Читать книгу König und Dämon - N. H. Warmbold, Nicole Heuer-Warmbold - Страница 3
Kapitel 1 – Ein Priester
ОглавлениеEs war abzusehen gewesen, lediglich eine Frage der Zeit. Mara war von der Hohen Frau, Lorana, oberste Priesterin der Tempel von Samala Elis, oft genug gewarnt worden. Und doch hatte Mara gehandelt, wie sie glaubte handeln zu müssen, hatte sehr deutlich für Reik, der nun endlich auf seiner Suche, auf dem Weg zum Alten Berg war, Partei ergriffen. Gegen Lorana, gegen die vermeintlichen Interessen des Tempels.
Jetzt musste sie mit den Konsequenzen leben: den Tempel verlassen.
Sie empfand Dankbarkeit und Bedauern, beinah ein Gefühl der Trauer, sie hatte gern im Tempel gelebt, immens viel gelernt, ein neues Leben und sich selbst so viel besser kennengelernt. Aber sie war nicht willens, sich länger einschränken zu lassen. Außerdem wäre sie in gut einem Monat, eher weniger, ohnehin zu Davian, in sein Haus gezogen. Sie würden heiraten.
Was also störte sie, dass es nicht ihr Entschluss gewesen war? Dass Lorana ihr mit dem Rauswurf aus dem Tempelbezirk – nur wenige Tage, aber immerhin – zuvor gekommen war? War es nur das?
Sie hatte noch immer leichtes Fieber und fror trotz der Decke, die Davian ihr umgelegt hatte, trotz des Bechers heißen, dampfenden Tees, an dem sie ihre Finger wärmte. Starrte trübsinnig auf den kleinen Haufen mit ihren Sachen, zu müde, um einzuräumen, und stieß mit der Fußspitze leicht gegen eine Satteltasche. Papiere.
Davian, der in einem der Sessel vor dem Kamin saß, beobachtete sie mit grimmiger Miene. „Du bist nicht zufrieden.“
„Du?“, gab sie die Frage zurück.
„Bedingt. Ich hatte mir deinen Einzug hier ein bisschen anders vorgestellt, weniger überstürzt.“
„Glaubst du, ich hätte das geplant?“
„Ich glaube, du planst eher selten“, spottete Davian. „Du ergreifst Möglichkeiten. Gelegenheiten.“
„Bist du mir böse?“
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Überrascht, dass du tatsächlich da bist.“
Still lächelnd setzte sich Mara in den zweiten Sessel und zog die Füße hoch.
Davian verzog den Mund zu einem Grinsen und deutete mit dem Kinn auf den Brief, der auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen lag. „Von wem ist der?“
„Hauptmann Berit Remassey.“
„Und was schreibt dir dein Geschäftspartner?“ fragte Davian. „Oder sollte ich nicht fragen?“
„Doch, doch“, erwiderte Mara hastig. „es ist nicht … Er wünscht mir alles Gute für die Zukunft. Uns. Und …“
„Moment, du hast ihm von uns geschrieben?“
„Ja, dass wir heiraten werden. Sonst geht es aber eher um Geschäftliches oder um allgemeine Fragen. Es gibt eine Reihe von Dingen, die ich an der manduranischen Geschichte … Politik nicht verstehe, und dann frage ich halt Berit. Hauptmann Remassey.“
Verblüfft lachend beugte sich Davian im Sessel vor, fuhr sich über das Gesicht. „Und ich glaubte, ich kenne dich langsam. Ihr macht … Geschäfte?“
„Ja, das weißt du doch. Ich kann schließlich nicht davon leben, dass ich hin und wieder beim Kartenspielen gewinne.“
„Teufel, Mädchen!“ Davian lachte noch mehr, lauter, drückte sich aus dem Sessel hoch und kniete zu Maras Füßen nieder. „Sag mir jetzt nicht, du hättest wirklich Geld.“
„Na ja, nicht so viel. Aber ich könnte welches bekommen. Brauchst du Geld?“
„Nein.“ Er küsste sie hastig. „Nein, ich brauche kein Geld. Ich habe nur einfach nie genauer darüber nachgedacht, wovon du lebst, und …“ Fast entschuldigend lachte er wieder, nahm ihr die Tasse ab und legte seine Hände um ihr Gesicht, küsste Mara erneut. Zweimal, dreimal und mit wachsender Leidenschaft, ließ die Hände hinabgleiten zu ihrem Hals, ihren Schultern und drückte Mara gegen die Sessellehne, zerrte ihr Hemd hoch. Sie stöhnte leise, als seine Hände, seine Lippen ihre Brüste suchten und fanden. Er wanderte tiefer, über ihren Bauch, und sie stöhnte lauter und krallte die Finger in sein Haar, als er sich an ihrer Hose zu schaffen machte, ihre Schenkel liebkoste und über ihren Bauch zurückkehrte zu ihren Brüsten. Wo er die Reise ein weiteres Mal begann.
Mara bemühte sich gar nicht erst, die Beherrschung zu behalten, wand sich, räkelte sich unter seinen Händen, seinem Mund. Die Wärme des nahen Kaminfeuers, der dünne Teppich unter ihrem bloßen Rücken, Hitze in ihrem Leib, Feuer und lodernde Flammen …
Draußen schneite es.
Mara hörte den Wind in den kahlen Zweigen der Bäume auf dem kleinen Platz, blinzelte träge in Davians Gesicht empor, dicht über ihrem eigenen, und berührte sacht seine Wange. „Ganz rau.“
„Ich hab‘ mich noch immer nicht rasiert. Geht es dir gut?“
„Weißt du doch.“
„Als wir den Tempel verließen nicht“, stellte er fest.
