem.«
»Sie schreibt ein Buch, habe ich gehört.«
»Dann weißt du ja doch schon was über sie.« Sie lächelte verschmitzt.
»Ja, ich habe gehört, sie sei Journalistin.«
»Dann halt dich mal ran, du kannst davon ausgehen, dass alle Männer hier im Büro sie attraktiv finden. Ich habe die Kommentare von Tomás' Kollegen gehört.«
»Sie ist sehr attraktiv.«
»Ist sie, hombre, und sie hat ziemlich was drauf. In Frankreich ist sie der Shootingstar im investigativen Journalismus.«
»Naja, mal sehen …« meinte ich.
Wir redeten noch über Gehaltszuschüsse, die ich bekommen sollte, vor allem fürs Wohnen, aber auch für Büroausstattung. Dann verabschiedete ich mich und spazierte zurück ins Hotel. Auf dem Rückweg kaufte ich ein paar Bier und trank gleich das Erste auf dem Weg. Es war vier Uhr nachmittags und krachheiß. Die Sonne stand bereits tief und tauchte den Horizont in ein diesiges, flirrendes Orangerot.
Im Hotel trank ich noch zwei Bier und war dann in der Lage, Odile anzurufen.
»Salut,« meinte sie, »schön, dass du anrufst.«
»Ich freue mich auch, dich zu hören. Wie geht's dir?«
»Immer noch gut.« Sie lachte. »Wann fährst du los?«
»Ich fahre übermorgen, wie ist es bei dir?« fragte ich schnell. »Kommst du mit?«
»Ja, gerne. Kennst du die Strecke?« meinte sie, ich freute mich bereits.
»Nein, ich bin ja gerade erst angekommen. Aber Christina hat sie mir genau beschrieben und erklärt, wo ich langfahren soll.«
»Prima, ich kenne die Strecke auch nicht. Aber zu zweit packen wir das schon.«
Ich mochte ihre dunkle Stimme, die nichts Mädchenhaftes hatte und immer irgendwie rau klang, vermutlich vom Rauchen.
»Es war nett gestern mit Tomás.« meinte ich.
»Sehr nett, ich mag ihn gerne. Er kann sehr lustig sein. Und er hilft mir sehr.«
»Was machst du denn heute Abend? Wir könnten noch mal was essen gehen?«
»Tomás hat mich zu sich eingeladen.«
»Ah so. Ihr scheint ja unzertrennlich.«
»Er möchte mir seine Familie vorstellen. Seine Frau soll sehr nett sein. Er hat zwei kleine Kinder.« Ich war erleichtert, dachte jedoch sofort daran, wer denn sonst noch so hinter ihr her sein könnte. Ich spann komplett.
»Prima, wie verbleiben wir?«
Wir vereinbarten, uns übermorgen um neun Uhr morgens zu treffen. Der Verlauf des Gesprächs hatte mich trotzdem enttäuscht, ohne dass ich genau wusste, was ich erwartet hatte. Vielleicht eine Liebeserklärung? Wahrscheinlich war es das. Ich war zu ungeduldig, wie immer.
Mir fielen meine Kinder ein, viel zu spät, denn es war bereits sechs Uhr abends und in Deutschland dementsprechend bereits zwölf Uhr nachts. Ich beschloss, sie morgen früh anzurufen. Ich rief Mathias an, aber der antwortete nicht. Ich sah eine Weile fern und versuchte noch ein paarmal, ihn zu erreichen, aber er ging nicht ans Handy. Um acht Uhr ging ich runter auf die Straße, um in einer Pizza-Slut-Filiale eine Pizza con Kacke zu bestellen, so zumindest hätte ich sie genannt, beschissen, wie sie schmeckte. Ich aß nur ein Stück und verließ den Nepp-Laden.
Wieder im Hotel rief ich Mathias erneut an, ich hätte ihn gerne nochmal gesehen vor der Abfahrt, er antwortete nicht. Ich würde es am nächsten Tag nochmal versuchen. Ich sah noch fern und schlief dann mit Hilfe zwei weiterer Biere ein.
Am folgenden Morgen raffte ich mich wieder auf, durch die Stadt zu tigern. Ich bekam wenig neue Eindrücke, außer, dass Santa Cruz zur Peripherie hin immer dreckiger wurde. Überall huschten leere Plastiktüten über die Straßen und die Kanalisation stank. Der heiße Wind wirbelte den Sand auf, der sich wie ein Schleier über die gesamte Peripherie und meine Haut zu legen schien. Der Tag war heißer als der vorige, so dass es bereits am Vormittag unerträglich war, in der Sonne zu laufen.
Ich drang bis zum vierten Ring vor, wo zwar immer noch viel Verkehr herrschte, aber trotz dichter Bebauung nur noch wenige Passanten unterwegs waren. Mittags aß ich etwas in der Casona und dachte über Mathias' Kommentar zur Loge nach. Tomás hatte erwähnt, dass Klaus Altmann alias Barbie Chef irgendeiner Großloge von Santa Cruz gewesen sei.
Danach rief ich meine Kinder an, die mir Vorwürfe machten, dass ich mich vier Tage nicht gemeldet hatte. Ich gab ihnen recht, ich vermisste sie sehr. Nach dem Gespräch fühlte ich mich aber auch wieder in den Trennungsschlamassel meiner Abreise zurückversetzt. Ich war - trotz aller Ferne zu meinen Kindern – froh, in Bolivien zu sein. Mir tat die Distanz gut und wahrscheinlich hatte Mathias recht gehabt, als er sagte, dass ich hier weniger Schaden anrichten würde.
Den Nachmittag verbrachte ich fernsehend im Hotelzimmer und checkte meine Mails. Ich hatte eine Mail von Peter Dijkstra. Er kündigte mir seinen baldigen Besuch in San Ignacio an, bei dem wir eine genaue Planung meiner Arbeit erstellen würden.
Weitere Anrufe bei Mathias führten zu keinem neuen Ergebnis. Ich ließ es sein und dachte mir, er würde sich irgendwann melden. Tomás antwortete ebenfalls zunächst nicht, meldete sich aber am Abend. Er wusste bereits, dass ich mit Odile nach San Ignacio reisen würde, und freute sich darüber. Er erwähnte, dass sie gestern bei ihm zum Essen war und dass es sehr nett gewesen sei. Er meinte, sie sei eine ganz besondere Frau.
Ich versuchte früh schlafen zu gehen, konnte aber schlecht einschlafen. Ich hatte Bauchschmerzen, vermutlich von der Pizza am Vorabend. Ich trank die drei Mini-Whiskys der Minibar aus, was etwas Erleichterung brachte.
Am nächsten Morgen ging ich ins Büro, um den Dienstwagen in Empfang zu nehmen. Ich kam um zehn Uhr an, die Versicherungspapiere waren natürlich noch nicht eingetroffen. Dafür aber mein zukünftiger Mitbewohner Wilson Mendoza. Ich unterhielt mich gerade mit Christina, als er unvermittelt die Tür zum Büro aufriss.
»Chris, hast du meine Abrechnung von vor zwei Wochen fertiggemacht und nach La Paz geschickt? Ich habe mein Geld immer noch nicht bekommen!«
»Du musst dich an Anneliese San Martín wenden. Ich habe das selbstverständlich abgeschickt.«
»Ich habe gleich eine Telefonkonferenz mit Peter, das ist sehr wichtig.« Er sagte das sehr druckvoll und aus dem Zusammenhang gerissen, fast schwul. Er war mittelgroß, etwa wie ich, krause Haare, vermutlich am ganzen Körper. Er wirkte wie ein Jahrmarktringer. Vielleicht hat Harry Houdini so ausgesehen, ihm fehlte nur der gezwirbelte Schnurrbart. Seine Augen waren weit aufgerissen, nicht wie auf Drogen, sondern wie die von Menschen, die immer Aufmerksamkeit und Präsenz vermitteln wollen, nach dem Motto: Ich schaue allen tief in die Augen.
»Das hier übrigens ist Robert, der auch in San Ignacio arbeiten wird. Robert, das ist Wilson, ich habe dir schon von ihm erzählt.« stellte Christina uns vor. Er machte zwei Schritte auf mich zu und schüttelte mir die Hand und strahlte übers ganze Gesicht.
»Hombre, endlich angekommen! Ich habe dir ein Zimmer bei uns im Haus reserviert. Du ziehst doch bei uns ein, oder?«
»Klar, ich wüsste sonst nicht, wohin.«
»Ich bin zwar jetzt ab morgen drei Wochen im Urlaub, aber ich habe dir einen Schlüssel kopiert. Im Moment ist nur Manuel dort, ein junger Kolumbianer, der vor zwei Wochen angekommen ist.« Er nestelte einen einzelnen Schlüssel aus der Minitasche seiner Jeans und drückte ihn mir in die Hand.
»Danke Wilson, sehr nett. Was kostet es denn monatlich?«
»Neunzig Dollar mit allem Drum und Dran, Zugehfrau, Internet, Strom und Wasser. Das Haus ist top, dir wird es gefallen.«
»Wer wohnt denn alles im Haus?«
»Das Haus hat vier Zimmer und eine kleine Hütte für die Angestellten. Da ist David untergebracht. Ansonsten wohnt da noch Marcela, die ist aber auch gerade auf Urlaub in La Paz. Ich habe aber mit Manuel gesprochen, er zeigt dir alles.« Dieser Manuel wohnte offensichtlich auch dort. Wilson gehörte zu der Art Leute, die wie selbstverständlich die Namen Dritter erwähnten, obwohl eigentlich klar sein musste, dass der Zuhörer diese nicht kannte.
»Klasse, Wilson, wie finde ich das Haus, wenn ich in San Ignacio ankomme?«
»Kein Problem, ich geb dir die Handynummer von Manuel, den rufst du an, wenn du angekommen bist. Ich selber komme in drei Wochen wieder, ich treffe mich in Argentinien mit meiner deutschen Freundin, die arbeitet dort als Krankenschwester.« Er strahlte mich an und gab mir die Handynummer von Manuel, ich speicherte sie. »Schön, dass du da bist, willkommen!« Er umarmte mich tatsächlich. Das war mir zu spontan, das Willkommen war ein paar Spuren zu freundlich, so blieb ich bei der Umarmung ein bisschen steif. Er strahlte weiter, sein Mund war riesig, die Zähne weiß, er stank aus dem Maul.
