Читать книгу Wolfsnacht - M.P. Anderfeldt - Страница 9
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ОглавлениеDie hohen Buchen warfen tiefe Schatten, die Farbe der Blätter ließ aber immer noch etwas vom Hellgrün des Frühlings ahnen. Eichhörnchen huschten durch die Äste und ein Kuckuck ließ seinen Ruf ertönen.
Lilli atmete tief ein und schloss die Augen. Wenn nur dieser Durst nicht wäre. Das ständige Gluckern der Medizin in der Flasche erinnerte sie daran, wie lange sie schon nichts mehr getrunken hatte. Wie konnte man auch derart unvorbereitet auf eine solche Wanderung aufbrechen?
Da, was war das? Sie blieb stehen. Ein entferntes Rauschen? Vielleicht eine Quelle? Sie stellte sich vor, wie kühles, klares Wasser ihre trockene Kehle benetzte. Das musste herrlich sein.
Sie beschloss, es zu wagen. Wenn man das Wasser bis hierher hörte, konnte es nicht weit sein. Bestimmt hätte sie an der Quelle sogar noch den Weg im Blick, so war es völlig ausgeschlossen, dass sie sich verirrte.
Lilli folgte dem Geräusch und verließ den Weg. Mit ihren kostbaren Lederschuhen versank sie ein wenig im saftig grünen Moos. Sie wäre lieber barfuß gegangen, aber Mutter hatte darauf bestanden, dass sie »etwas Ordentliches« anzog, wenn sie die Großmutter besuchte.
Ein Hundertfüßler krabbelte unter einem Stein hervor und verschwand eilig hinter einem großen Blatt. »Es tut mir leid, ich wollte dich nicht stören«, sagte Lilli.
Sie legte den Kopf schief, um besser lauschen zu können und eilte weiter. Flink sprang sie um einen toten Baum herum, von dessen kahlen, ausgeblichenen Ästen lange Flechten herabhingen. Sie erklomm eine kleine felsige Anhöhe und stieg auf der anderen Seite wieder hinab. Hier standen noch ältere Bäume, ihr Blätterdach schien undurchdringlich und ließ nur wenig Licht auf den Boden gelangen.
Da war die Quelle. Das Wasser trat zwischen moosbedeckten Felsen zutage und rann in einen kleinen Tümpel, der sich darunter gebildet hatte. Vorsichtig, um ihr schönes Kleid nicht zu beschmutzen, kniete Lilli sich am Ufer nieder und schöpfte das kühle Nass mit den Händen. Im Dunkel des Waldes wirkte das Wasser schwarz und ein wenig unheimlich, als sie es aber an ihre Lippen führte, war es kalt und wunderbar erfrischend. Sie trank, bis ihr Durst gestillt war.
Sie wollte sich gerade erheben, als ein Reh aus dem Dickicht trat. Seine Nüstern zuckten, es witterte und drehte den Kopf mit den großen, wachen Augen in alle Richtungen. Es musste sie bemerkt haben, doch es ging ruhig auf den Tümpel zu. Vielleicht war es sehr durstig, oder es hielt Lilli nicht für gefährlich.
Am Ufer spreizte es die Vorderbeine, senkte den Kopf und tauchte das Maul ins Wasser. Nach jedem Schluck hob es den Kopf und sah sich aufmerksam um. Nach einer Weile schien es genug zu haben.
»Du solltest nicht hier sein«, sagte es, ohne Lilli anzusehen. Seine Stimme klang freundlich und klug, aber irgendwie auch nach Spaß, so wie eine beste Freundin klingen sollte.
Lillis Herz hüpfte vor Freude, weil ein so schönes Wesen mit ihr sprach.
Lautlos wurde ein Bolzen in eine gespannte Armbrust gelegt.
»Warum nicht, schönes Tier?«
Die Armbrust visierte ihr Ziel an.
»Irgendwas stimmt nicht, ich spüre es.«
Aufgrund der Entfernung galt es, etwas höher zu zielen und ein wenig nach rechts, um den Wind auszugleichen.
»Warum bist du dann gekommen?«
Eine andere Hand drückte die Armbrust entschlossen nach unten und machte eine abwehrende Geste.
»Meine Neugier war stärker als meine Vernunft. Raike hat von dir erzählt.«
»Raike! Ist er dein Freund?«
Das Tier legte den Kopf schief. »Das nicht gerade. Aber Raike und Shifang – wir tun uns nichts. Normalerweise.« Scheu sah sich das Tier um, seine Ohren drehten sich in alle Richtungen. »Dennoch sollte ich nicht hier sein.«
»Liegt Gefahr in der Luft?«
»In der Luft, ja.« Plötzlich erstarrte das Reh zur völligen Bewegungslosigkeit, nur seine Nüstern bebten noch nervös. »Pass auf dich auf.« Damit sprang es leichtfüßig davon.
»Halt, warte!« Doch es war schon fort, vergeblich rief Lilli ihm hinterher.
Sie sah sich um. Welches Unheil konnte hier drohen? Alles wirkte friedlich. Doch das konnte täuschen. Lilli war nicht so unbedarft, dass sie um die Gefahren des Waldes nicht wusste.
Ihr Vater war zwar ein Schreiber (und ein Träumer, wie Tante Sömma zu sagen pflegte), aber er durfte Bücher aus der fürstlichen Bibliothek mitbringen und überließ sie manchmal Lilli, damit sie darin lesen konnte. Sie wusste, dass es hier wilde Tiere gab und dass manche auch einem Menschen gefährlich werden konnten. Es wäre besser, wenn sie wieder zurück auf den Weg ging. Die Straße wurde von den Leuten ihrer Großmutter geschützt und bewacht.