„Nein, ich … Ich habe gern dort gelebt. Im Tempelbezirk. Meistens jedenfalls.“
„Ja, ich versteh schon, du … Machst du das die ganze Zeit?“
„Wie bitte? Was …“
„Zauberei! Heute im Tempel, du … Ich rede jetzt nicht davon, dass der Boden gebebt hat, aber du manipulierst die Leute, spielst deine verfluchten Machtspielchen, du … du hast sie dazu gebracht aufzustehen, alle! Lässt sie mit dir das Lied der Garde singen. Du bist eine verfluchte Magierin! Und ich Trottel glaub‘ auch noch, ich hätt‘ dich unter Kontrolle!“
Mara hatte sich aufgesetzt, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. „Wovon redest du eigentlich?“
Aber Davian sah sie nicht an, blickte in die Flammen. „Eben gerade, als du … Das Feuer hat aufgelodert, die Eisenstäbe vorm Kamin haben geglüht.“
„Oh, das …“
„Dein ganzes Gerede: von Macht, von Wissen, die ständigen Andeutungen … das ist kein überspanntes Getue, du bist wirklich eine verdammte Magierin. Und was für eine.“
„Schlimm?“
Endlich schaute er sie an, die Augen schmal zusammengekniffen. „Ich werd' dich trotzdem heiraten.“
Seine Gesichtszüge wurden weicher, als er die Arme um sie legte und Mara eng an sich zog. „Weißt du, noch bis vor ein paar Jahren habe ich geglaubt, ich hätte Chancen … geringe Chancen, obwohl ich vermutlich gut genug bin, selbst einmal Hauptmann der Garde werden, wenn Domallen den Posten aufgibt. Na ja, abgesehen davon, dass ich nicht aus einer der großen Familie stamme, kaum den richtigen Hintergrund, dafür aber einen miesen Ruf habe, selbstverschuldet. In den letzten Jahren hab‘ ich ’ne Menge falsch gemacht, und …“ Er lachte verächtlich auf. „Was ich sagen will, es hat nichts mit dir zu tun, damit, dass ich was mit dir angefangen habe.“
Er schob die Arme unter Maras Armen und Beinen durch, hob sie hoch und stand auf. „Du solltest ins Bett.“
* * *
Leif Domallen, König von Mandura, wusste, seine Frau weinte, ihre Tränen tropften auf seine Brust. Ein eigentümlich tröstliches Gefühl. Ihr leises Schluchzen sehr verhalten, kontrolliert, und so legte er die Arme noch ein wenig enger um sie: Alina Sadurnim, seine Königin.
Leif erinnerte sich noch gut an ihre allererste Begegnung, auf dem weitläufigen Anwesen der Familie Sadurnim auf den westlichen Ebenen, seinen ersten Eindruck von ihr: eine wache, viel zu intelligente, sehr lebhafte junge Frau; er war sofort verliebt. Eigentlich war sie zu jung, denn er sollte König sein und die Verantwortung, die Bürde des Amtes wog schwer. Er musste sich entscheiden und wählte sie, nicht Lorana, die Frau, die ihm bereits einen Sohn und Erben geschenkt hatte, bereute diese Wahl nie.
Er hatte sich immer um ein gutes, einverständliches Miteinander mit den Menschen bemühte, geriet mittlerweile jedoch allzu oft mit seinem Sohn aneinander. Sein Zweitgeborener ging keiner Konfrontation aus dem Weg, schien diese geradezu zu suchen, ja zu provozieren.
Im Laufe der Jahre hatte er Fehler gemacht, natürlich, sie mehr als einmal enttäuscht und verletzt, und inzwischen suchte sie ihn nicht mehr so oft im königlichen Schlafgemach auf; er bat auch selten darum. Wohl aber diese Nacht, in der er … sie ihren gemeinsamen Sohn hergeben mussten.
Und ja, er genoss ihre Gegenwart, durchaus, ihren immer noch straffen, biegsamen Leib, das Gefühl ihrer langen, seidigen Haare auf seinem nackten Oberkörper, seinem Bauch, und fragte sich abwesend, ob sie wohl heimliche Liebhaber gehabt hatte, noch hatte – er wusste es tatsächlich nicht –, und legte die Hand auf sein Glied. Er bemerkte Alinas Reaktion, fast ein Kopfschütteln, dann legte sie ihre Hand auf seine, rutschte tiefer.
* * *
Mara hatte Davians Geschmack noch auf den Lippen, roch ihn an ihren Fingern und blinzelte ihn zufrieden an, die Ellenbogen auf seiner Brust abgestützt. „Meinst du, er hat uns gehört?“
„Les?“ Davian ließ eine Hand über ihren Rücken gleiten, die andere lag fest auf ihrem Hintern. „Vermutlich, laut genug war es ja. Wird ihn aber wohl nicht weiter interessiert haben, er hat Dienst.“
Les war wie Marten Gardist in Davians Einheit. Mara hatte Davian einmal gefragt, warum immer die zwei für ihren Schutz zuständig wären, und er erklärte, sie wären rücksichtslose Dreckskerle, wenn es zum Kampf käme. Sie würden sich nicht von einem kleinen Mädchen auf der Nase herumtanzen lassen. Außerdem sei er sich ziemlich sicher, dass weder der eine noch der andere etwas von ihr wolle. Wobei er einräumte, bei Les könne man sich da nie sicher sein.
„Aber …“, wandte Mara ein.