»Klasse Wilson, so werd ich das machen.«
»Super, dann sehen wir uns, wenn ich zurückkomme. Entschuldige mich bitte jetzt, gleich ruft Peter an, ich skype mit ihm über mein Buch. Es ist fast fertig, ich muss nur noch ein paar Korrekturpunkte mit ihm durchgehen.«
»Mach das, Wilson, klingt ja toll. Alle erzählen von eurem Buch.«
»Wir haben damit viel erreicht, das stimmt. Wenn du willst, kannst du ja mal den Lektor machen. Viel verändert wird allerdings nicht mehr.«
»Das kann ich mir vorstellen, scheint ja ein bedeutendes Werk zu werden, ich meine für die Indianer und so.«
»Das kannst du laut sagen. Die Recherchearbeit war brandgefährlich. Mein Leben war in Gefahr, ich wurde mehrfach bedroht.«
»Ach du Scheiße, von wem denn?«
Er schaute sich um und sprach nun leiser. »Das erzähl ich dir, wenn ich zurück bin. Es ist komplex und man muss höllisch aufpassen. Ich will dich nicht in Gefahr bringen.«
»Das ist aber nett von dir, Wilson.« Er war mir nicht völlig unsympathisch, aber ernst nahm ich ihn nicht. Trotz seiner Eitelkeit schien er mir aber relativ offen zu sein. Er verließ Christinas Büro mit einem Wink und einem verschmitzten Lächeln.
»Er ist sehr angespannt von der Arbeit an seinem Buch.« meinte Christina.
»Scheint so, aber er ist ein netter Kerl.«
»Ooh, Wilson ist ein Schatz!«
Die Türglocke klingelte und Christina drückte den Türöffner.
»Da kommen die fehlenden Papiere für dein Auto.«
»Super, dann wären wir ja so weit?« fragte ich.
»Ja, eigentlich schon. Ich rufe dir Franco, den Laufburschen hier, der wird dir das Auto zeigen, während ich hier alles fertigmache.«
Was mir zunächst banal erschien, war gar nicht so ohne, denn die Sicherheitsvorkehrungen im Auto waren massiv. Die Motorhaube ging nur auf, wenn man irgendwo im Autoinneren einen kleinen Schlüssel reinsteckte, die Alarmanlage hatte zwei Tasten, die man mehrmals drücken musste, um verschiedene Absicherungsstufen einzustellen, und es gab ein Schloss, das den Gangschaltungshebel blockierte. Außerdem gab es einen Spezialschraubenschlüssel, der dazu diente, eine Sicherheitsmutter an den Felgen zu lösen und nicht verloren gehen durfte. Franco war ziemlich Banane, aber ansonsten ganz nett.
Dann kam Christina zu uns und gab mir die Autopapiere und das Versicherungszertifikat, beides musste immer im Auto sein. Als wir fertig waren, sah ich Wilson das Gelände verlassen und winkend einen verstaubten alten Toyota-Pickup besteigen, dessen Karosserie an mehreren Stellen eingedellt war. Als er mich neben meinem nagelneuen Auto stehen sah, schaute er nicht mehr so freundlich drein. Ich startete den Jeep und Franco öffnete mir das Tor zur Ausfahrt. Durchs Autofenster bekam Christina ihren Abschiedskuss und los ging es.
Das Auto hatte fünfzig Kilometer auf dem Zähler, war gut gefedert und hatte Drehmoment. Ich fuhr zum Hotel, parkte im Patio und ging auf mein Zimmer. Es war elf Uhr morgens und ich hatte große Lust, in Richtung San Ignacio loszufahren. Es gab in Santa Cruz nicht mehr viel zu tun. Also rief ich Odile an, um sie zu fragen, ob es ihr passen würde, bereits heute loszufahren. Sie ging gleich an den Apparat, hatte aber noch ein wichtiges Date am Nachmittag und konnte erst morgen losfahren. Ich versicherte ihr, dass es kein Problem sei und wir vereinbarten, dass sie am kommenden Morgen ins Hotel Continental kommen würde, da es schwierig sei, ihre Wohnung zu finden. Ich kannte mich ja nicht aus, wie sie richtig feststellte.
Den Rest des Tages verbrachte ich damit, meine Kinder anzurufen, im Supermarkt ein paar Sachen einzukaufen, von denen ich glaubte, dass ich sie in San Ignacio nicht kriegen würde: Olivenöl, Ohrenstäbchen, schwarzen Tee, Räucherspeck, Käse und Küchentücher, außerdem ein Sixpack Weißwein im Angebot. Das Abendessen ließ ich ausfallen, die Nachwirkungen der Pizza waren immer noch nicht verflogen, ich hatte nicht mal Lust, zu onanieren.
Noch am Abend zahlte ich die Hotelrechnung und den überraschend hohen Konsum aus der Minibar. Ich verließ das Hotel abends nochmal, um eine Flasche guten Rum zu kaufen. Ich würde ihn auf der Reise brauchen können und außerdem wollte ich die Minibar nach dem Bezahlen der Rechnung nicht weiter strapazieren.
Odile rief mich wie vereinbart um neun Uhr morgens aus der Hotellobby an. Ich war schon aufgestanden, hatte schon gefrühstückt und mein Gepäck ins Auto gebracht. Ich kam runter, sie sah toll aus. Im Gegensatz zum letzten Treffen war sie leicht geschminkt und hatte ein schweres, orientalisch riechendes Parfum aufgetragen. Unter ihrer Bluse wogte ihr großer Busen, der meine Brust beim Begrüßungskuss berührte. Ich bekam sofort einen Harten. Sie zuckte zurück, als sie spürte, wie ich meine Hände beim Wangenkuss auf ihre Hüften legte. Das tat ich allerdings ohne Hintergedanken. Ich tat das fast immer, keine Ahnung warum, es schien mir anatomisch zwingend.
Sie hatte ziemlich viel Gepäck, das wir zu zweit ins Auto verfrachteten. Vor dem Losfahren studierte ich nochmal kurz die Karte. Ich hatte bereits am Vorabend mit Kugelschreiber die nicht unkomplizierte Strecke aus Santa Cruz hinaus markiert, die ich dann auch durch den immer wieder stockenden Verkehr fand.
Wir kamen vom vierten Ring auf die Ausfallstraße in Richtung Chiquitania, die etwa fünfzehn Kilometer durch die äußere Peripherie von Santa Cruz führte. Wir ließen mehrere Schlachthöfe und deren Gestank hinter uns. Die Straße war gesäumt von unzähligen kleinen Geschäften, Schnapsläden und Restaurants, die den Abreisenden alle dasselbe darboten. Schließlich lockerte die Bebauung auf, es kamen jetzt moderne Urnenfriedhöfe für Bessergestellte, Pflanzenölraffinerien und Privatcolleges. Immer wieder tauchten breite Einfahrten mit schmiedeeisernen Gittern auf, Anfahrten für weit abseits liegende Herrenhäuser, die teils sichtbar waren, teils nur erahnt werden konnten. Sie hatten etwas Morbides, Geisterhaftes. Manche Anwesen waren augenscheinlich verlassen. Als sie gebaut wurden, lag die ganze Gegend noch weit außerhalb von Santa Cruz. Das massive Wachstum der letzten Jahrzehnte hatte sie eingeholt.
Danach wurde es ländlich, wir durchfuhren mehrere kleine Weiler, die aus Holzhütten oder schlecht gebauten Lehmkonstruktionen bestanden. Die Luft war heiß und staubig. Als wir die lange Stahlbrücke über den Río Grande überquert hatten, taten sich riesige Agrarflächen mit Sonnenblumen- und Sojapflanzungen auf. In den kommenden Weilern fielen mir unter den indianischen Passanten immer wieder Weiße auf, die im amerikanischen Farmerlook der Fünfziger gekleidet waren. Odile erklärte mir, dass es sich um Mennoniten handele, die aus den USA und Kanada nach Bolivien einwandern, weil sie hier ihre Religion und Eigenarten besser leben könnten und das Land billig sei. Wir hatten aber insgesamt wenig gesprochen, seit wir Santa Cruz verlassen hatten.
»Die Frauen sehen ja aus wie aus dem Biedermeier!« meinte ich.
»So sind sie auch drauf. Aber mir wurde gesagt, dass die auch schon lockerer werden. Vor zehn Jahren waren Autos noch Teufelswerk, die hatten noch nicht mal Traktoren. Jetzt fahren sie mit agrarischer Großmaschinerie rum, wie du siehst.« Wir überholten ein fast zweistockwerkhohes, spinnenartiges Agrargefährt, das breiter war, als die rechte Spur der Straße. In der Kanzel saß ein kurzgeschorener Mennonit mit Söhnchen auf dem Schoß.
»Was bauen die an?«
»Offensichtlich das, was wir hier sehen - Sonnenblumen und Soja. Aber im Grunde wollen die autark sein, also möglichst alles selber herstellen. Sie sind auch involviert in Landkonflikte mit den Indianern.«
»Weil sie denen das Land wegnehmen?«
»Nicht direkt. Als die ankamen, war ihnen vermutlich nicht so klar, wie das legal hier läuft, und haben für gutes Geld faule Landtitel gekauft. Viele Ländereien lagen teils auf Indianergebiet. Die Mennoniten fühlen sich jetzt zu Recht betrogen und wollen nicht vom ihrem Land runter.«
»Wie gefällt dir Bolivien so?« fragte ich nach einer Weile. Odile wirkte abwesend und ernst.
»Ganz gut. Schön ist das Land, ja. Mir kommt es aber sehr wild vor. Es scheint, als wäre jederzeit alles möglich. Politische Umschwünge, Straßenschlachten, Verkehrsunfälle. Nicht viel anders als in anderen Ländern Lateinamerikas, aber alles eine Spur roher.«
»Darf ich dich fragen, wie alt du bist?«
»Klar, ich bin fünfunddreißig, warum?« Sie wirkte irritiert, ihre Antwort war kurz.
