Читать книгу Wolfsnacht - M.P. Anderfeldt - Страница 4

Prolog

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Verschwinde hier«, herrschte der Vater das Kind an. Mit großen Augen sah ihn das Mädchen an; diesen Ton war es nicht gewohnt. Es begann zu weinen.

Unwillig drehte er sich um und warf ihr einen Blick zu, der Ungeduld ebenso ausdrückte wie Fürsorge. »Rasch, Lene, ins Haus!«, sagte er leiser und klang viel sanfter. Er zwinkerte ihr zu, als wäre es nur ein Spiel, doch in seiner Stimme schwang ein Unterton, den das Kind nicht kannte und der ihm Angst machte. Es war, als fürchtete der Vater sich selbst. Und das konnte doch nicht sein, oder? Was konnte es schon geben, das dem Vater Angst machte? Sie sah an ihm hoch. Er hatte die Füße fest in den Boden gestemmt, mit beiden Händen hielt er eine lange Axt umklammert. Nichts konnte ihn umwerfen, da war sie ganz sicher.

Jetzt rief auch schon die Mutter vom Haus her. Mit nackten Füßen rannte das Mädchen über den matschigen Platz und ins Haus. Hinter ihr fiel die Tür zu und es war zu hören, wie ein schwerer Riegel vorgeschoben wurde.

Nun waren die Männer allein. Und sie waren gut vorbereitet. Brennende Fackeln steckten im Boden und weitere warteten in tönernen Amphoren darauf, angezündet zu werden. Fünf Männer hatten ihre Bogen gespannt, jeder neben sich einen gut gefüllten Köcher mit Pfeilen. Einer der Bogenschützen war Dolph, der beste Jäger des Dorfs. Die anderen Männer, sieben an der Zahl, waren mit Äxten, Spießen und Dreschflegeln bewaffnet. Alle waren groß und kräftig gebaut, wie es typisch war für die Menschen in dieser Gegend. Selbst der kleine Kai, mit zehn Sommern kaum den Rockzipfeln der Mutter entwachsen, stand bereits breitbeinig neben seinem Vater, um ihm Pfeile zu reichen oder einen neuen Bogen, falls seiner zerbrechen sollte. Und für den Fall, dass den Schützen die Pfeile ausgingen, sollte er sie einsammeln. An seiner Seite hing in einer ledernen Scheide ein großes Jagdmesser, über das er immer wieder stolz seine Finger gleiten ließ.

Die Verteidiger waren gewarnt. Kein vernünftiger Stratege hätte in dieser Situation angegriffen.

Doch der Gegner war nicht vernünftig. Sein Angriff erfolgte plötzlich und mit großer Heftigkeit. Eine Wolke von Singvögeln kam aus dem Wald und verdunkelte den Himmel. Scharen kleiner Vögel flogen auf die Gesichter der Männer, pickten in ungeschützte Haut und zerkratzten ihnen die Gesichter. Die Männer schrien, aber weniger vor Schmerz als vor Überraschung.

Die Vögel waren schnell abgeschüttelt und es fiel ihnen offensichtlich schwer, sich bewegende Zielen zu attackieren. Dolph griff einen Vogel aus der Luft und zerquetschte ihn mit teilnahmsloser Miene in der Faust, bevor er das blutige Federbündel zu Boden warf.

Bald lagen um jeden der Männer Haufen von Vögeln, von denen einige noch mit den Flügeln schlugen oder mit gebrochenen Schwingen herumhüpften.

Einer hob seinen Stiefel und trat mit Kraft auf eine Amsel, die zu seinen Füßen lag. Der Körper zuckte noch ein wenig, während der Kopf zermatscht auf dem Boden klebte. Er räusperte sich aus tiefster Kehle und spuckte auf das tote Tier. »Wenn das alles ist …«, lachte er.

