Читать книгу Gewaltlosigkeit im Islam - Muhammad Sameer Murtaza - Страница 15
Braucht Frieden Gerechtigkeit?
ОглавлениеDer gewaltlose Ansatz von Maulana Wahiduddin Khan beinhaltet auch die Vorstellung, dass Frieden nicht immer einhergehen muss mit Gerechtigkeit. Die Schaffung und Erhaltung des Friedens sei höher zu werten als die Durchsetzung von Gerechtigkeit.97
Mit dieser Argumentation rechtfertigt der indische Gelehrte in seinen Schriften auch die Kolonisierung weiter Teile der muslimischen Welt. Er sieht in den europäischen Imperialmächten die Überbringer von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt, von dem die Muslime hätten profitieren können. Doch stattdessen hätten sie die Fremdherrschaft irrtümlicherweise als Unterdrückung wahrgenommen. Das Bestreben nach Emanzipation, Autarkie und Selbstbestimmung hätte allerorts in der muslimischen Welt antikoloniale und damit auch antiwestliche Bewegungen hervorgebracht, die schließlich die Kultur der Gewalt nur weiter gefestigt hätten.98
Khan rechtfertigt so nicht nur den Kolonialismus und verklärt ihn zu einer Zivilisierungsmission, sondern er erklärt die Opfer des europäischen Imperialismus zu den Schuldigen, da sie sich gegen die Fremdbestimmung zur Wehr gesetzt hätten.99 So wettert Khan gegen die Philosophen Jamal Al-Din Al-Afghani und Muhammad Iqbal ebenso wie gegen die Ideologen Hasan Al-Banna (1949), Abul Aʿla Maududi, Sayyid Qutb und Ruholla Khomeini (gest. 1989).100 Der Gelehrte begibt sich damit nicht nur in Widerspruch, dass er an anderer Stelle Al-Afghani als einen großen Denker des Islam lobt,101 sondern auch mit seiner Bewunderung für Gandhi, der sich ebenso gegen die britische Fremdherrschaft in Indien erhob.
Ebenso weist er Kritik an der US-Invasion des Iraks im Jahre 2003 zurück.102 Wie schon zuvor den Kolonialismus betrachtet Khan scheinbar auch den Krieg im Irak lediglich als einen Wechsel von politischer Macht, der gerechtfertigt sei durch die amerikanische Überlegenheit in Wissenschaft und Technik. Statt aufzubegehren, sollten Muslime diesen Herrschaftswechsel dankbar annehmen, um am westlichen Fortschritt zu partizipieren.103
Nahezu die gleiche Argumentationsführung überträgt der Gelehrte auf den Nahost-Konflikt. Er verengt ihn auf die Stadt Jerusalem und unterbreitet den Vorschlag, den religiösen vom politischen Aspekt Jerusalems zu trennen. Da politische Herrschaft stets im Wandel sei, sollten die Muslime die politische Dominanz Israels über Jerusalem akzeptieren, wobei der jüdische Staat Christen und Muslimen ungehinderten Zugang zu ihren Gebetsstätten garantieren müsse.104
Für die Misere des Nahost-Konfliktes macht Khan nicht die widersprüchlichen Zusagen Großbritanniens an Araber und Juden während des Ersten Weltkrieges verantwortlich (Hussain-McMahon-Korrespondenz vom 24. Oktober 1915, das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916, die Zusage Großbritannien an eine Gruppe von sieben syrischen Nationalisten am 11. Juni 1917 und die Balfour-Deklaration vom 2. November 1917),105 sondern die muslimischen Araber in Palästina. Diese hätten anerkennen müssen, dass das Land Palästina den Juden von Gott verheißen wurde, und sich mit dem UN-Teilungsplan von 1947 zufriedengeben sollen.106 Wenn die arabischen Muslime in Palästina die Juden als ihre Nachbarn akzeptiert hätten, so der indische Gelehrte, dann wären sie durch die Juden in den Genuss westlichen Fortschritts in den Bereichen der Naturwissenschaften und der Technologie gekommen.107
Der indische Gelehrte blendet damit jegliche Mitschuld von Europäern und Amerikanern an der Entstehung und Verfestigung antiwestlicher und antisemitischer Haltungen in der gebeutelten muslimischen Welt aus. Damit wird das gewaltlose Widerstandsrecht, das Khan oben formuliert hat, an eine Prämisse geknüpft: Gewaltloser Widerstand ist nur dann legitim, wenn der Gegner zivilisatorisch keinen Mehrwert bietet.