»Warum nicht?« Ich lachte verlegen. Ich wollte mir nicht vorstellen, dass die Frage sie irritierte. Frauen soll man nicht nach dem Alter fragen, aber sie wirkte locker, also warum nicht? Aber sie schwieg und fragte mich nicht nach meinem.
Wir waren bereits zwei Stunden schweigsam durch endloses Agrarflachland gefahren, als die Gegend langsam bewaldeter und das Terrain hügeliger wurde. Die Landschaft erinnerte an die afrikanische Steppe, besonders an Abschnitten, auf denen sich große Viehweiden auftaten und auf denen vereinzelte, riesige, ausladende Bäume standen, die in ganz wunderbaren Farben blühten. Einzelne Bäume standen derart in rotorangefarbener Blüte, dass man hätte meinen können, sie stünden in Flammen.
»Du hast mir noch kein einziges Mal auf den Busen geschaut.« sagte sie plötzlich unvermittelt auf Französisch.
»Woher weißt du, dass ich französisch spreche?« Ich sprach weiter Deutsch mit ihr.
»Die meisten Männer starren mir immer auf den Busen, du nicht.«
»Genau deswegen wollte ich es nicht tun.« Sie lächelte mich kurz an und schaute dann gedankenverloren aus dem Seitenfenster. Sie lehnte sich dabei auf die Armstütze der Beifahrertür und schaute auf die vorbeiziehende Natur.
Wir erreichten eine Tankstelle und hielten kurz an. Ich tankte, kaufte eine Tüte Kartoffelchips und vier Dosen kaltes Bier. Wieder im Auto, bot ich ihr ein Bier an, sie nahm es und wir stießen an.
Nach einer Weile erreichten wir San Javier, eine der ersten von Jesuiten vor Jahrhunderten gegründeten Städte. Die Durchfahrtstraße war eng und voller Schlaglöcher. Bis zu jenem Moment war der Asphalt in keinem allzu schlechten Zustand gewesen, nun wurde es einigermaßen schwierig voranzukommen. Zwar gab es Abschnitte mit geschlossener Asphaltdecke, doch immer wieder kamen Überraschungen in Form von Schlaglochteppichen, in die man dann polternd hineinrauschte. Die Landschaft wurde jetzt immer hügeliger und war, wo sich der Wald öffnete und das Grasland freigab, mit großen, graurosafarbenen Findlingen übersät, die wie riesige Säcke aussahen. Hier bestand die Viehwirtschaft offensichtlich aus der Zucht von Wasserbüffeln, die sich auf den Weiden und in den zahlreichen Tümpeln tummelten.
»Ich habe im Internet deinen Namen gegoogelt. Auf deinem Profil bei der Universität Ulm steht, dass du etliche Jahre in Paris verbracht hast.« Ich hatte in Ulm vor Jahren versucht, zu promovieren. Die hatten vergessen, nach meiner gescheiterten Doktorarbeit mein Profil da rauszunehmen. Sie redete weiter auf Französisch.
»Warum ziehst du es vor, Französisch mit mir zu reden? Ich meine, du sprichst sehr gut Deutsch.«
»Ich fühle mich wohler, keine Ahnung. Das hat mit dir zu tun, ich spreche gerne Deutsch. Ich fühle mich aber so mehr ich selber, wenn ich mit dir rede.«
Mich überraschte ihre veränderte Art. Sie war jetzt eine andere Person als die, die ich beim Abendessen mit Tomás kennengelernt hatte. Ich war verunsichert durch ihre neue Ernsthaftigkeit. Aber ich hatte das Gefühl, dass sie mich mochte.
Nach einer weiteren Stunde erreichten wir Concepción. Es war siebzehn Uhr und es dämmerte. Ich schlug vor, dort zu übernachten, da es bereits spät war und wir bei Tageslicht nicht mehr in San Ignacio ankommen würden. Zudem endete in Concepción die Asphaltstraße, und die kommenden zweihundert Kilometer würden nur Comunidades – autochtone Indianergemeinschaften - die Straße säumen. Handynetz oder Telefonleitungen gab es dort nicht.
Odile war einverstanden, und wir suchten uns ein kleines Hotel am zentralen Platz, an dem eine dieser riesigen jesuitischen Barockkirchen stand. Der Kern der Stadt war immer noch so angelegt, wie die Jesuiten dies zu ihrer Zeit entworfen hatten. Die Häuserblocks waren zur Straße hin gesäumt von einem einzigen durchgehenden, einstöckigen Gebäude, das im Wohnungsabstand Einfahrten und Hauseingänge aufwies, es hatte etwas Kasernenartiges. Es gab keine Bürgersteige, dafür die bereits aus Santa Cruz bekannten Säulengänge vor den Häusern. Auf den staubigen Straßen aus roter Erde spielten Kinder. Wir betraten einen solchen Eingang, der uns in den Innenhof des Hotels ›Lupita‹ führte. Dieser war, ähnlich dem der Casona in Santa Cruz, mit viel Grün und indianischem Folkloretand ausgestattet. Auf einer Stange saß ein Tucán mit gestutzten Flügeln.
Da ich das Auto im Patio des Hotels parken durfte, nahmen wir nur unser Handgepäck aus dem Auto. Wir nahmen zwei Einzelzimmer, was denn sonst. Wir verabredeten uns fürs Abendessen zwei Stunden später, sie wollte sich vorher noch frisch machen und ausruhen.
Das Zimmer war einfach, ohne Klimaanlage, so dass es zu dieser Tageszeit immer noch sehr heiß war. Ich öffnete die Fenster, da es draußen bereits kühler wurde. Die notwendigen Moskitonetze bremsten den Luftaustausch aber erheblich. Ich legte mich aufs Bett und schaltete den Fernseher ein, es gab aber nur zwei Lokalprogramme. Ich schaltete ihn wieder aus. Schließlich schlief ich ein und träumte Seltsames. Ich wachte um 19.30 Uhr auf, Odile pochte an meine Tür. Ich sprang in die Jeans und öffnete im Unterhemd. Sie kam einfach rein und setzte sich aufs Bett.
»Ich habe auch verpennt. Als ich dich nicht fand, habe ich nach deinem Zimmer gefragt.« Sie hatte sich offensichtlich entschieden, das Französische mir gegenüber nicht mehr abzulegen.
»Tut mir leid, ich dachte nicht, dass ich überhaupt einschlafen würde. Konntest du ausruhen?« Ich dachte kurz daran, auch ins Französische zu wechseln, aber das Spiel mit den zwei Sprachen gefiel mir und außerdem war ich im Moment eh mehr ans Spanischsprechen gewöhnt.
»Ich habe ganz komische Sachen geträumt. Wollen wir was essen gehen?«
»Gern.« Ich zog ein weißes Hemd aus der Reisetasche und warf es über. Ich spürte ihren Blick, als ich es tat. Ich zog die Rumflasche aus dem Rucksack und nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche, was sie zum Lachen brachte. Ich bot ihr die Flasche an, sie lehnte aber ab. An der Rezeption nannte uns Doña Lupita ein gutes Restaurant direkt am Platz. Es lag nur fünfzig Meter vom Hotel entfernt und war ebenfalls in dem Patio eines der kasernenartigen Langhäuser untergebracht. Der Patio war noch typischer als der des Hotels und der Duft aus der Küche versprach gutes Essen. Wir setzten uns an einen Zweiertisch, die Bedienung brachte die Karte. Es gab Fleisch und Fisch, wir bestellten beide gegrillten Piraña und argentinischen Weißwein.
Beim Essen redeten wir zunächst recht belanglos über Santa Cruz. Ich fragte sie nach ihren Erfahrungen im Hochland. Sie erzählte von einer Reise an den Salzsee Uyuni und von der Schönheit Sucres, sie mochte die Landschaften des Hochlandes, konnte aber das Klima nur schwer ertragen, ein Eindruck, den ich teilte. Sie erzählte mir von ihrem Leben in Kanada und warum sie Frankreich vorzog. Ihr Vater war Algerier und ihre Mutter Französin, beide hatten zur Zeit ihrer Geburt als Ärzte in Quebéc gearbeitet. Sie hatte dementsprechend neben der französischen auch die kanadische Staatsbürgerschaft.
Der Fisch war grätenreich, aber sehr lecker, sogar die Salatportion war erkennbar vorhanden. Wir zahlten und verließen das Restaurant, beschlossen aber, noch ein bisschen Concepción zu erkunden.
Viel gab es im Dunkeln nicht zu sehen, aber die Stadt war ganz nett. Dort, wo die koloniale Bauweise aufhörte, ging die Besiedlung in strohbedeckte Hütten über. Sie befanden sich auf weitläufigen Grundstücken, vor den Häusern hingen Gruppen von Hängematten, in denen die Bewohner lagen oder saßen und miteinander plauschten. Der Erdboden um die Häuser herum war gefegt und völlig ohne Grasbewuchs. In Abständen standen am Rand oder innerhalb der viereckigen Häuserblocks riesige Mangobäume, deren kräftige Äste im unteren Baumbereich weit horizontal zur Seite wuchsen. Die mussten in der Mittagshitze kühlen Schatten spenden, dachte ich mir.
Als wir zurück zum Platz kamen, war es dreiundzwanzig Uhr und wir setzten uns auf Odiles Vorschlag hin noch auf eine Bank. Wir redeten nichts. Ich fühlte das starke Bedürfnis, ihr nahe zu sein, so dass es mir wieder einmal die Sprache verschlagen hatte. Sie zündete sich eine Zigarette an, ich dachte darüber nach, ob ich sie berühren sollte. Als sich ihre linke Hand kurz zwischen unsere Schenkel auf die Bank legte, legte ich meine darüber und suchte ihren Blick. Ihre Hand blieb reglos, schließlich wandte sie sich mir zu. »Ich bin kompliziert, Robert, bitte entschuldige.«
Das war's also erst mal, dachte ich mir, streckte meine Beine aus und legte meine Unterarme angewinkelt auf die Rücklehne der Bank. Nach einem weiteren Moment sagte sie, sie wolle zurück ins Hotel. Wir verließen den Platz, kamen ins Hotel und gaben uns einen Gutenachtkuss auf die Wange, ich tat einen Teufel, ihr dabei meine Hände auf die Hüfte zu legen.
