Читать книгу Gewaltlosigkeit im Islam - Muhammad Sameer Murtaza - Страница 13
Die Glorifizierung von Gewalt
ОглавлениеAnthropologisch geht der Gelehrte von der Prämisse aus, dass der Mensch in sich sowohl ein Gewaltpotenzial als auch ein Friedenspotenzial besitzt. Je nachdem, zu welchem Selbstverständnis der Mensch über seine Rolle auf Erden gelangt, entwickelt er entweder eine Lebensweise, in der das Primat des Stärkeren oder das Primat der Barmherzigkeit gilt. Die jeweilige Lebensweise schafft wiederum eine entsprechende Kultur der Gewalt oder des Friedens.50
Nach Khan dominiert seit den frühesten Tagen der Menschheit bis in unsere heutige Zeit hinein eine Kultur der Gewalt, die sich in der Bewunderung für Kriege und Militärführer zeige. Bereits im Kindesalter werde man global auf diese Kultur geeicht, wenn im Geschichtsunterricht ausführlich die großen Militärkonflikte seit frühester Zeit und deren Strategen behandelt werden, während Friedenslehrer und Friedensstifter unberücksichtigt bleiben. Dadurch werde Kindern vermittelt, dass Militär und Krieg etwas Bedeutsames und militärische Führer Helden seien.51
Die muslimisch geprägte Welt stelle hierbei keine Ausnahme dar. Verbunden mit der raschen Expansion des Islam nach dem Tod des Propheten Muhammad 632, setzte zur Zeit der Umayyaden- (661–750) und der Abbasidendynastie (750–1517) die Entwicklung ein, das muslimische Heer zu motivieren, indem die Schlachten zur Zeit des Propheten zwischen der Oase Medina und der Handelsstadt Mekka glorifiziert wurden. Im Zuge dessen wurde der Prophet Muhammad als überragender Militärführer stilisiert. Prophetenbiografien erhielten den Titel maġāzī, was zu Deutsch militärische Unternehmungen bedeutet.52 So entstand im kulturellen Gedächtnis der Muslime der Eindruck, die islamische Frühgeschichte sei eine ununterbrochene Geschichte von Kriegen, Siegen und Eroberungen gewesen. Die Folgen waren, dass die muslimische Gemeinschaft den Glauben mit dem Anspruch verband, stets eine siegreiche, erfolgreiche und fortschrittliche zivilisatorische Kraft zu sein.53
Dieses etablierte Geschichtsbild wird nun von Maulana Wahiduddin Khan infrage gestellt. Er weist nach, dass der Prophet Muhammad an vier Kampfhandlungen beteiligt war, die der Verteidigung der Bevölkerung von Medina, nicht aber der Ausbreitung der Religion des Islam dienten. Es handelt sich bei ihnen um die Schlacht von Badr im Jahre 624 (2 n. H.), die Schlacht von Uhud im Jahre 625 (3 n. H.), die Schlacht von Khaibar im Jahr 629 (7 n. H.) und die Schlacht von Hunain im Jahr 630 (8 n. H.). Die Zeitabstände zwischen diesen Kampfhandlungen erwecken nicht den Eindruck, als wäre die Frühzeit des Islam eine endlose Aneinanderreihung von Schlachten gewesen. Die Dauer der Kampfhandlungen all dieser Schlachten zusammengenommen betrug 1½ Tage. Der indische Gelehrte erinnert daran, dass das Prophetentum Muhammads fast 23 Jahre, genauer, 8.130 Tage, währte. Also stelle sich die Frage, warum die Muslime diesen 1½ Tagen über alle Maßen Beachtung schenken und sich nicht fragen, was der Prophet die restlichen 8.128 Tage seines Lebens getan hat.54
Nach dem türkischen Historiker Resit Haylamaz hatten die ersten muslimischen Chronisten eine besondere Vorliebe für Heldengeschichten. Deshalb sei der Prophet überwiegend als Kriegsheld dargestellt worden.55 Auch Haylamaz recherchierte, wie lange die einzelnen kriegerischen Auseinandersetzungen in der medinensischen Phase, die Muhammad selbst angeführt hat, gedauert haben. Er kommt sogar zu dem Schluss, dass es wohl nicht mehr als 13 Stunden waren und damit die Tradition widerlegt sei, Muhammad wäre ein großer Kriegsheld gewesen.56