„Aber was?“
„Was denkt er jetzt? Von mir?“
„Ist das wichtig?“, fragte Davian nach. „Dass du eine ziemlich laute Stimme hast, ein unanständiges, verdorbenes kleines Mädchen bist und es gerade wild mit seinem Hauptmann getrieben hast, das wird er denken.“
Es war ein unangenehmer Gedanke, dass Les vermutlich genau wusste, was Davian und sie getan hatten. Aber ahnte sie denn, was Les sich für Vorstellungen von ihr machte, ohne irgendwelche Hinweise dafür zu haben? Was störte sie also daran, jeder machte sich Bilder, Vorstellungen. Vielleicht nicht so konkret und farbig wie Les, aber trotzdem. „Ich weiß nicht.“
Davian zupfte an einer widerspenstigen Locke, strich sie Mara hinters Ohr. „Was weißt du nicht, Zauberin?“
„Ich weiß einfach nicht, so viel passiert, so viele Dinge sind im Geschehen begriffen. Ich … bin unruhig. Der Unterricht fehlt mir, die Bewegung. Ich habe das Gefühl, ich müsste hunderte, tausende Dinge tun, stattdessen liege ich krank im Bett, untätig.“
„Sehr krank scheinst du mir aber nicht mehr zu sein.“
„Nein, nicht mehr.“ Mara erwiderte sein Grinsen, wurde aber gleich wieder ernst. „Meine Gedanken sind … wie verwirrt, als würde ich auf etwas warten. Ich warte tatsächlich, bereite mich vor, nur weiß ich nicht mal, auf was.“ Kläglich verzog sie das Gesicht. „Ich fühle mich miserabel vorbereitet. Etwas geschieht, geschieht jetzt!“
„Du meinst nicht die Suche?“
„Nein, das … weiß ich. Spüre ich. Sie versuchen zu schlafen, trotz der Kälte.“
„Erzähl mir mehr.“
„Es gibt nicht viel zu erzählen: Sie sind den ganzen Tag geritten, es hat geschneit, zwischendurch hat Reik versucht, ein Kaninchen zu fangen. Er sollte es lieber mit Fischen probieren, das ist einfacher.“
„Kann er wirklich nicht mehr … Hat die Hohepriesterin ihm tatsächlich die Stimme genommen? Auf welche Weise auch immer?“, wollte Davian wissen.
„Er darf nicht sprechen. Wie ein Schweigegelübde“, erklärte Mara. „Es ist Teil der Prüfung, der leichteste Teil.“
„Und der schwierige Teil?“
„Das … Ich war ja nie auf einer derartigen Suche. Die Zweifel, das, was sich in seinem Geist abspielt. Der Aufstieg auf einen feindlich gesonnenen Berg dürfte recht gefährlich werden. Und dann natürlich die eigentlich Suche, wenn er vor die Götter tritt.“
„Nackt, was um diese Jahreszeit Selbstmord ist.“ Davians Stimme klang düster.
„Nein.“ Mara schüttelte entschieden den Kopf. „Nicht, wenn er den Trank zu sich nimmt. Damit übersteht er mindestens einen Tag und eine Nacht schlafend in der Höhle, ohne zu Schaden zu kommen.“
Davian musterte sie skeptisch. „Du bist nicht vielleicht doch eine Priesterin, offenbar kennst du dich bestens aus?“
„Ich hatte Unterricht in Pflanzen- und Heilkunde. Und dieser Trank ist sehr stark in seiner Wirkung.“
„Trinkt die Priesterin … Réa auch davon?“
„Zwei, drei Schlucke.“
„Und was passiert dann?“
„Ich weiß es nicht“, gab Mara zu. „Nirgendwo in den Aufzeichnungen des Tempels oder im Archiv der Könige wird dieser Teil der Suche eines Winterkönigs beschrieben, lediglich einige formale Einzelheiten. Die Pilze und Krähenbeeren bewirken starke Halluzinationen und dann … Lorana sagt, der Jäger wird von ihm Besitz ergreifen, und was danach geschieht, hängt von Reiks geistiger Stärke ab.“
„Verstehe. Krähenbeeren werden auch in anderem Zusammenhang verwendet.“
„Ja.“ Mara nickte. „Aber so verschieden ist der Zusammenhang nicht.“
„Der Hauptgrund, warum die Hohepriesterin nur widerwillig ihre jungfräuliche Stellvertreterin geschickt hat. Der Grund, warum du in Sorge um deine Freundin bist. Ihr habt Angst, dass er, abgefüllt mit Drogen, über sie herfällt und sie vergewaltigt.“
„Das habe ich nicht gesagt!“
„Du hast genug angedeutet“, konstatierte Davian. „Verliert er wortwörtlich alles, wenn er versagt, Besitz, Rang, Privilegien?“
„Wenn er versagt, ist das alles nicht mehr von Bedeutung. Er würde nicht zurückkehren.“
„Und das sagst du so unbewegt, Mädchen? Du hast den Mann geliebt, liebst ihn möglicherweise …“
Hastig hielt Mara Davian den Mund zu, blickte ihn verzweifelt an. „Er wird nicht versagen!“
Davian zog sanft ihre Hand weg und nahm sie in den Arm. „Entschuldige, das war unnötig. Grausam.“ Abwesend streichelte er ihr Haar, schien in Gedanken weit weg. „Ich hasse es, das einzugestehen, aber ich bin neidisch … eifersüchtig auf den Kerl, und mitunter fühle ich mich ihm reichlich unterlegen. Dabei kann ich ihn an einem guten Tag sogar im Zweikampf schlagen.“
„Kannst du?“
„Aye, aber sieben von zehn Kämpfen gewinnt er, mit dem Schwert sogar neun von zehn. Ich kenne keinen, der mit dem Schwert eine ernsthafte Chance gegen ihn hätte. Vielleicht mal Jula, in einigen Jahren.“
„Oh.“
„Was?“, horchte Davian auf.
„Dann habe ich ihn an einem wirklich schlechten Tag kämpfen sehen. Er wurde verletzt.“
„In einem Zweikampf? Das muss allerdings ein ausgesprochen schlechter Tag gewesen sein. Was hat er gemacht, die Nacht davor durchgesoffen, mit drei Weibern im Bett gelegen?“
„Wie?“
Spöttisch lachend zog Davian sie wieder an sich. „Das war nicht ernst gemeint, Mara, du …“
„Hast du das mal gemacht?“, wollte sie wissen.
„Was, die Nacht durchgesoffen? Oder mit drei Frauen im Bett gelegen?“
„Das letzte.“
„Gar nicht neugierig. Nicht mit dreien, aber mit zweien.“
„Und?“, fragte Mara nach.
„Und was?“
„Wie war das? Mit zwei Frauen im Bett?“
Davian betrachtete sie eindringlich, der Ausdruck auf seinem Gesicht undeutbar. „Eng. Auf sehr angenehme Weise eng.“
„Verstehe. Ich war noch nie mit zwei Männern im Bett.“
„Das …“, Davian atmete sehr gleichmäßig, sehr bewusst, „… wundert mich jetzt nicht unbedingt. Aber mit zwei Frauen?“
„Nicht auf diese …“ Sie stutzte. „Du machst dich über mich lustig!“
„Ich bin vollkommen ernst.“ Nur sah er nicht so aus, grinste unterdrückt.