Ich hasste es, zurückgewiesen zu werden, deshalb hatte ich immer so Schiss, in Gefühlssachen offensiv zu sein. Als ich in mein Zimmer kam, hörte ich in der Ferne Donnern, und als ich aus dem Fenster sah, blitzte der Himmel am Horizont in Abständen hell auf. Die Abstände zwischen Donner und Blitz waren aber noch sehr lang.
Mein Kopf war leer, ich duschte und legte mich danach nackt und nass aufs Bett, das brachte Erleichterung bei der drückenden, schweren Hitze, die jetzt am Abend, der eigentlich Abkühlung versprechen sollte, immer noch zu zunehmen schien. Ich nahm einen tiefen Schluck aus der Rumflasche und schlief irgendwann schwitzend ein.
Mitten in der Nacht wurde ich von einem Granatendonner geweckt. Donner und Blitz kamen zeitgleich. Ich stand auf, ging zum Fenster und schob die Moskito-Gardine beiseite. Der Regen prasselte so dicht herab, dass ich kaum die nur fünf Meter entfernte Fensterfront des Haupthauses sehen konnte. Ich warf mir ein Handtuch um die Hüfte und ging ins Freie. Meine Umgebung erhellte sich für kurze Momente grell im Schein der Blitze. Ich stellte mich an eine Stelle des Innenhofes, die nicht von allen Seiten aus einsehbar war, und ließ den Regen auf mich schütten. Die Luft war warm, der Regen war warm, ich fror nicht. Wo schlief oder wachte Odile? Ich hatte nicht darauf geachtet. Ich stand eine ganze Weile so da und ließ mich vollregnen. Ich genoss das Gefühl der schweren, warmen Tropfen, die mir ins Gesicht pladderten. Als das Ganze sich zu beruhigen schien, ging ich zurück ins Zimmer, trocknete mich ab und legte mich wieder aufs Bett. Der Regen hörte nicht auf, schwoll an, ebbte ab …
Am kommenden Morgen weckte mich Odile übers Handy, der Regen hatte aufgehört, die Luft draußen war dampfig. Sie fragte, ob ich zum Frühstück kommen wolle. Ich zog mich an, ging raus und setzte mich an den Tisch, an dem sie saß und frühstückte. Am Buffet gab es nur süßes Zeug, also ließ ich es mit dem Essen bleiben und goss mir nur Kaffee ein. Tee wäre mir lieber gewesen, aber es gab nur Coca-Tee. Ich gab mich wortkarg, bis sie schließlich meinte:
»Ich wäre gestern Nacht gerne zu dir rausgekommen.«
»Was?«
»Ich habe dich gesehen. Du bist ein schöner Mann, und dass du es nicht weißt oder so tust, als wüsstest du das nicht, macht dich noch attraktiver. Beinahe wäre mir alles egal gewesen und ich wäre nackt zu dir rausgekommen.«
»Warum hast du's nicht getan?«
»Weil wir dann miteinander geschlafen hätten und das will ich nicht. Noch nicht.«
»Weißt du was, Odile, du kannst mich am Arsch lecken.«
»Vielleicht mach ich das sogar noch.« Sie lächelte mich an, ganz natürlich, mit ihren wunderschönen grünen Augen. Ich versuchte mal wieder, nicht auf ihre Glocken zu schauen. Sie schien sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. Nicht, dass mir diese Art missfiel, ich war nur nicht am Drücker und das machte mich unsicher. Ich entschied, vorerst Distanz zu wahren, was nicht einfach werden würde, denn ich war bereits in sie verknallt.
Sie aß noch irgendwelchen Müslikram, ich stand auf, ging in mein Zimmer und packte den Waschbeutel, schmiss ihn in den Rucksack und den wiederum ins Auto. Sie brauchte noch mehr Zeit, also ging ich auf die Straße und rauchte erst eine und dann noch eine Zigarette. Sie kam immer noch nicht, also trank ich in dem gegenüberliegenden Laden ein Bier. Schließlich winkte sie mir von der Rezeption aus zu und ich ging wieder in den Innenhof des Hotels. Wir zahlten, bedankten uns bei Doña Lupita, bestiegen wortlos das Auto und verließen Concepción in Richtung San Ignacio.
Nach Concepción war die Straße noch etwa fünfundzwanzig Kilometer asphaltiert, mehr oder weniger. Dann sollten etwa zweihundert Kilometer rote Erde folgen. So fuhren wir und fuhren und redeten fast nichts. An der Stelle, an der der Asphalt in Erde überging, sah ich ein Eingangsportal zu einer Hazienda. Das riesenhafte hölzerne Namensschild hing schief, es stand eingekerbt darauf geschrieben: ›La Dolorida‹. Hinter dem offen stehenden Portal bahnte sich ein Feldweg einen Hügel hinauf und verschwand dahinter im Nichts.
Ich war sauer auf mich. Ich hatte das Gefühl, Odile gegenüber zu viel von mir preisgegeben zu haben, obwohl ich das, rational gesehen, nicht getan hatte. Ich wurde mir nur einfach gewahr, dass sie eine Riesenpersönlichkeit war. Ich hatte den tiefen Wunsch in mir, mit ihr tagelang zu vögeln. Und mir den Arsch von ihr auslecken zu lassen. Bei dem Gedanken musste ich leise lachen.
»Warum lachst du?« fragte sie.
»Ich denke ans Arschlecken.«
»Ich auch.« Wir mussten jetzt beide lachen, es war befreiend. Wir durchfuhren mehrere Senken mit langgezogenen Pfützen, an denen Myriaden von Schmetterlingen saßen, die im Näherkommen aufstoben und gelbe oder auch blaue Wolken bildeten.
»Wie schön das ist …« sagte sie verträumt mit leiser Stimme.
Das Gelände wurde flacher, die Straße machte eine langgezogene Biegung. Und dann kam es, ich kapierte erst nicht, was los war. Zunächst sah ich nur einen in der Mitte der Straße quergestellten Polizeijeep. Fast zeitgleich sah ich die dunkel uniformierten, grotesk verkrümmten Körper um das Gefährt herum liegen. Ich bremste ab und fuhr Schritttempo. Dann sah ich einen zweiten Polizeijeep, halb im Gebüsch weiter hinten, volles Rohr gegen einen Baum gesetzt. Aus der offenen Fahrertür lehnte sich leblos ein uniformierter Typ. Ich brachte das Auto zum Stehen, die Szene war noch etwa fünfzig Meter entfernt.
»Was ist denn das für eine Dinosaurierscheiße?!« hörte ich mich fragen. Odile sagte nichts, saß nur kreidebleich da. Ich ließ das Fenster runter, von draußen hämmerte das ohrenbetäubende Sirren der Zikaden und die unmenschliche, trockene Hitze ins klimatisierte Auto. Ich öffnete die Tür und stieg aus. Das Grauen stieg unaufhaltsam in mir auf. Ich verspürte Kackreiz. Odile blieb regungslos im Auto sitzen. Seit unserer Abfahrt aus Concepción war uns kein Auto entgegengekommen, wir mochten etwa fünfzig oder auch achtzig Kilometer gefahren sein.
Ich horchte, ob irgendein Motorgeräusch zu hören war. Nichts, nur die kreischenden Zikaden. Ich ging an den Straßenrand und kletterte die leichte Böschung hinauf, riss die Hose runter und schiss - ich muss immer scheißen, wenn sich unerwartet der Horror auftut. Ich war es gewohnt, mir den Arsch mit Wasser abzuwaschen, jetzt mussten es zwei zerknüllte Tempos tun. Toll, dass du dafür Zeit hast!, sagte ich mir. Als ich zurück zum Auto kam, war Odile ausgestiegen und kotzte zwischen Auto und Beifahrertür. Der Wind wehte den rostigen Gestank frischen Blutes heran.
»Ich geh jetzt da hin!« hörte ich mich sagen.
Sie röchelte und würgte, gab aber keine Antwort. Mechanisch setzte ich einen Fuß vor den anderen, zuerst langsam, dann sicherer. Ich hielt den Blick seitwärts gerichtet, konnte kaum auf die herumliegenden Polizisten schauen. Als ich beim Ersten ankam, blieb ich stehen, beugte mich zu ihm runter und griff ihm an den Hals, mein Blick wollte sich immer wieder abwenden. Auch wenn es mit ca. 35°C Lufttemperatur krachheiß war, war die Sachlage ziemlich klar. Denn selbst, wenn man in seinem Leben noch keine toten Körper angefasst hat, spürt man den Tod bei Berührung sofort, auch wenn die Leiche noch warm ist. Der Typ hatte eine kugelsichere Weste an, die ihn jedoch vor dem Kopfschuss nicht bewahrt hatte. Ein kleines Rinnsal Blut floss in eine immer größer werdende, sich ihren Weg bahnende Pfütze neben seinem Kopf. Auf der Pfütze bildete sich bereits eine schwarze Kruste. Aus einer kleinen Flucht bahnte sich das hellrote Blut darunter weiter seinen Weg, irgendwohin ins Nichts, der Lebenssaft. Dicht daneben ruhte sein Käppi. Viel Zeit war nicht vergangen seit dem Ereignis, was auch immer geschehen sein mochte.
Ich schaute mich links und rechts um. Das alles übertönende Zikadensirren und die erdrückende Hitze beherrschten die Szene. Ich drehte mich zum Auto um. Odile kauerte immer noch zwischen Beifahrertür und Auto und rührte sich nicht. Ich ging weiter. Die anderen beiden, eine davon war eine Frau, waren ebenso unnatürlich bleich und tot wie der Erste. Ich ging erst gar nicht hin. Jetzt aber - ich war dem zweiten Jeep, der sich in den Baum gefressen hatte, deutlich näher - hörte ich ein Röcheln, vermischt mit irgendwelchen Worten.