Als Nächstes betrachtet Khan die Verwendung des Wortes ğihād im Qurʾān. Die eigentliche Wortbedeutung lautet Anstrengung. Damit ist ğihād zunächst einmal ein zentraler spiritueller Begriff im Islam, der alle Handlungen eines Gläubigen umfasst, mittels derer er sich auf Gott zubewegt. In der Zeit des Propheten Muhammad beinhaltete dies auch die Pflicht zur Selbstverteidigung gegen die Angriffe der Handelsstadt Mekka.57
Wäre Medina durch die Mekkaner erobert worden, wäre der Bevölkerung, Männer, Frauen und Kindern, nur die Wahl zwischen der Rückkehr in den alten henotheistischen Glauben oder Tod durch das Schwert geblieben. Die Abwendung vom Glauben an den einen Gott hätte zwar die Menschen in Medina vor dem Tod bewahrt, allerdings hätten sie sich am Jüngsten Tag vor Gott hinsichtlich ihrer Integrität verantworten müssen. Um also einem Gemetzel zu entgehen und sich zugleich weiterhin zum Islam bekennen zu dürfen, sei es den Muslimen nach 13 Jahren des Verächtlichmachens, des Verfolgtwerdens, des Gefoltertwerdens und des Getötetwerdens erlaubt worden, sich mittels Waffen zur Wehr zu setzen. Khan verweist auf nachstehende Verse aus der Offenbarung, die diese Erklärung untermauern sollen:58
Und bekämpft auf Gottes Pfad, wer euch bekämpft, doch übertretet nicht. Siehe, Gott liebt nicht die Übertreter. (2:190)
Erlaubnis [zur Verteidigung] ist denen gegeben, die bekämpft werden – weil ihnen Unrecht angetan wurde –, und Gott hat gewiß die Macht, ihnen beizustehen; jenen, die schuldlos aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, nur weil sie sagten: „Unser Herr ist Gott!“ Und hätte Gott nicht die einen Menschen durch die anderen abgewehrt, wären (viele) Klöster, Kirchen, Synagogen und Moscheen, in denen Gottes Name häufig gedacht wird, bestimmt zerstört worden. Und wer Ihm helfen will, dem hilft gewiß auch Gott; denn Gott ist stark und mächtig. (22:39–40)
Der Griff nach den Waffen zur Selbstverteidigung war allerdings das letzte Mittel, nicht das erste Mittel, um sich vor einem Aggressor zu schützen. Alle Verse im Qurʾān, bei denen es um Kampf geht, sind im Rahmen der Selbstverteidigung und eines bereits in Gang befindlichen Krieges zu lesen. Eine Interpretation hierüber hinaus dürfen sie nicht erhalten, da ansonsten die ursprüngliche Bedeutung dieser Verse verfälscht wird.
Maulana Wahiduddin Khan beklagt, dass weder Extremisten muslimischen Glaubens noch Nichtmuslime sich die Mühe machen würden, krasse Verse wie: Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt. Und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben; denn Verführung ist schlimmer als Töten. (…) (2:191) in ihrem Offenbarungskontext zu lesen. Nur ein Vers zuvor heißt es: Und bekämpft auf Gottes Pfad, wer euch bekämpft, doch übertretet nicht. Siehe, Gott liebt nicht die Übertreter. Stattdessen würden beide Seiten Verse wie Sure 2, Vers 191 aus ihrem Kontext herausreißen und sie in ihrer Propaganda als das Recht zum Krieg missverstehen. Gleiches könne man aber auch mit Matthäus 10,34–37 tun: Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, wobei jeder Christ über diesen Schriftumgang empört wäre.59
Khan unterscheidet nun bei zwischenmenschlichen Konflikten zwischen zwei Arten von ğihād: dem übergeordneten friedvollen ğihād, verstanden als gewaltlosen Aktivismus, und dem gewaltsamen ğihād, in Khans qurʾānischer Terminologie qitāl, zu Deutsch Kampf, im Sinne der Selbstverteidigung.60
Qitāl ist demnach nur ein Unteraspekt des ğihād, der nur dann zur Geltung kommen durfte, wenn alle friedvollen Handlungsmöglichkeiten gänzlich ausgeschöpft waren und die eigene Auslöschung bevorstand.61