Sie redeten die ganze Nacht, über alles und nichts, ihn und sie. Von Leuten, die sie kannten, ernste und nicht so ernste Angelegenheiten. Kurz vor Morgengrauen ging Davian dann hinunter, um Tee zu machen.
Mara zögerte, ob sie ihm folgen sollte. In der Küche würde sie Les begegnen, und das … Ihren lächerlichen Bedenken zum Trotz stand sie auf, zog sich an und ging nach unten.
* * *
Es schien ein trockener, sonniger Tag zu werden, richtig schön, der Himmel weit, nahezu wolkenlos. Nachdem es die letzten drei Tage durchgehend geschneit hatte und empfindlich kalt geworden war. Er fühlte sich gut, ausgeruht, und verließ den kleinen, baufälligen Schuppen, ein Unterstand für Vieh: Schafe oder Rinder, in dem sie die Nacht verbracht hatten, fast mit ein wenig Bedauern. Atmete tief die kühle, frische Luft ein und half der Frau in den Sattel. Flüchtig dachte er daran, dass Gènaija keine Hilfe gebraucht hätte; es war ungerecht, die Frau brauchte seine Hilfe letztendlich doch auch nicht, und Gènaija … Er sollte nicht an sie denken, sollte sich auf sein Ziel konzentrieren.
Noch sechs, sieben Tage, wenn das Wetter hielt. Vermutlich zu optimistisch, zu zuversichtlich geschätzt, aber warum auch nicht. Bisher hatten sie nicht einmal richtig hungern müssen, hatte er immer Nahrung aufgetrieben. Beute erlegt. Und die Gesellschaft der Frau, die Nähe einer lebenden, warmen Person war tatsächlich angenehm. Wohltuend, noch hielt ihre Gegenwart die Geister und Dämonen auf Abstand.
Würde nicht so bleiben, er spürte ihre Einflüsterungen, ihr Drängen, sein Drängen ja jetzt schon. Noch war der Gipfel des Alten Berges jenseits der Baumwipfel weit hinter den ersten, schneebedeckten Höhen der Berge von Angarask nicht zu sehen, noch nicht einmal zu erahnen. Wenn sie dem Berg näher kamen, würde sein Einfluss, diese dunkle, unüberhörbare Stimme in seinem Geist immer lauter, präsenter werden, ihn bedrängen, ihn mit verführerischen Bildern und unerwünschten Visionen quälen und martern.
Das Geäst der blattlosen Baumkronen vor der grellen Helligkeit des Himmels glich schwarzer Spitze. Sie hatte zur Mittsommernacht ein Kleid aus Spitze getragen, rote Spitze auf ihrer blassen Haut. Er erinnerte sich, der Duft ihrer warmen Haut, seine Fingerspitzen auf ihrer nackten Haut, als er die Schleifen und Bänder gelöst, ihr dieses kostbare Gewand vom Leib gestreift … der Anblick ihrer Brüste, und er glaubte erneut ihren raschen Herzschlag unter seinen Lippen zu spüren, biss die Zähne zusammen. Er wollte, sollte jetzt nicht daran denken! Nicht an sie, Gènaija, die er verloren hatte, die einen anderen heiraten würde. Er krampfte die Finger um die Zügel seines Pferdes. Sollte nur an sein Ziel … Aber der Gedanke machte ihn rasend, die Vorstellung, dass dieser verdammte Davian sie … dass er mit ihr … Sie gehörte ihm!
Er schrie fast auf, hatte unwillkürlich das Pferd angetrieben, doch wozu? Fort von ihr? Er sah den Weg vor sich, diesen leuchtenden, verlockenden Pfad, der ihn immer tiefer in die Wälder führen würde, immer höher hinauf in die Berge. In die Irre?
Vielleicht war es nur ein fragender Laut der Frau, die gleich ihm nicht sprach, der ihn innehalten ließ, vielleicht auch bloß ein Windstoß, irgendein Geräusch. Es war unwichtig, er verlor jenen anderen Pfad aus dem Blick und wandte sich seinem ureigenen Weg zu.
Dem Weg zum Alten Berg, diesem feindseligen Koloss aus Fels und Stein, aus Schnee, Eis und Kälte. Seine Zukunft, die ihn zu Tod und Verderben, die in den Krieg führen würde. Winterkönig, er schmeckte Blut.
* * *
‚Sie, die über die Schlachtfelder wandelt, gekleidet in zerrissene schwarze Schleier, gekrönt von einem Kranz blutroter Dornen …‘
Warum musste Jo’quin immer daran denken, wenn er die junge Frau sah? Nicht oft, viel zu selten. Sie war jung, so herzergreifend jung, schmerzhaft schön.
Das erste Mal hatte Jo’quin sie im Tempel gesehen, neben diesem harten, grimmigen Bewaffneten, unerreichbar. Zuvor hatte er lediglich von ihr geträumt, heftigst geträumt – es hielt sich das hartnäckige Gerücht, seine Priester lebten enthaltsam; nur ein Gerücht, denn auch sie liebten, begehrten. Hatte sich stöhnend auf seinem Lager gewälzt.
Sie hatte gesungen, als er, der Namenlose, aufgebrochen war. Der Klang ihrer Stimme hatte Jo‘quins tiefstes Inneres berührt.
Oh ja, er verstand das Prinzip dieser Prüfung, erkannte nur zu gut, was dahinter steckte. Natürlich, er war ein Priester des Jägers und die geistige Suche eines Priesters gestaltete sich in ähnlicher Weise, war allerdings weniger aufwändig.
Und der Mann an ihrer Seite? Ein Krieger, krank im Herzen, in der Seele, der leiden würde ob seines Hochmuts, unwissend und blind bei einer Göttin zu liegen. Jo‘quin würde ohne zu zögern, ja mit Freuden mit ihm tauschen. Er suchte, sehnte sich nach ihr, wollte ihr nur zu gern erneut begegnen, ihrer Stimme lauschen, sich an ihrem Anblick ergötzen. Sich in Ekstase mit ihr vereinen, aber das wagte Jo’quin nicht einmal zu denken. Der Krieger, ihr Streiter, würde ihn erschlagen, bevor er auch nur die Hand gehoben hätte, ihren Leib zu berühren, aber selbst das … Ihr nahe sein.