Ich schaute genauer hin und sah den uniformierten Mann aus dem Auto baumeln, er war sogar angeschnallt. Ganz vorschriftsmäßig!, dachte ich mir. Seltsam, was man so wahrnimmt, alles ging ganz langsam, wie in Zeitlupe. Ich ging zu ihm hin und verstand Fetzen seines Stammelns.
»Hilf mir, verdammte Scheiße, Gringo!« hörte ich ihn blubbernd sagen. Er wiederholte die Worte monoton. Ich fühlte mich überfordert. Ich stand einen kurzen Moment vor ihm und musterte ihn, während er immer wieder dasselbe sagte. Er hatte eine schusssichere Weste an und für mich sichtbar zwei Einschüsse im mir zugewandten Oberschenkel. Ein Streifschuss hatte ihm eine verkokelte Kerbe unters Ohr gegraben, das ganze gefährlich nah an der Halsschlagader. Eine Platzwunde am Kopf, er war beim Zusammenstoß mit dem Baum irgendwo drangeknallt. Der Typ lebte, war aber offensichtlich in einem ziemlich beschissenen Zustand, analysierte ich weltfremd vor mich hin. Ich zögerte, ihn zu berühren, aber dann kam bei mir wieder das raus, was man den inneren Sauhund nennen könnte. Langsam war ich abgebrüht genug, griff ins Auto und schnallte ihn ab. Dann beugte mich über ihn und versuchte, ihn anzuheben. Der Mann war weder groß noch schwer, aber trotzdem nicht einfach zu schultern. Aber wenn es wirklich sein muss, kommen auch die nötigen Kräfte.
Ich musste zweimal ansetzen und schrie beim zweiten Mal tief aus dem Zwerchfell, dann hatte ich ihn. Ich wankte, der Typ mochte um die siebzig Kilo wiegen, dann setzte ich mich langsam in Bewegung, immer wieder ›Bah‹ sagend und Spucke und Schweiß prustend. Ich hörte meine Schritte im staubigen Kies knirschen.
Der Polizist blubberte immer noch irgendwas von Scheiße und Ausländer hinter meinem Rücken. Und so wankte ich die fünfzig Meter zurück zum Auto. Odile kauerte weiter zwischen Auto und Beifahrertür, ich hatte keine Ahnung, ob sie mich mit meiner Ladung wahrnahm. Als ich näher kam, schrie ich sie an, sie solle die Hintertür des Prado aufmachen, sie reagierte nicht. Ich schrie sie weiter an, keine Reaktion.
Ich kam zurück zum Auto, schaffte es, die Tür alleine aufzukriegen und wuchtete den halbtoten Polizisten rein. Erst saß er, nach vorne gebeugt, die Beine nach außen baumelnd, dann gab ich ihm einen leichten Stoß und er landete rücklings auf dem Hintersitz. Die Beine wurden zusammengeschoben, Zeit für stabile Seitenlage oder ähnliche Scherze gab es nicht. Ein blutiges Braseln kam aus seinem Mund. Ich schloss die Tür, Odile kauerte immer noch in derselben Position zwischen Beifahrertür und Auto. Ich griff sie an den Schultern, richtete sie auf und ohrfeigte sie, ganz schnell, gar nicht fest, rechts-links. Da wurde sie auch noch sauer und wollte zurückschlagen, war aber zu kraftlos.
Ich schob sie auf ihren Beifahrersitz und knallte die Tür zu. Dann stieg ich ein und startete durch. Wenn ich mich recht erinnere, rollte ich einem der toten Polizisten beim Wegfahren auch noch über die Beine, dann gab es nur noch Vollgas. Ich fuhr in Richtung San Ignacio, keine Ahnung warum, Concepción wäre näher gewesen.
Odile schwieg und starrte nur geradeaus. Ich schrie sie an, sie müsse sich um den Typ kümmern, dass er am Blut, das aus seinem Maul kam, nicht erstickte. Mir kam der Verdacht, dass er schlimmer verletzt war, als nur durch die Schussverletzungen, die ich zunächst wahrgenommen hatte.
»J'peux pas …« flüsterte sie nur und starrte geradeaus. Ich hielt also wieder an, wir waren gut fünf Kilometer gefahren. Ich ging zur linken Hintertür, wo der Kopf des Polizisten lag und riss sie auf.
Odiles Untätigkeit nervte mich. Ich dachte immer, Frauen wären so zäh und leistungsfähig, wenn es wirklich drauf ankam.
Der Typ prustete weiter. Ich legte ihn auf die Seite und der ganze Blutkotter, den er im Maul hatte, floss auf die Sitze. War mir jetzt auch egal. Dann erst sah ich das Loch in der rechten Flanke seiner Brust, unter dem Arm, ganz klein, am Rand schwarz, dort, wo die Schutzlappen der Weste nicht abdeckten. Wo die Kugel wieder ausgetreten war, sah ich nicht, aber es dürfte ein blutspuckender Krater sein, der irgendwo unter der Weste brodelte. Nachdem ich das verdammte Ding endlich geöffnet hatte, sah ich den Austritt der Kugel am Rücken. Der Kerl blubberte weiter vor sich hin. Ich kramte in meiner Hosentasche nach einem Taschentuch, fand ein vollgerotztes, das war nach meinem Schiss übriggeblieben, und stopfte es mit Druck in den tennisballgroßen Trichter. Klebeband wäre gut gewesen.
Ich fuhr weiter und gab Gas. Die Straße war in keinem guten Zustand, aber das Auto war neu und die Federung gab das Tempo von hundertzwanzig Stundenkilometern ohne Weiteres her. Odile starrte weiter geradeaus und gab keinen Ton von sich. Nach schweigsamen neunzig Kilometern und einer weiteren Stunde, die nur vom Röcheln des Polizisten, dem gedämpften Motorengeräusch und dem untilgbaren Kreischen der Zikaden nervenaufreibend untermalt waren, erreichten wir San Ignacio. Zu anderer Gelegenheit hätte ich mir sicher Gedanken darüber gemacht, dass dies der Ort war, an dem ich die kommenden zwei Jahre verbringen würde, und hätte mir alles genau angeschaut. Nichts dergleichen.
Wir kamen ziemlich direkt an die Plaza Mayor und ich fragte irgendjemanden nach dem Krankenhaus. Es lag nicht weit entfernt in einer der Straßen, die von der Plaza wegführten. Ich fuhr mit quietschenden Reifen los, bremste vorm Hospital und rannte in den Eingangsbereich des langen einstöckigen Gebäudes mit den unvermeidbaren Palisadengängen vorne dran. Ich schrie: »Emergencia, policia agonizando!«8
8 Schnell, ein Notfall, schwerverletzter Polizist!
Schnell kamen aus dem Nichts Typen in grünen Kitteln angerannt. Ich deutete auf den Prado und sofort rissen sie die Hintertür auf. Nach schnell gesprochenen Sprachfetzen im Lokal- oder Medizineridiom hatten sie ihn auf die Rollbahre gehievt, die ein weiterer Gehilfe oder Arzt herbeigefahren hatte. Sie schnellten mit der ratternden Bahre an mir vorbei in irgendeinen Raum, gangabwärts im türkisfarben getünchten Gebäude. Ich setzte mich auf eine Bank im Eingangsbereich, atmete durch und fragte mich, was nun zu tun sei.
Odile kam irgendwann aus dem Auto und setzte sich rechts neben mich auf die Bank. Sie legte ihren Arm um meine linke Schulter und lehnte ihren Kopf auf die andere. Sie roch gut nach ihrer Haut in der Hitze. Ich mochte ihren Schweißgeruch mit einer fernen Note ihres Parfüms und ihren herben Mundgeruch nach Zigaretten. Ich legte meinen Kopf leicht zur Seite, so dass er ihren ebenfalls berührte. Wir sagten nichts.
So vergingen etwa fünfzehn Minuten. Dann hielt ein Polizeiauto vor dem Krankenhaus, ein Polizist kam in die Eingangshalle und bat uns, mit ihm ins Polizeipräsidium zu kommen. Ich fand das überraschend schnell, wer hatte ihm denn Bescheid gegeben? Ich denke, wir beide waren so sehr damit beschäftigt, uns dem großen Nichts in Kopf und Seele zu widmen, diesem Nichts, das sich nach großer Anstrengung oder schockartigen Erfahrungen einstellt; wie mit Quadern aus weißer Luft im Kopf und mit morphinartigen Hormonen im Gebein, so dass wir gar nicht daran dachten, was wir eigentlich hätten tun müssen.
Die Situation war ja nicht einfach. Es dürfte zwar ziemlich klar sein, dass wir keine Täter sein konnten, dachte ich mir, als wir dem Polizisten in seinen Wagen zum Präsidium folgten. Trotzdem fürchtete ich irgendeine perfide Form von Verdacht. Ich hoffte, dass der verletzte Polizist durchkommen würde.
Im Polizeipräsidium angekommen, wurden wir in eine zwei Stockwerke hohe und merkwürdig weitläufige Eingangshalle geführt, an deren Ende ein Uniformierter saß. Der Polizist, der uns abgeholt hatte, blieb strammstehend am Säuleneingang zurück. Wir traten vor sein einsames, im Saal völlig verlorenes Mini-Pult und begannen, ihm in kurzen Worten zu berichten, was passiert war. Er bat um meinen Ausweis, ich hatte keinen. Ich hatte nur ein Papier vom DED, welches bestätigte, dass mein Reisepass und mein ecuadorianischer Führerschein - mein deutscher Führerschein war mir im vergangenen Jahr wegen Alkohol am Steuer bereits zum zweiten Mal ziemlich definitiv abgenommen worden - sich im bolivianischen Außenministerium befanden, und dass das Papier hier für zwei Wochen meine Identität bestätigen sollte. Ich wies auf die abgedruckte Telefonnummer der DED-Zentrale für den Fall von Nachfragen hin. Der Typ schwieg und verschwand mit meinem Ausweisdokument. Ich suchte den Blick von Odile, sie warf mir immerhin mit einem Mundwinkel ein Lächeln zu. Ich ging auf sie zu und nahm sie in den Arm, sie vergrub ihr Gesicht in meiner Schulter.