»Das ist nicht alles«, erwiderte Dolph trocken, während er die Pfeile entgegen nahm, die ihm ein Junge reichte. Er kniff die Augen zusammen. Ihm war, als sähe er, wie sich etwas Weißes im Halbdunkel der Bäume bewegte, aber das konnte er sich auch eingebildet haben. Ein einzelner Hase lief plötzlich aus dem Wald, hakenschlagend, panisch, die langen Läufe im Sprung gestreckt. Ein paar Pfeile streckten ihn nieder, tödlich getroffen überschlug er sich mehrmals im Lauf und blieb dann liegen.

»Nur ein Hase? Wie sollen wir denn davon satt werden? Wir brauchen schon noch mehr«, spottete der Vater und stützte sich auf seine Axt. Dolph beobachtete weiter den Waldrand.

»Ich habe einen weißen Schatten gesehen. Aber jetzt ist er weg.«

Einer der Männer wollte gerade etwas erwidern, als ein schauerliches Heulen aus dem Wald erklang. Ein Heulen, das ihnen das Blut gefrieren ließ. Alle wussten: Das war der Wolf, den sie hier Uru nannten. Dolph legte seinen besten Pfeil auf die Sehne und suchte den Waldrand ab. Doch der Wolf zeigte sich nicht.

Auf einmal kamen schwarze Schatten zwischen den Häusern hervor und attackierten die Männer. Krähen hackten nach ihren Augen und viele rissen ihnen blutige Wunden. Dolph sah, wie eine in das Ohr des Jungen hackte, der ihm die Pfeile gebracht hatte und der Junge vor Schmerz aufschrie. Er würde sie selbst abwehren müssen.

Während die Männer noch damit beschäftigt waren, sich der Vögel zu erwehren, brachen Wildschweine aus dem Wald und rannten auf sie zu. Einen oder zwei Keiler konnte Dolph erlegen, die meisten Männer kamen nicht einmal zum Zielen.

»Die Fackeln!« Wer konnte, griff eine Fackel und schwenkte sie herum. Eine der Krähen fing Feuer und flog brennend davon. Ihr Schreien ging ihnen durch Mark und Bein. Dolph sah sie im Augenwinkel verschwinden, dann erwehrte er sich wieder der Wildschweine und versuchte, sie mit seiner Fackel auf Distanz zu halten. Zum Glück waren andere Bogenschützen weiter hinten aufgestellt und immer mehr Wildschweine brachen von Pfeilen durchbohrt zusammen.

»Feuer!«, erscholl der Schreckensruf. Verwirrt drehte der Vater sich um und sah es: Das Strohdach eines der Häuser stand lichterloh in Flammen und das Feuer griff rasch auf die anderen Gebäude über. Die Krähe! Das verdammte Mistvieh musste sich ausgerechnet auf das Dach gesetzt haben.

Sie hatten keine andere Wahl, als die Frauen und Kinder aus den Häusern zu holen.

Wieder erscholl der Ruf des Wolfs aus dem Wald und diesmal zeigte er sich. Er trottete langsam heran und blieb auf einer kleinen Erhebung stehen. Beobachtete. Seine Augen schienen gelb zu glühen, als er noch einmal heulte. Kraftlos landete ein Pfeil ein Dutzend Schritte vor dem Wolf auf dem Boden. Pfeilverschwendung, dachte Dolph.

Das Biest schien genau zu wissen, dass es für einen sicheren Schuss zu weit entfernt war. Komm näher, dachte Dolph. Komm nur etwas näher. Beinahe zärtlich strichen seine Fingerkuppen über die Federn seines besten Pfeils. Den habe ich für dich aufgehoben.

Doch dazu kam es nicht. Der Boden erzitterte und aus dem Wald trabte der Auerochse, das stärkste Tier des Waldes. Immer schneller lief er und Entsetzen machte sich unter den Menschen breit, die ihn sahen.