Die Menschen waren so ahnungslos, so unerträglich dumm! Und er selbst … eidbrüchig, sein nutzloses Leben verwirkt, weil er sie begehrte, sie anbetete, schon bevor er ihr auch nur begegnet war. Ahnte, wusste sie denn von seinem Opfer, hatte sie ihn überhaupt bemerkt an jenem Tag? Aber er sollte, er wollte nicht an ihr zweifeln, sollte sie mit jedem Atemzug, jedem seiner Gedanken wertschätzen und preisen. Bis er es Wert war, den Staub zu küssen, den ihre Sohlen berührt hatten – Jo’quin lachte harsch, es verlangte ihn nach weit mehr, sehr viel mehr.
Wie getrieben sprang er auf und verließ die karge Unterkunft, trat hinaus in den Schneeregen, den beißenden Wind. Streifte durch die Gassen und Straßen dieser so lebendigen Stadt, wohl ahnend, dass er sie nicht treffen würde. Es dämmerte bereits, war kalt, und die Menschen zog es in die Wärme und den Schutz ihrer Häuser. Auch Jo’quin betrat, angelockt von dem warmen Licht, das durch die kleinen Butzenscheiben auf seinen Weg fiel, eine der zahllosen Schenken. Es gab etliche hier, diese kannte er allerdings noch nicht. Nicht die lauteste, billigste, wie ihm schnell klar wurde. Die Bedienung, eine nur mäßig offenherzig gekleidete Frau, nickte ihm grüßend zu und wies auf einen Tisch.
Jo’quin nahm Platz, schob die Kapuze zurück und schaute sich unauffällig um; er sollte die Gäste, fast ausschließlich Männer, nicht neugierig anstarren.
„Willst du auch was bestellen oder nur gucken?“
Verdutzt sah Jo’quin die Frau an und nickte verlegen. „Bier.“ Das Wort kannte er inzwischen.
„Is‘ ja ganz was Außergewöhnliches …“ Die vollen Lippen der Bedienung kräuselten sich zu einem reichlich spöttischen Lächeln. „Sollst du kriegen, mein Hübscher. Spezial des Hauses?“
Wieder nickte Jo’quin nur und erwiderte ihr Lächeln.
Sie lachte. „Gut. Und wenn ich mit deinem Bier komme … und du deine Zunge wiedergefunden hast, verrätst du mir deinen Namen, Hübscher.“ Schwungvoll drehte sie sich um und schritt mit wiegenden Hüften davon.
Er lächelte still in sich hinein, verblüfft und zugleich erfreut über die unerwartete Ablenkung. Schaute erneut auf die anderen Gäste, bei denen es sich wohl ausschließlich um Soldaten handelte, auch wenn kaum einer Uniform trug. Gar … Gardisten? So ganz klar war ihm die Unterscheidung nicht; er war noch nicht lange genug in diesem Land, kannte niemanden näher. Er sollte das schleunigst ändern, verstand so vieles im Verhalten der Menschen hier nicht. Verstand die Sprache nur in Ansätzen, ein paar Worte, niedergeschlagen stützte er das Kinn auf die Hand.
Sah überraschend schnell die Bedienung mit einem Krug Bier zu seinem Platz zurückkehren. Der Schaum quoll fast über den Rand, tropfte über ihre Finger.
„Jo‘quin“, stellte er sich vor. „Von Erian Jasa.“
„Joaquin von Erian Jasa, verstehe“, wiederholte sie, lachte und setzte das Bier vor ihn. „Und er hat eine Stimme, eine angenehm raue, dunkle Stimme.“
Er verstand kaum die Hälfte ihrer Worte, schüttelte leicht den Kopf.
„Bist nicht von hier, das war mir klar.“ Sie verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. „Solche wie du … Ganz allein?“
Jo’quin biss sich auf die Lippen und hob hilflos, entschuldigend die Hände.
Die Frau rutschte auf den Stuhl an seinem Tisch, legte kurz die Finger auf seine Hand. „Ah, und du verstehst kein Wort von meinem Gequatsche, so ’n Mist. Na ja, was ich eigentlich sagen … Ich bin Kara.“ Bei ihren letzten Worten zeigte sie auf sich.
Bestätigend nickte Jo’quin und wiederholte ihren Namen, wurde mit einem weiteren Lächeln belohnt. Die Frau hatte einen schönen, großzügig geschnittenen Mund. Eine üppige weibliche Figur, doch ließ er seinen Blick jetzt besser nicht tiefer wandern, sie würde es vielleicht als Aufforderung missverstehen. Deswegen war er nicht hier.
Aber bereits im nächsten Augenblick hatte er die Frau, ihren Körper, ihren Mund, das alles vergessen und starrte nur auf die eben hereinkommenden Gäste. Sie. Sie! Und sie …
„Oh, mach den Mund zu, Joaquin, und denk nicht mal dran“, zischte ihm die Frau, Kara, zu. „Davian bringt dich um, wenn du die Kleine nur falsch ansiehst.“
Irritiert sah er Kara an und stand auf. „… Davian?“
„Der große, böse Kerl … Gardehauptmann neben ihr.“ Sie seufzte. „Weißt du, ich versteh dich, mein Hübscher, jeder versteht dich. Aber er wird sie heiraten. Wieso bist du …“
Er schüttelte nur abwehrend den Kopf, trat einen Schritt zur Seite, auf die Göttin zu, kreuzte die Arme vor der Brust und verneigte sich tief.
„Lasst das! Hört sofort damit auf!“ Ihre Stimme klang tadelnd, fast ein wenig zornig.