Nach etwa zehn Minuten kam ein wichtigerer Typ. Mehr Auszeichnungen, mehr Selbstbewusstsein und dunkler Vollindianer. Zwei andere Polizisten begleiteten ihn. Wir wurden aufgefordert, ihnen zu folgen. Wir kamen in einen weiteren fast leeren, überdimensionierten Raum mit einem Minischreibtisch und einer Riesenschreibmaschine drauf. Wir sollten uns auf die beiden Hocker vor den Schreibtisch setzen.
»Señor Spreng,« - er sprach meinen Nachnamen richtig gut aus - »wir haben gerade mit dem Hospital telefoniert, obwohl der Kollege lebt, sieht es nicht gut aus für ihn. Er ist kaum transportfähig und braucht Blutkonserven, wir haben aus Santa Cruz welche geordert, eine Cessna ist bereits auf dem Weg hierher, vielleicht kommt er durch. Es kommt auch ein Chirurg.«
Er drehte seine Beine zur Seite und streckte sie überkreuzt aus. Der Schreibtisch war zu klein, als dass man darunter Beine hätte ausstrecken können. Er schwieg eine Weile, der Raum war erfüllt vom Summen unzähliger Fliegen. Odile bat leise um Wasser, woraufhin er seinem Unterpolizisten befahl, zwei Flaschen Mineralwasser zu bringen. Mir war aber nach Alkohol, also bat ich um einen Schluck Hochprozentiges, worauf er die Schreibtischschublade aufmachte und eine etikettlose Glasflasche plus zwei Plastikbecher rausholte. Er schenkte großzügig in beide Becher ein, ich kippte mein Ding gleich weg, er schenkte nach. Dann stieß ich mit ihm an, ich haute den zweiten weg, er den ersten. Das war schon besser.
Er schwieg und ich fing an, nachzudenken. Mir fiel ein, dass ich mich bei der DED-Zentrale hätte melden müssen, um nach Handlungsanweisungen zu fragen. Hans Radeberger, den DED-Chef, hatte ich wegen seiner Abwesenheit bei meiner Ankunft noch nicht kennengelernt. Peter Dijkstra wollte ich nicht anrufen, er hätte eh nur tuntiges Geschwafel abgelassen. Der Schnaps machte sich in meinem Körper breit und mir wurde es egal. Schließlich beugte sich der Oberpolizist nach vorne und startete.
»Señor Spreng, wie wir mittlerweile wissen, sind Sie Berater für den Deutschen Entwicklungsdienst. Ihre Organisation hat unserer geliebten Stadt San Ignacio in der Vergangenheit - und ebenso in der Gegenwart - sehr geholfen. Und ehrlich gesagt, und dies ganz ehrlich, glauben wir kaum, dass Sie irgendetwas mit dem offensichtlich heute Vormittag Vorgefallenen zu tun haben, da gibt es wirklich kaum Zweifel. Andererseits haben Sie den Tatort nicht unerheblich durcheinandergebracht. Das ist ein Delikt. Wollen Sie, dass ich ins Detail gehe?« Ich erinnerte mich, einem Toten über die Beine gefahren zu sein, aber ansonsten …? Ich wollte ihn unterbrechen, um klarzustellen, dass ich vielleicht einem Polizisten das Leben gerettet hatte, aber zwecklos - er fuhr seine Hand aus und gebot mir Schweigen. Ihn zu fragen, warum er das alles nur eine Stunde nach unserem Eintreffen am Tatort bereits wusste, kam mir nicht in den Sinn.
»Sie werden jetzt ohne Zweifel anführen, dass Sie einem unserer Kollegen eventuell dazu verholfen haben, sein Leben weiterzuführen, auch wenn dies unter den gegebenen Umständen zweifelsfrei nicht ohne Weiteres möglich sein wird. Ich rede von dem Fall, dass er überlebt. Andererseits leben wir hier in Bolivien mittlerweile in einem modernen Staat. Es muss jedem Rechtsbruch zweifelsfrei auf den Grund gegangen werden, da dürfen keine Zweifel bestehen. Unser Präsident führt uns in eine neue, vielversprechende Zukunft und, ich muss Ihnen das ganz klar sagen, auch Ausländer müssen sich diesem Recht beugen, ganz ehrlich.« Mit den Worten ›ehrlich‹ und ›zweifelsfrei‹ hatte er es.
»Nehmen Sie noch einen?« fragte er zuvorkommend. Mir war alles scheißegal, als Fatalist machte ich mich auf das Schlimmste gefasst, also warum nicht noch einen hinter die Binde? Er schenkte erst sich selbst ein und dann mir. Odile wurde offensichtlich langsam fitter, denn sie legte den Kopf beiseite und schaute mich mit hochgezogener Augenbraue an. Dann wandte sie sich ab und trank ein paar tiefe Schlucke aus ihrem Mineralwasser. Ich kippte den Fusel runter und schaute geradeaus. Er bemerkte ihren Blick und fasste ihn als provokant sich gegenüber auf. Ich wusste nicht, was Odile mit ihrem Blick meinte, vielleicht war sie der Ansicht, ich sollte nicht zu viel Schnaps trinken.
»Verehrte Dame,« wandte er sich schleimig an Odile, »zu Ihnen kommen wir gleich noch.« Er kicherte blöde.
»Kann ich rauchen, bitte?« fragte ich.
»Wissen Sie, Señor Spreng, dass Rauchen schädlich ist?«
»Ist mir egal, darf ich?«
»Ich mache eine Ausnahme, wissend, dass Sie heute Vormittag eine für uns alle sehr unangenehme Situation erleben mussten. Machen Sie nur.« Ich zog mir eine raus, reichte Odile die Zigaretten.
Zum ersten Mal schaute ich bewusst auf das Namensschild an seiner Brusttasche. Subteniente Sigchá stand da draufgestickt. Nach fünf Jahren Aufenthalt in Ecuador wusste ich immerhin so viel, dass dieser Mann aus dem Hochland kommen musste, es war ein Quechua-Nachname. Er war also Colla, wie die Hochlandbewohner hier unten im Tiefland genannt wurden. Und dann noch sein hochgeschwurbeltes Spanisch, mir wurde klar, warum er den Präsidenten so positiv erwähnte. Ich nutzte die Pause, mein Moment zu reden war gekommen, fand ich.
»Sehen Sie, Subteniente Sigchá, wissen Sie, Sie haben recht, das war wirklich sehr aufreibend heute. Ich muss Ihnen ehrlich, aber ganz ehrlich sagen, dass ich dergleichen in meinem Leben noch nicht gesehen oder erlebt habe. Ich war und bin völlig verwirrt. Ganz zu schweigen von meiner Begleiterin, …« er wollte die Hand heben, doch ich wurde beim Weiterintonieren kurz mit der Stimme lauter und hatte ihn dadurch zum Schweigen gebracht. Dann fuhr ich mit ruhigerer Stimmlage fort: »… die immer noch völlig perplex ist, zweifelsfrei und ganz ehrlich. Für uns ist das sehr schwierig, auf eine solche Weise in ihrem doch bekanntermaßen so gastfreundlichen Land willkommen geheißen zu werden. Wissen Sie, ich würde gerne erst mal mit dem Bürgermeister telefonieren. Ich nehme an, Sie haben ihn von den Vorgängen heute Vormittag in Kenntnis gesetzt?«
»Der Bürgermeister ist verreist.« meinte er knapp, weniger blumig. Er lehnte sich zurück, steckte sich ein Streichholz in den Mund und faltete die Hände im Nacken.
»Ist mir egal, Teniente, rufen Sie da bitte an und sagen Sie halt dem vertretenden Bürgermeister, dass Robert Spreng, neuer Verantwortlicher des Deutschen Entwicklungsdienstes für die lokale Wirtschaftsentwicklung in San Ignacio, eingetroffen ist und gleichzeitig gerade festgehalten wird, weil er versucht hat, einem im Sterben liegenden Polizisten das Leben zu retten. Sagen Sie dem Stellvertreter des Bürgermeisters bitte, dass ich mäßig zufrieden bin über den mittelhöflichen und mittel-angemessenen Empfang seitens der Polizei, und ich möchte jetzt sehr gerne in medias res gehen.« Ich wusste selber nicht, was ich mit dem letzten Teil meinte. Die Vorlage war trotzdem deutlich und ich hatte mir einen taktischen Vorteil erarbeitet. Er beugte sich nach vorne über seinen Schreibtisch und bediente die Tastatur seines Handys.
Er murmelte mehr als er sprach. Er wolle den stellvertretenden Bürgermeister sprechen. Und der ging auch tatsächlich ran.
»Hier, der Vizebürgermeister Don Belvis will mit Ihnen reden.« meinte er nach kurzem Grußaustausch und reichte mir sein Handy.
Es folgte eine ausufernde Respekts- und Dankbarkeitsbekundung seitens Don Belvis; schließlich beendete er das Gespräch, mehrfach betonend, dass er eigentlich schon auf dem Weg zu mir sei und dass er absolut und ehrlich begeistert sei von meiner Heldentat. Ich hatte fast nichts gesagt. Auch er wusste schon Bescheid.
Ich hatte Odile kurz zuvor gefragt, wie es ihr ginge. Sie antwortete mir in scharf geflüstertem Deutsch.
»Bin OK. Aber kannst du mir bitte sagen, was du hier machst. Ich will hier nicht alleine gelassen werden … Der Typ redet nur mit dir, und ich scheiß mir in die Hosen, weil er mich die ganze Zeit so geil anglotzt.« Das mit dem Anglotzen war mir gar nicht aufgefallen. Sie schien aber wieder voll anwesend.