Hustend standen jetzt die Frauen und Kinder neben den Männern, mit ihren vor Rauch tränenden Augen erkannten sie kaum, was auf sie zukam.

Rehe sprangen aus dem Wald, ihre sanften Augen weit aufgerissen, und überholten mit grazilen Sprüngen den Auerochsen auf beiden Seiten. Dolph verschoss Pfeil auf Pfeil und versuchte, den Auerochsen zu treffen, aber immer wieder sprangen Rehe in die Bahn. Ruhig stand er da, während rings um ihn die Hölle los war. Ein Pfeil verließ sirrend die Sehne – und traf das Rind. Doch der Winkel war zu spitz, wirkungslos glitt er an der Schulter ab. Dolph unterdrückte einen Fluch, dann war der Auerochse schon mitten unter ihnen. Die Männer in der vordersten Linie rannte er einfach um, trampelte sie nieder, als wären sie Strohpuppen. Andere spießte er mit seinen Hörnern auf, bevor er sie zu Boden warf und zu Tode trampelte. Einen der Jungen schleuderte er hoch über seinen Rücken nach hinten, noch lebend streckte er die Arme aus, um die Landung abzufedern. Er landete inmitten der wogenden Tierleiber, Dolph sah ihn nicht wieder auftauchen. Versunken und weggespült von der Flut.

Direkt hinter dem Auerochsen kam der Wolf. Schneller, leiser, aber ebenso tödlich. Wo beim Auerochsen schiere Kraft regierte, zeigte der Wolf die sparsamen, präzisen Bewegungen eines Raubtiers. Er wartete, bis einer der Männer abgelenkt war, dann sprang er ihn an, warf ihn nieder und biss ihm in einem Ruck die Kehle durch. Ein junger Mann strich tröstend einem Mädchen über den Kopf, das sich weinend an ihn drängte, als der Wolf auf ihn losging. Das Kind verstummte, als der Mann neben ihr auf die Knie sank, doch es hatte keine Zeit, seinen Tod zu beweinen, weil es nur Augenblicke später blutend neben ihm in den Staub sank.

Fliehende waren dem Wolf eine besonders leichte Beute.

Mit Entsetzen beobachtete Dolph, dass nur noch wenige Männer in der Lage waren, sich zur Wehr zu setzen. Viele lagen da – tot oder so schwer verletzt, dass sie für den Kampf komplett ausfielen. Einige hatten sich auch zur Flucht gewandt, die schnappte der Wolf als erstes. Er riss sie nieder und biss sie von hinten in den Hals. Der Wolf verstand, zu töten. Frisches Blut troff von seinem Maul und hatte seine Kehle und sein Fell rot gefärbt.

Der Auerochse rannte auf die Gruppe mit den Frauen und Kindern zu, die völlig verängstigt hinter Bork Schutz suchten. Bork kämpfte wie ein Löwe, gekonnt schwang er seine Axt, spaltete Wildschweinköpfe und hackte Rehe in Stücke. Doch was konnte er mit seiner Axt einem Untier wie dem Auerochsen schon entgegensetzen?

Der Auerochse schnaubte, ein sehr tiefer Ton, den man eher in den Eingeweiden zu verspüren glaubte, als dass man ihn hörte. Wer nicht rechtzeitig zur Seite sprang, wurde niedergerannt. Und wer noch stand, dem biss der Wolf die Kehle durch. Mit spielerischer Leichtigkeit flog er von einem zum anderen. Wenn er wieder davon sprang, sank ein Mann darnieder, hielt sich den Hals, aus dem es hellrot spritzte, und starrte dem Tier ungläubig hinterher. Bork fiel, vom Auerochsen niedergerannt, Dolph, der ihn warnen wollte, blieben seine Worte in der Kehle stecken, als der Wolf ihn niederwarf und blitzschnell den Todesbiss versetzte.

Es wurde ruhiger. Kaum ein Mensch war noch auf den Beinen, in grotesken Verrenkungen lagen die Leichen der Frauen und Kinder im Dreck.