Überrascht richtete Jo’quin sich auf und wagte kaum, ihr ins Gesicht zu sehen – obwohl er nichts lieber wollte. „Aber …“
„Ich schätze es nicht, wenn sich ein Mensch, den ich nicht einmal kenne, derart vor mir verbeugt. Aus welchen Gründen auch immer. Und erzählt mir nicht, das wäre auf den Inseln oder bei Euch … Priestern so üblich.“
„Ihr … Verzeiht, ich …“ stotterte Jo’quin. Sie schalt ihn, sprach immerhin Südländisch, war wütend, bloß weil er … Hätte er sich ihr doch zu Füßen werfen sollen? „Es lag nicht in meiner Absicht, Herrin, Euch in irgendeiner Form zu kränken oder zu beleidigen.“
„Nee …“ Sie unterdrückte sichtlich ein Grinsen und musterte ihn neugierig. „Aber wenn Ihr diese Anrede wiederholt, werde ich mich nicht mit Euch an einen Tisch setzen. Priester.“
Er verstand, glaubte zu verstehen, wenigstens das eine, und stellte sich hastig vor. Vermied es dabei tunlichst, sich angemessen tief zu verneigen. „Jo’quin. Es ist mir eine große Freude und Ehre, Euch zu begegnen.“
„Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Jo’quin.“ Und sie sprach seinen Namen perfekt aus! „Mara I’Gènaija. Von Ogarcha, auch wenn das … inzwischen unerheblich ist. Meine Begleiter: Hauptmann Sandar Sadurnim und Hauptmann Davian“, stellte sie ihm die beiden Männer vor; der erstgenannte ein wirklich großer, wuchtiger Mann, der zweite jener grimmige Krieger, den er bereits im Tempel gesehen und vor dem ihn Kara wohl gerade gewarnt hatte.
„Sehr erfreut“, murmelte er, überrascht, überrumpelt. So hatte er sich den Abend sicher nicht vorgestellt, am Tisch mit ihr und zwei Hauptmännern. Gardehauptleuten, den schlimmsten … den besten Kämpfern, die es in den Nordlanden gab.
„Kara, meine Liebe, bringst du uns auch ein Bier? Und für den Knaben hier eine Portion Eintopf mit ordentlich Speck“, wandte sich der größere Kerl an die Bedienung, bevor er sich dicht neben sie, Mara, setzte. Ihm gegenüber. Und sie betrachtete ihn noch immer aufmerksam, jetzt aber gar nicht mehr streng, sondern sehr interessiert. Neugierig. „Ihr seid einer von den … ein Priester des Jägers, Jo’quin?“
„Das ist richtig.“
„Ihr seid aber nicht allein hier, oder?“
„Das wisst Ihr doch, He… Mara.“
Sie lächelte, nickte bestätigend. „Ich habe neulich drei von Euch im Tempel gesehen.“
„Wir waren da, als der Namenlose aufgebrochen ist. Nicht alle Brüder, die derzeit in der Stadt weilen. Aber auch das …“ Er holte tief Luft, wappnete sich. „Ihr lest meine Gedanken, Herrin.“
„Das würdet Ihr an meiner Stelle ebenfalls tun, Jo’quin. Es treiben sich zu viele merkwürdige Gestalten in der Stadt herum, und nicht alle möchten bloß ein Bier mit mir trinken.“
Er nickte sacht, leckte sich die Lippen. „Meint Ihr die Zauberer? Die sind nicht Euretwegen in Mandura.“
Wieder umspielte ein zartes Lächeln ihre Lippen; Jo’quin wurde klar, dass er bereits viel zu viel gesagt hatte, schwieg bedrückt. Sie trug diese Jacke, Lammfelljacke; nicht die Jacke seines Bruders, doch dieser sehr ähnlich. Und der Gedanke an seinen jüngeren Bruder, der vor wenigen Jahren ums Leben gekommen war, drückte ihm noch mehr aufs Gemüt.
Kara brachte die Getränke und für ihn auch einen Teller Suppe, stellte einen Korb mit frischem, knusprigen Brot in die Mitte des Tisches, dazu mit Kräutern vermengte Butter. Es duftete köstlich, und plötzlich verspürte Jo’quin Hunger, richtig Hunger, sein Magen knurrte.
* * *
Tessa hatte die Arme um die angezogenen Knie geschlungen und starrte aus dem Fenster. Doch sie hätte nicht einmal sagen können, ob es erneut schneite oder bloß regnete, bereits dämmerte oder gar schon Nacht geworden war.
Seit sie an jenem Tag im Tempel am Altar gestanden und mit den anderen auf Reiks Aufbruch – sie weigerte sich, von ihrem Bruder als ‚der Namenlose‘ zu denken – gewartet hatte, fühlte sie sich niedergeschlagen und wie zerrissen. Aufgewühlt, launenhaft, sie … Oh, sie vermisste ihn! Weilte in Gedanken ständig bei Reik, folgte ihm auf seiner Suche. Gedanklich und auch nur eingebildet, sie konnte das nicht, aber … Konnte Mara das, ihm im Geiste folgen? Wusste sie, wo genau Reik war, was er tat, wie es ihm ging? Die Vorstellung, einem Menschen derart nahe zu sein …
Aber Reik hatte die junge Frau geschlagen, Mara daraufhin mit ihm gebrochen und heute … plante Mara Hauptmann Davian zu heiraten. Oder der sie. Eine seltsame und völlig verrückte Geschichte, der Gardehauptmann schien Tessa der so am wenigsten wahrscheinliche, ungeeignetste Heiratskandidat für irgendeine Frau. Davian! Lucinda hatte laut gelacht, als sie Tessa davon erzählt hatte – die wusste es natürlich von Sandar.
Doch jetzt, nach deren Bruch mit ihrem Verlobten, ihrer Weigerung, einen Soldaten zu heiraten, wo doch der Krieg drohte, lachte Lucinda nicht mehr. Nicht mehr so oft und schon gar nicht mehr so laut. Ihre Freundin wanderte wie ein einsamer, verlorener Geist durch die Flure und Korridore des Palastes; sie tat Tessa leid. Und Sandar, Tessas Vetter, war sauer, richtig sauer, was Tessa gut verstehen konnte. Die zwei hätten jetzt im Herbst, Spätherbst … Aus, vorbei, keine große, großartige Vermählung, Vereinigung zweier bedeutender Familien, nichts mehr.