»Klar. Ich geh hier nicht raus ohne dich. Keine Sorge.«
Nach weiterem mehrminütigem Schweigen am Minischreibtisch kam dann Don Belvis. Für einen Bolivianer überraschend groß, meine Größe etwa, europäisches Aussehen, weißes Haar im Bürstenschnitt, dürres, aknevernarbtes, rotes Gesicht, schlanke, nicht unmuskulöse Statur mit langen Hängearmen und fußballgroßem Bierbauch. Sein Kinn fiel zurück, dafür sprang die violette Nase umso mehr hervor. Später erfuhr ich, dass er El Pavo genannt wurde - der Truthahn. Er grüßte erst den Teniente, dann wandte er sich mir zu, um sich dann gleich entschuldigend Odile zu zuwenden.
»Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie unter diesen Umständen hier anreisen mussten. Ehrlich gesagt haben wir Sie erst für morgen erwartet, das zumindest hatte uns Ihr Chef Peter Dijkstra mitgeteilt. Deshalb haben wir für morgen einen feierlichen Akt des Willkommens für Sie vorbereitet.« Er wandte seinen Blick kaum von Odile ab.
»Das ist aber nett.« meinte ich. »Don Belvis, wir sind ziemlich fertig. Ich müsste mich jetzt mal darum kümmern, hier anzukommen. Ich erlebe so was wie heute nicht jeden Tag und bin immer noch ziemlich mitgenommen. Meine Begleiterin ebenfalls, wie Sie sicher bereits bemerkt haben.«
»Ihre Frau, nehme ich an?« Er schaute Odile fragend an.
»Nein, wir reisen zusammen.« meinte Odile knapp. Don Belvis starrte ihr unverhohlen und mehr oder weniger permanent auf die Titten.
»Ah, prima, wie wäre es, wenn ich Sie beide heute zum Abendessen bei mir zu Hause einladen dürfte? Natürlich erst, wenn Sie ein bisschen Ruhe gefunden haben. Wissen Sie denn schon, wo Sie wohnen werden?«
»Ja, ein Kollege hat hier ein Haus gemietet, dort sind Zimmer frei.«
»Ah ja, die Casa de los Cooperantes … wilde Partys, heiße Frauen, so kennen wir das Haus.« Er lachte laut auf. »Nur ein Scherz. Dürfen wir Sie beide dort hinbringen?«
»Gerne, ich weiß nur nicht, ob der derzeit einzige Bewohner zu Hause ist, ich müsste ihn kurz anrufen. Er heißt Manuel.«
»Kein Problem, er ist bereits hier.« Don Belvis wandte sich seinen beiden Begleitern zu und stellte sie uns vor. »Gestatten, das ist unserer Kämmerer Günther Kaiser und das hier ist Manuel, wie war noch gleich dein Nachname, Manuel?« Der Typ war klein und dürr.
»Paredes. Manuel Paredes, Señor Muñoz.« Er kam linkisch nach vorne und schüttelte uns, ebenso wie Günther Kaiser, die Hand. Belvis Muñoz also, ich versuchte, mir alle Nachnamen zu merken, mein Namensgedächtnis war schlecht.
»Wir nennen ihn hier nur Tingting, das ist ein kleiner Vogel, der hier heimisch ist.« meinte Don Belvis und lachte laut auf. Manuel kuschte wieder in den Hintergrund. Mich erinnerte er an die junge Liza Minelli.
»Kommen Sie, Sie werden sicher müde sein. Ich muss jetzt leider wieder zurück ins Rathaus, aber Manuel wird Sie nach Hause bringen und Ihnen dort sicher alles zeigen, nicht wahr, Manuel? Und bitte denken Sie an den feierlichen Akt des Willkommens, Ihnen zu ehren. Seien Sie morgen früh um etwa neun Uhr im Rathaus, okay?« Das Abendessen bei ihm erwähnte er zum Glück nicht mehr.
Wir schüttelten Don Belvis und Günther Kaiser die Hände und schwangen uns mit Manuel in den Prado. Manuel hatte eine Stimme, die so gar nicht zu seinem zarten Äußeren passte. Sie war rau und tief. Mit tiefer Stimme also dirigierte er uns zur Casa de los Cooperantes, ebenfalls nur ein paar Häuserblocks von der Plaza Mayor entfernt, also recht zentral gelegen. Er öffnete uns beim Ankommen die Tür und fragte mich dabei, ob ich von Wilson eine Kopie des Hausschlüssels bekommen hätte, was ich bestätigte.
Das Haus und der Garten waren von außen nicht einsehbar, eine knapp drei Meter hohe, sehr lange Ziegelmauer schirmte die Straßenseite des Grundstücks ab. Am linken Ende der Mauer war ein großes hölzernes Tor, vermutlich die Autoeinfahrt, der normale Eingang lag am rechten Ende der Mauer. Durch eine unscheinbare Holztür betraten wir, geleitet von Manuel, das Anwesen. Die Haustür selber lag nur drei Meter entfernt vom zuvor durchschrittenen Grundstückseingang, der Zwischenraum war mit einer solide wirkenden Holzkonstruktion überdacht. Manuel schloss auf, wir traten mit unserem Gepäck in die langgezogene, düstere und vor allem hohe Eingangshalle des einstöckigen Hauses. Auf der rechten Hallenseite und an deren Ende befanden sich Zimmertüren, auf der linken Seite in regelmäßigen Abständen mehrere große Fenster und eine Tür zum Garten hin.
»Bueno,« meinte Manuel, »ich wohne hier vorne im ersten Zimmer, gleich neben dem Eingang. Das Zimmer danach ist das von Marcela, sie kommt erst in ein oder zwei Wochen wieder. Die beiden angrenzenden Räume sind die Küche und dann das Gästeklo mit Dusche. Die müssen wir uns teilen, weil Wilson das Zimmer mit dem einzigen eigenen Bad hat, sein Zimmer ist das nach dem Gästeklo. Dann, am Hallenende, liegt das größte Zimmer im Haus. Eigentlich ist es auch das schönste, da ist nur so eine grauenhafte Zeichnung an der Wand, deswegen wollte ich da nicht einziehen.«
»Lass mal sehen, Manuel.« meinte ich neugierig. Wenn die Wandmalerei nicht allzu schlimm war, würde ich also das schönste Zimmer des Hauses bekommen. Wir gingen durch die langgezogene Halle, sie mochte bestimmt zwanzig Meter lang sein. Ich öffnete erst die Vortür mit dem Moskitonetz, dann die Zimmertür aus schwerem Tropenholz und betrat den Raum, Odile und Manuel folgten mir. Er war ebenso hoch wie die Halle. Das Gemälde befand sich an der Wand, die in Richtung Rest des Hauses gerichtet war. Die Mauer, die den Hausabschluss bildete, war fensterlos, aber an den Längswänden befanden sich jeweils gegenüberliegend zwei große Fenster mit Moskitonetzen, wie an allen Fenstern im Haus. Beide Fenster waren mit schwerem Holzgitter geschützt, was den Lichteinfall merklich reduzierte. Das Zimmer war groß, hoch und düster.
Das Gemälde stellte einen großen, alten Baumkrüppel dar, von Moosen und Pflanzen bewachsen, und nahm die ganze hohe Wand ein. Die Baumkrone war schon weggefault, dafür öffnete sich der Stamm an seinem oberen Ende mit wulstigen Rändern, wie eine große, ausgeleierte Möse. Überall waren kleine herumschwirrende Schmetterlinge. Die hochstehenden Wurzeln standen in sumpfigem, schwarzen Mangrovenwasser.
»Ist doch gar nicht so schlecht, was hast du denn, Manuel?« fragte ich, ohne mich zu ihm umzudrehen. »Wer hat das gemalt?«
»Keine Ahnung, aber findest du nicht, dass das Loch da irgendwie aussieht wie …«, er zögerte.
»… wie eine Möse?« fragte ich ihn. Odile lachte leise, kam neben mich und ruckte mich mit ihrer Schulter leicht an. Ich verstand nicht. Sie flüsterte mir kaum hörbar etwas zu, ich verstand nur ›pedé‹, schwul. Das war es also. Klar, dass er mich an Liza Minelli erinnerte. Schwulsein war immer so jenseits meiner Wahrnehmung, dass ich die Homos meist nicht als solche erkannte, es sei denn, sie waren obertuntig.
»Ich denke, ich werde mich hier einrichten.« Ein großes Doppelbett stand an der Wand gegenüber dem Gemälde, ich testete die Matratze, sie war schön hart. Daneben ein weiterer Minischreibtisch und ein Kleiderschrank, das war's.
»Dann bleibt mir nur das Zimmer neben Manuel, das von Marcela.« meinte Odile. »Ich bleib ja eh nur ein paar Tage, aber mir gefällt's hier, besser als im Hotel. Können wir den Garten anschauen, Manuel?«
Wir gingen zurück in die riesige Eingangshalle und dann auf halber Höhe durch die Terrassentür ins Freie. Odile ging kurz aufs Klo. Die Terrasse war ebenso groß wie die Eingangshalle, aber aufgrund des zum Garten hin geneigten Daches in der lichten Höhe niedriger. Die ganze Terrasse war überdacht und zum Garten hin bildeten runde Säulenbögen auf ganzer Länge einen Abschluss. Der Garten selber war etwa so groß wie zwei längs angeordnete Tennisplätze und mannshoch mit Gräsern überwuchert. Dazwischen standen verloren ein Paar Bananen- und Papayabäume.
Von der Terrasse führte ein Pfad durch eine Schneise, die ins hohe Gras geschlagen war, zum Carport, der von außen durch das erwähnte große Tor links der Außenmauer zu erreichen war. Auf halbem Wege entdeckte ich mitten im Garten eine ins hohe Gras gemähte Insel mit einem langen Holztisch und ein paar Bänken.
»Dort grillen wir häufiger, ist sogar beleuchtet.« meinte Manuel, als er meinen forschenden Blick in jene Richtung sah. Alsdann deutete er nach rechts ins Grundstücksinnere.