Der indische Gelehrte widmet sich dann der Frage, wer im Islam überhaupt legitimiert sei, zur bewaffneten Selbstverteidigung aufzurufen. Diese Frage ist hinsichtlich zahlreicher Organisationen wie Al-Qaida, IS, Boko Haram und Hisbollah von höchster Aktualität. Sich auf das islamische Recht stützend, erklärt der Gelehrte, dass einzig der gewählte Vertreter aller Muslime – den es heute nicht mehr gibt – den Selbstverteidigungsfall ausrufen darf. Alle militanten Bewegungen, die sich auf den Islam berufen, stünden eigentlich im Widerspruch zu den islamischen Rechtsauffassungen, die diese Gruppierungen angeblich vorgeben, wiederherstellen zu wollen.62 Maulana Wahiduddin Khan verweist hierbei auf einen Vers aus der Offenbarung, der eine Befehlskette hinsichtlich Krieg und Frieden aufstellt:63
Und wenn ihnen etwas zu Ohren kommt, das Frieden oder Krieg betrifft, verbreiten sie es. Wenn sie aber (stattdessen) dem Gesandten oder denen, die Befehlsgewalt unter ihnen haben, berichteten, so würden diejenigen es erfahren, die dem nachgehen können. Und ohne Gottes Gnade gegen euch und Seine Barmherzigkeit wärt ihr sicher bis auf wenige Satan gefolgt. (4:83)
Folglich, so Khan, seien diese Milizen aus dem islamischen Rechtsverständnis heraus als Terrororganisationen einzustufen, die, obwohl sie sich auf den Islam berufen möchten, sich nur auf ein pervertiertes Unwesen namens Islam stützen können, das nicht dem Religionsverständnis von 1,5 Milliarden Muslimen weltweit entspricht.64
Die Einstufung als Terrororganisationen ergibt sich dabei nicht nur aus der widerrechtlichen Bemächtigung zum Ausrufen des bewaffneten ğihād, sondern weil der sogenannte ğihād dieser Gruppierungen nichts mehr gemeinsam hat mit der islamischen Auffassung von Selbstverteidigung. Mit der Erlaubnis, sich mittels Waffen zu verteidigen legte der Prophet Muhammad den Muslimen zugleich eine Kriegsethik auf, die einzuhalten ist:
Nichtkombattanten sind zu verschonen,
destruktive Wirtschaftskriegsführung
und unnötige Zerstörungen von Infrastruktur sind zu unterlassen.65
Diese Kriegsethik wird jedoch, so der indische Gelehrte, von den militanten Bewegungen, die sich so gerne auf den Islam berufen, gar nicht eingehalten. Darüber hinaus hätten Gelehrte, die bestimmten militanten Bewegungen nahestünden, zugunsten diesen die islamische Kriegsethik pervertiert, indem sie beispielsweise Selbstmordattentate für legitim erklärten. Khan benennt hierbei den ägyptischen Gelehrte Yusuf Al-Qaradawi, der Mitglied der ägyptischen Muslimbruderschaft ist, die wiederum die Mutterorganisation der HAMAS ist. Khan hält Al-Qaradawi entgegen, dass die Selbsttötung niemals in der islamischen Geschichte als Märtyrertod verstanden wurde. Al-Qaradawi toleriere mit seinem Rechtsgutachten den im Islam rechtswidrigen Grundsatz, dass der politische Zweck alle Mittel heiligt. Politik, nicht der Qurʾān, werde damit zum wichtigsten Bezugspunkt im Denken dieses Gelehrten.66
Die Gleichsetzung von politischer Macht und Glaube, wie sie irrtümlicherweise von den Muslimen angenommen wurde, führte dann, so Khan, im Zuge des politischen Niedergangs der muslimischen Welt ab dem 18. Jahrhundert zu der Vorstellung, dass dies auch zugleich einen Niedergang des Islam bedeute. Khan macht jedoch unmissverständlich klar, dass es sich lediglich um einen Niedergang bestimmter Dynastien gehandelt habe. Der Glaube sei nicht gekoppelt an politische Macht. Nirgends im Qurʾān sei den Muslimen politische Herrschaft auf unbestimmte Zeit versprochen worden.67
Für den Gelehrten kann der Islam keine Religion der Gewalt oder der Gewaltverherrlichung sein, denn wie erkläre es sich dann, dass der Islam im Mittelalter eine der großen Menschheitszivilisationen hervorgebracht habe? Zivilisation befruchtet, Gewalt zerstört. Beides sind gegensätzliche Begriffe. Um die gegenwärtige Misere der muslimischen Gemeinschaft zu überwinden, müssten die Muslime für alle menschlichen Konflikte auf die Methode des Propheten Muhammad zurückgreifen, die Rache, Aggressionen und Vergeltung vermeide.68 Doch was bedeutet dies nun konkret?