Nur noch mehr oder minder geduldiges Warten auf die Rückkehr … nein, auf die Ankunft des Winterkönigs. Tessa wartete wie alle anderen, zählte die Tage, ein nutzloses Unterfangen, da sie gar nicht wusste, wie lange eine solche Suche dauerte. In der Stadt … aber eigentlich kannte Tessa nur die Stimmung im Palast, vielleicht noch der Festung, in Samala Elis selbst war sie eher selten. Viele fremde, zwielichtige Besucher, hieß es, zu viele, und die kamen inzwischen sogar in den Palast.
Na ja, zwei Besucher, Fremde, denen Tessa zufällig begegnet war, als die um eine Audienz beim König ersucht hatten. Das hatte ihr Hauptmann Minto schmunzelnd verraten; die Männer mussten ungehört wieder gehen. Wie genau Tessa mit dem Hauptmann ins Gespräch kam, recht locker und gar nicht peinlich, hätte sie im Nachhinein nicht sagen können. Doch sie plauderte geraume Zeit mit ihm in einem ungenutzten, mit Stühlen, Sesseln und anderen Möbeln vollgestellten ruhigen Nebenraum, der ihr zuvor nie aufgefallen war, völlig ungezwungen. Minto nahm es mit der sonst üblichen Strenge und Distanziertheit der Gardisten offenbar noch immer nicht so genau.
„Wisst Ihr denn, wer diese Männer … Ich meine, woher sie kommen?“, wollte Tessa wissen.
„Nicht aus Mandura, aber auch ganz bestimmt nicht aus Kalimatan. Sonst säßen wir zwei hier nicht so friedlich beisammen, was ich doch recht bedauerlich fände.“ Er nickte ihr freundlich zu, dirigierte sie zu einer breiten, üppig gepolsterten Couch. „Der eine Kerl kommt wohl aus dem Westen, von den Inseln. Sein schwarzer Kumpel von sehr, sehr weit südlich der Tameran-Kette. Mit mir haben sie natürlich nicht geredet, nur untereinander, so dass ich kein Wort verstanden habe. Komische Typen, die sich für äußerst wichtig und bedeutsam halten und entsprechend unwirsch waren, weil sie schon zum zweiten Mal nicht angehört wurden.“
„Und was wollten sie? Von meinem Vater, meine ich?“
„Tja, gute Frage, Prinzessin. Wenn ich raten müsste: Geht um den Krieg. Und um Euren Bruder, mit dem sie eigentlich sprechen wollten.“
Sie legte den Kopf schräg. „Dann müssen sie wohl warten wie wir alle.“
„Aye.“ Minto lachte leise. „Und das fällt schwer. Auch Euch, Prinzessin? Ich sehe Euch schon die ganzen Tagen hier herumirren, als hättet Ihr etwas enorm Wichtiges verloren.“
„Nein, ich …“ Tessa unterbrach sich, fing neu an. „Doch. Ich vermisse ihn. Und ich weiß nicht, warum Reik mir so fehlt. Er war doch auch zuvor bereits unterwegs, auf längeren Reisen.“
„Is‘ nich‘ das gleiche, diesmal“, murmelte Minto. „Wusstet Ihr, dass die Leute ihm und der Priesterin zum Abschied den ganzen Weg hinaus aus der Stadt das Lied der Garde gesungen haben?“
Tessa schüttelte den Kopf. „Wie bitte? Woher …“
„Ich stand zufällig am Nordtor.“ Er griff nach ihrer Hand, drückte sie bestätigend. „Die Menschen lieben Euren Bruder, Tessa.“
„Ja, ich weiß“, brachte sie mit zitternder Stimme hervor. „Aber wozu erzählt Ihr mir …“
Minto barg ihre Hand fest in seinen großen, schwieligen Händen und neigte sein Gesicht dicht an ihren gesenkten Kopf. „Ich hoffte, Euch ein bisschen aufzumuntern. Ihr seid nicht allein, Prinzessin, Ihr seid nicht die einzige, die ihn vermisst.“
„Das ist nicht …“
„Doch!“ Hastig drückte er ihr einen Kuss auf den Scheitel. „Die ganze Stadt, das ganze Land wartet sehnsüchtig auf den Winterkönig, Tessa. Auf Euren Bruder.“
„Ja“, murmelte sie erstickt, überwältigt von ihren Gefühlen. Konnte der Mann sie nicht einfach in den Arm nehmen und ganz fest an sich drücken, so fest, dass sie kaum noch atmen und sich erst recht nicht rühren konnte, ohne viel zu reden? Ihr einfach nur nahe sein? Sie wollte doch gar nicht viel, bloß seinen Körper spüren, einen anderen Leib, einen Mann, sich mit aller Kraft an ihn pressen. Um ihn – und sich – wirklich und wahrhaftig zu spüren. Seufzend ließ Tessa sich gegen ihn sinken, schlang lediglich einen Arm um seinen Nacken. Dann wäre die Blamage vielleicht nicht gar so groß, wenn er sie zurückwies.
„Tessa?“ Doch Minto wies sie nicht zurück, im Gegenteil, er hielt sie fest. ‚Sanft umfangen‘, ging ihr durch den Kopf, und sie seufzte erneut, aber ganz leise. „Hauptmann.“
Er lachte, überrascht und belustigt zugleich, und hob ihr Kinn an, um sie auf den Mund zu küssen. Zwei-, dreimal, vielleicht auch öfter, sie zählte nicht mit, drängte sich nur noch enger an ihn und legte die Hand an seine Wange. „Ist das schlimm?“
Minto schüttelte zögernd den Kopf. „Nein.“ Lachte einmal mehr und küsste sie nicht mehr ganz so sanft und behutsam. „Solange Ihr nicht Euren zukünftigen Gemahl in mir seht, denn dafür bin ich der gänzlich falsche Mann.“
„Das tue ich auch nicht. Eher … einen guten, erfahrenen älteren Freund.“
„Älteren trifft es genau“, schmunzelte Minto und streichelte ihr Gesicht.