»Da rechts schließt sich ein Bereich an, der nochmal so groß ist wie der Garten hier, aber der ist wirklich komplett verwildert. Da kommt man auch mit Machete kaum rein. Wilson hat es schon versucht.«
»Na, wenn's Wilson nicht schafft, dann schafft es keiner!« äffte ich genervt raus. Tatsächlich tat sich eine riesige dichte grüne Wand auf, Lianen, hohe Bäume, Dickicht darunter. Wie tief es da reinging, ließ sich nicht ausmachen, so dicht war der Bewuchs. Die Nachmittagsluft wog schwer mit ihrer schwülen Hitze, das Licht war grell und doch war jener Teil des Gartens tief schattig und schien eine seltsame Kühle zu atmen.
»Das ist ja unheimlich, so schattig.« Odile war zurückgekommen, rückte an mich heran und stellte sich eng hinter mich. »Aber schön ist es trotzdem, so dicht. Irgendwie so wild!« Manchmal war sie herbdistanziert, manchmal war sie anschmiegsam, so wie es ihr gerade passte. Jener wilde Teil des Gartens bildete das Herzstück des gesamten Häuserblocks und lag genau in dessen Mitte.
Wir gingen langsam ins Haus zurück, Odile fragte Manuel, was er denn hier so mache. Er arbeitete auch mit dem Rathaus und dem Bürgermeister in Sachen Public Relations und Fotografie. Er hatte vorher im selben Bereich in der Coca-Cola-Company in Bogota gearbeitet und dies war sein erster Auslandsaufenthalt überhaupt. Er war seit zwei Wochen hier und hatte seitdem Dünnschiss.
Ich schwieg und blieb zurück, Odile vertiefte sich in die Unterhaltung mit ihm. Die beiden gingen ins Haus, ich blieb noch draußen. Die Sonne neigte sich langsam, es mochte sechzehn oder siebzehn Uhr sein. Nachmittagslicht ist beruhigend - besonders in Lateinamerika. Ich mochte Nachmittage, mehr aber noch den Abend und die Nacht. Morgende waren nicht meine Sache, ich mochte den Morgen nicht. Aber nachts aufwachen und eine Stunde oder mehr im Dunkeln liegen, das hatte was ganz Besonderes. Aber nicht zu lange, weil dann ja wieder der Morgen graut. Wenn der Morgen graut, fängt das Grauen wieder an. Arbeiten, Stress, der ganze Wahnsinn …
Auf der Terrasse befand sich ein großer runder Tisch mit im indianischen Stil gepolsterten Lehnsesseln. Das ganze Haus machte auf mich einen bunten, zusammengewürfelten Eindruck, Spuren von Generationen von Entwicklungshelfern, die hier einen Zeitabschnitt ihres Lebens verbracht hatten und dann wieder gegangen waren. Ich ließ mich in einen der Sessel mit Blick auf den Garten fallen und rauchte eine Zigarette, dann noch eine. Nach gut zwanzig Minuten kam Odile ohne Manuel raus zu mir und ließ sich in den Sessel neben mir fallen, ebenfalls mit Blick auf den Garten und rauchte. Zunächst schwiegen wir. Dann fragte ich, was mit Manuel sei, sie antwortete, er sei zu einem Termin gegangen und ließe mich grüßen.
»Hast du keinen Hunger?« fragte sie. »Wir haben seit heute Morgen nichts gegessen. Ich jedenfalls würde gerne was essen gehen.« Ich fand das auch und wir beschlossen, zu Fuß loszuziehen. Ich ging zum Carport, öffnete das Tor, brachte den Prado rein und wir liefen los.
Wir erwähnten das am Vormittag Geschehene mit keinem Wort mehr. Es war immer noch sehr heiß und das Gehen auf den sandigen Straßen war nicht einfach, teilweise war der Sand so tief, dass er mir in die Schuhe rieselte. Odile hatte Sandalen an, was das Ganze für sie einfacher machte.
Diese Unannehmlichkeit vergaß ich aber recht schnell, denn im Gehen nahm Odile meine Hand und wir liefen, wie ein Paar, in Richtung Plaza Mayor, wo wir am Nachmittag zwei Restaurants gesehen hatten. Unsere Hände spielten zärtlich miteinander, sehr dezent, gerade genug, um die tastenden Bewegungen des anderen immer nur leicht zu beantworten. Manchmal traf sich unser scheu lächelnder Blick. Ich war komplett in sie verknallt.
Wir landeten in einem Restaurant an der Plaza und aßen Huhn mit Reis sowie Minisalat. Es war mehr oder weniger okay, wir sprachen nicht viel, sahen dem abendlichen Treiben der Bewohner zu, aßen zu Ende, zahlten und gingen zurück. Auf dem Rückweg kaufte ich in einem Laden noch eine Flasche Rum und war froh, wieder im Haus anzukommen. Denn ich wähnte die Zeit gekommen, endlich mit Odile zu schlafen.
Als wir ankamen, schleifte Odile ihren Koffer in ihr Zimmer, in das sie wortlos verschwand und dort sogar recht lange, bestimmt eine halbe Stunde, blieb. Ich ging währenddessen in mein Zimmer und räumte den Inhalt meines Koffers in den Kleiderschrank. Ich hatte in Santa Cruz Laken und Bettbezug gekauft, die tatsächlich passten. Das Kopfkissen stank nach ungewaschenem Schläfer, aber egal, der neue Geruch des Überzugs überdeckte es einigermaßen.
Zwischendurch nahm ich wahr, wie Odile ins Gästeklo ging, um zu duschen. Als sie fertig war und wieder in ihrem Zimmer, tat ich dasselbe, kehrte danach zurück in mein Zimmer und wurstelte noch rum. Als es nichts mehr zu tun gab, schnappte ich mir die Rumflasche und die Zigaretten und ging raus auf die Terrasse. Nach einer Weile kam sie raus. Es war bereits stockdunkel, nur eine schlappe Glühbirne erhellte die Veranda.
Sie lehnte gegen einen der Pfeiler der Terrasse und schaute, den Rücken zu mir gekehrt, in Richtung Garten. Sie zündete sich eine Zigarette an. Wir schwiegen eine Weile, dann wandte sie sich zu mir und sagte:
»Robert, ich halte die Situation nicht mehr aus. Ich bin total verliebt in dich und weiß nicht, was tun. Ich verzehre mich nach dir und du gibst mir kein Signal. Es ist, als ob du mir nur beistehen willst. Ich brauche aber keinen Beistand, am wenigsten von dir.«
Da hatten wir's mal wieder. Frauen waren im besten Fall mit Glocken, Mösen und begehrenswerten Körpern ausgestattet. Aber völlig geistesgestört. Ich hielt es nicht für möglich. Auf welche Weise hätte ich ihr denn mehr zeigen sollen, dass ich nicht nur scharf auf sie war, sondern auch auf Gefühlsebene schwer beeindruckt? Ich hätte mir mit ihr weiß Gott was vorstellen können, aber was sollte das jetzt?
Ich stand auf, ging um den Sessel herum zu ihr, und legte meine Arme um sie. Automatisch schlossen sich unsere Körper zusammen. Wir küssten uns, endlich, volles Rohr. Meine Hände suchten ihren Körper, aber ihre Titten blieben verschont. Immer diese Ratio, ich wusste, dass sie erwarten würde, dass ich ihren Busen sofort angreifen würde. Stattdessen drückten sie sich einfach platt gegen meine Brust und quollen seitlich raus. Gab es Schöneres? Konnte ich mehr Erfüllung finden als in jenem Moment? Alles, was ich weiblich und anziehend fand, war in ihr vereint. Die Defekte und die Perfektion.
»Robert, j'ai trop envie de toi … vas-y … prends moi …«9, flüsterte sie in mein Ohr.
9 Robert, ich bin dermaßen scharf auf dich. Go, fick mich, jetzt!
Plötzlich entstand ein Höllenlärm. Wilson Mendoza platzte herein. Er knallte erst die Außentür des Hauses auf und kam dann mit einem überlauten ›HOLLAAA!!‹ in die Halle des Hauses, schrie es mit seinem breiten, zähneweißen Maul heraus und warf geräuschvoll sein Gepäck auf den Boden. Es war Hausherren-Verhalten.
Wir entließen uns gegenseitig aus der Umarmung. Odile wandte sich wieder in Richtung Garten, ich suchte ihren Blick, konnte aber ihr Gesicht nicht sehen. Ich kochte innerlich und fing in jenem Moment an, Wilson Mendoza zu hassen. Dieser Hass sollte zeitweise aus pragmatischen Gründen des Zusammenlebens von mir verdrängt werden, bestand aber in seinen Grundfesten durchgehend bis zum dramatischen Ende unseres Zusammenlebens in der Casa de Cooperantes. Ich betrat die Halle durch die Terrassentür und Wilson kam mir strahlend entgegen.
»Ich dachte, du wärst zu deiner Freundin gefahren?« Ich ertrug seine beschissene Umarmung widerwillig.
»Ging nicht, hombre, ich muss das Buch mit Peter abschließen. Ich brauche dafür die Ruhe hier im Haus. In zwei Wochen ist Abgabetermin, der wurde vorgezogen. Du bist mit Odile gekommen, habe ich gehört, hast du sie auch schon flach gelegt?« Er lachte laut. Was für ein Wahnsinnsarschloch er war. Ich musste an Tomás Echeverría denken.
»Was willst du damit andeuten Wilson?« fragte ich ihn sehr ernst und sandte ihm ein Nicken in Richtung Terrasse.
Er kapierte. »Uups!« sagte er jetzt leiser, aber immer noch unerträglich heiter. »Reden wir später, ich bring grad meine Sachen ins Zimmer, bis gleich.« Ich wandte mich ab und ging raus auf die Terrasse. Odile war verschwunden. Ich durchsuchte den Garten dort, wo es das hochgewachsene Schilf zuließ, rief halblaut ihren Namen, aber sie war nicht zu finden. Ich ging schließlich in mein Zimmer, packte noch meine restlichen Sachen aus und setzte mich dann auf die Bettkante, dann besoff ich mich mit Rum.