Auf diese Weise wird jedoch das Primat des Stärkeren legitimiert, das aber sicherlich nicht dem Frieden auf der Welt dient. Khan akzeptiert somit eine räuberische Welt, in der die Schwachen und Wehrlosen Objekte der Ausbeutung sind.
Frieden ohne Gerechtigkeit verurteilte Martin Luther King (gest. 1968) als einen falschen und negativen Frieden. Das Fehlen von Spannungen ergebe noch keinen richtigen Frieden. Hierzu bedürfe es der Gerechtigkeit. Unterdrückte müssten sich gegen ihre Unterdrücker erheben dürfen, und erst, wenn die Unterschiede zwischen beiden verschwänden, könne man von einem dauerhaften Frieden sprechen.108
Khans Konzept islamischer Gewaltlosigkeit verkehrt sich so zu einem Konzept gegen die eigene Gemeinschaft. Man könnte argumentieren, dass aggressive Impulse gegen Unterdrücker gegen die eigene umma gerichtet werden, indem man sich selbst exzessive Vorwürfe macht, sich für schuldig erklärt, sich selbst quält und sich selbst passiv verhält, um die Gunst der Unterdrücker zu erhalten. Man möchte so sein wie sie, um vom eigenen Versagen und der eigenen Schuld befreit zu werden. Man findet sich stillschweigend mit der Unterdrückung ab, arrangiert sich mit ihr und verklärt sie. Von daher will man unterdrückt bleiben. Man gewöhnt sich an die Sklaverei. So wie die Israeliten in der Wüste sich nach der Befreiung durch Moses nach den Fleischtöpfen Ägyptens gesehnt haben (siehe Sure 2, Vers 61). Aber wer ein ungerechtes System untätig hinnimmt, der arbeitet mit diesem System zusammen. Der Unterdrückte wird dann genauso schuldig wie der Unterdrücker. Martin Luther King schrieb: „Wenn man Ungerechtigkeit passiv hinnimmt, muss das der Unterdrücker als Bestätigung dafür auffassen, dass er moralisch richtig handelt. Und damit verhilft man ihm dazu, dass sein Gewissen einschläft.“109
Khans großes Defizit ist, dass er in seinen Überlegungen die strukturelle Dimension von Ungerechtigkeit und Unterdrückung gänzlich ausblendet. Khan mag sich hiervon erhoffen, den Fehler der Ideologen zu vermeiden, indem er Politik ausklammert. Der Islam ist keine politische Religion, aber der Islam ist eine Religion, die zum politischen Engagement für eine friedvolle und gerechte Welt aufruft. Nicht unähnlich dem Judentum und dem Christentum. King schrieb:
Gewiß, die jenseitigen Dinge haben einen bedeutsamen Platz in allen Religionen, die diesen Namen verdienen. Jede Religion, die völlig erdgebunden ist, verkauft ihr Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht. Religion im besten Sinne des Wortes befasst sich nicht nur mit den Dingen, die den Menschen im Augenblick beschäftigen, sondern auch mit dem Letzten, dem er nicht entrinnen kann. (…) Wahre Religion muss sich aber auch um die sozialen Verhältnisse des Menschen kümmern. Sie hat es mit beiden, mit Himmel und Erde, mit Zeit und Ewigkeit, zu tun. Sie sucht nicht nur die Menschen mit Gott, sondern auch die Menschen untereinander zu vereinen. (…) Jede Religion, die erklärt, sie kümmert sich um die Seelen der Menschen, und kümmert sich nicht um die Slums, die die Menschen ruinieren; um die wirtschaftlichen Verhältnisse, die ihnen den Hals zuschnüren; und um die sozialen Verhältnisse, die sie lähmen, ist saft- und kraftlos. Eine solche Religion sehen die Marxisten gern – sie ist Opium für das Volk.110