Der Wolf hielt inne, sofort war er völlig ruhig. Blutdurst war ihm fremd, nur die rasch pumpenden Flanken verrieten seine Anstrengung. War es vorbei? Er blieb auf der Hut, suchte auch jetzt noch instinktiv Deckung und behielt seine Umgebung im Blick.

Prüfend witterte er. Die Luft war schwer von Schweiß, Blut und Pisse, sodass es schwierig war, etwas anderes wahrzunehmen. Seine gelben Augen verengten sich. Mitten im größten Haufen bewegte sich etwas. Ein Kind. Ohne Hast ging der Wolf näher, als sich ein weißer Schatten vor ihn schob.

»Aus dem Weg«, knurrte er.

Shika, die weiße Hirschkuh stand vor ihm. »Es ist genug, Uru. Du hast tapfer gekämpft und gesiegt.«

»Es ist erst vorbei, wenn alle tot sind.«

»Du willst dieses Kind töten?« Das Kind, es mochte fünf oder sechs Jahre alt sein, stand auf. Seine Kleidung war von Blut bedeckt, selbst die gewebte Haube glänzte dunkelrot. Seine Augen waren vor Schreck geweitet und es zitterte am ganzen Leib, doch schien es unverletzt.

»Hätten die Menschen Mitleid? Hatten die Menschen Mitleid?« Auf der Suche nach Mitstreitern blickte der Wolf zu Kraa, der Krähe. Sie war klug, aber sie war ein Aasfresser. Egal, wer kämpfte, sie blieb immer der Sieger. »Du bist auf Shikas Seite, nicht wahr, Kraa?«

Kraa neigte den Kopf und sah zwischen Shika und Uru hin und her. Ihre schwarz glänzenden Augen verrieten nicht, was sie dachte.

Der Fuchs, der nicht weit unter einem Baum kauerte, keckerte. »Na, wenn Kraa dafür ist …«

Uru ging nicht auf seine Bemerkung ein. »Raike!,« wandte er sich an den Fuchs, »Wie viele aus deiner Sippe haben die Menschen getötet, damit sie sich mit eurem Fell schmücken können? Wie kannst du jetzt für sie sein?«

In diesem Augenblick erschien Rokku, der gewaltige Auerochse, und stellte sich demonstrativ neben Shika.

Die Hirschkuh senkte das Geweih.

Der Wolf lachte heiser. »Willst du mir drohen?«

»Verstehst du nicht, Uru? Wenn du das Kind tötest, bist du wie sie. Besudele dich nicht mit dem Blut eines unschuldigen Kindes.«

»Mit Schuld oder Unschuld hat das nichts zu tun.« Der Wolf warf den Kopf zurück und betrachtete die Hirschkuh mit seinen gelben Augen. »Aber, wie ich sehe, hast du dich nicht allzu sehr besudelt, Shika.«

Die Hirschkuh schüttelte ihren Kopf. »Es ist genug!«, rief sie. »Das Töten muss ein Ende haben.«

»Ja. Begreifst du denn nicht?«, knurrte Uru, »Das ist genau der Grund, warum das Kind sterben muss.«

Für Shika war die Diskussion beendet. Die Hirschkuh wandte sich um und stolzierte davon. »Lassen wir sie. Sie soll den Menschen von uns berichten«, sagte sie im Weggehen.

»Berichten? Damit noch mehr kommen?«, rief ihr der Wolf hinterher. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Verdammte Blätterfresser! Er schwor sich, den anderen Tieren nie wieder zu helfen.

Als er in den Wald trottete, überholte er zahlreiche Rehe und Hasen, nicht wenige bluteten aus vielen Wunden. Viele würden die Nacht nicht überleben.

Für Kraa und ihre Artgenossen war der Tisch reich gedeckt.


Bring das der Großmutter

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