„Erfahren“, korrigierte Tessa, den Kopf an seine Brust gedrückt.
„Darum geht es Euch?“
„Darum geht es mir natürlich auch“, gab Tessa zu. „Aber nicht nur.“
„Einsamkeit und Sehnsucht sind eine ungute Mischung, die Euch in die Arme der falschen Kerle treibt, Prinzessin.“ Minto lehnte sich zurück, gegen die Rückenlehne des seltsamen alten Sitzmöbels in diesem kühlen, düsteren und zugestellten Raum, gab sie aber nicht frei. Tessa lag halbwegs auf ihm, spürte, wie er atmete. „Ich könnte Euch, Eure Lage ausnutzen.“
„Werdet Ihr?“
„Vielleicht …“ Minto musterte sie abschätzend, den Mund zu einem Lächeln verzogen, während seine Hand bereits unter ihren Rock gewandert war und langsam die Rückseite ihres Beins hinaufglitt. Ein beunruhigendes und sehr aufregendes Gefühl, Tessa hielt den Atem an. Ein überaus befremdliches Gefühl, als sie seine Hand auf ihrem Hintern spürte, sie biss sich unwillkürlich auf die Lippen, schnappte aber nicht nach Luft; die Aufregung und das lustvolle Prickeln überwogen.
„Ihr bringt Euch in eine schwierige Position, Prinzessin.“
„Ich mag meine Position“, gestand Tessa bereitwillig.
„Fragt mich mal.“ Er packte fester zu, zog sie gleichzeitig noch etwas höher. Tessa spürte erschrocken seine tastenden Finger, kniff die Lider zusammen und fühlte Mintos Lippen hart auf ihrem Mund, seine Zunge, die sich zwischen ihre Lippen zwängte, vergaß zu atmen. Ihr Herz schlug hart, hektisch, ihr brach der Schweiß aus. Im ersten Moment wusste sie nicht, ob ihr das gefiel, seine Zunge in ihrem Mund und seine Finger an ihrem Po … Lucinda hatte erzählt, alle Männer täten das, einem die Zunge in den Mund stecken, und … Oh, er tat ihr nicht weh, liebkoste und streichelte sie, ihren Hintern! Und … eigentlich … Sie konnte nicht denken, sollte atmen, sollte … nicht so genüsslich stöhnen, statt vor Schreck zu erstarren, ihn nicht wie wild küssen, sollte ihre Hände von ihm … Aber sie wollte ihn anfassen, jetzt, unbedingt! Während sie mit ihm, enger als eng, auf diesem Möbel lag, einer Couch mit nur einer Armlehne, eingehüllt in seine Wärme, seinen männlichen, herben Duft … Sie mochte, wie er roch, wie sich sein Körper unter ihr anfühlte.
„Dieser Raum ist mir wirklich nie zuvor aufgefallen“, murmelte Tessa verträumt.
* * *
Da Davian keinen Dienst hatte, verbrachten er und Mara den Tag damit, im Haus ein paar notwendige Veränderungen vorzunehmen. Er hatte für die leere Kammer oben – inzwischen standen dort ein üppig gepolsterter Sessel aus dem unteren Zimmer sowie ein mittelhoher Schrank – noch weitere Möbel besorgt: einen hübschen bunten Teppich, einen Tisch nebst Stuhl und eine kleine Truhe.
„Es fehlen Vorhänge, für die Fenster.“
Davian, der in der Ecke über dem Tisch zwei Borde befestigte, nickte nachdenklich. „Wärst du nicht so überraschend eingezogen, hättest du Vorhänge vor den Fenstern, zumindest hier oben. Unten, im großen Zimmer, sind ja welche. Allerdings ziemlich hässliche, noch aus der Zeit, als mein Onkel hier lebte.“
„Ein Kalimatan in Samala Elis?“, wunderte sich Mara.
Das Zimmerchen wirkte kahl und fremd, unbewohnt. Mara kniff die Augen zusammen und stellte die kleine lackierte Spanschachtel, die Sina ihr geschenkt hatte, auf eins der Borde. Ein bisschen besser.
Davian zuckte die Achseln. „Vor zwanzig, selbst noch vor zehn Jahren war das gar nicht so ungewöhnlich.“
„Und was ist passiert? Vor zehn Jahren?“
„Kaidan, der König von Kalimatan, hat seinem Bruder Marok immer mehr freie Hand gelassen und es gab erste … nennen wir es Unruhen in den Provinzen an der Ostküste. Die Leute waren zunehmend unzufrieden mit der Art, wie sie regiert wurden, und Marok reagierte. Äußerst brutal. Ein alter Feind ist in der Situation eine brauchbare, geradezu willkommene Ablenkung. Doch die gehäuften Überfälle und Übergriffe an der Grenze machten die Ostländer, die hier lebten, natürlich nicht beliebter.“
„Woher weißt du so viel über das, was in Kalimatan passiert?“ Sie dachte an die Ordner, die er ihr mal gezeigt hatte: dicht beschriebene Blätter voller Informationen über das Land, detaillierte Zeichnungen.
Davians Grinsen war hart, freudlos. „Das ist meine Aufgabe, Mädchen.“
„Entschuldige, ich hätte nicht davon anfangen sollen.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Dich nicht fragen sollen.“
„Mara …“ Davian griff nach ihren Händen. „Ich mache das seit Jahren, ich weiß, wann ich mit wem reden kann und wann ich besser den Mund halten sollte.“
„Ja“, bestätigte sie. „Und vom Krieg …“
„Müssen wir ja nicht unbedingt heute reden. Oder willst du?“
„Nicht heute, nein.“ Mara lehnte sich an ihn und blickte unsicher zu ihm auf. „Du weißt vermutlich …“
„Auch nicht mehr als andere.“ Ernst erwiderte Davian ihren Blick, neigte kaum merklich den Kopf. „Ich … habe eine Ahnung, eine wohlbegründete Ahnung. Mara, du musst mir nichts erzählen, wenn du das Gefühl hast, damit vertrauliche Informationen preiszugeben.“
Sie nickte schwach, flüchtete sich geradezu in Davians Umarmung. Was hatte sie denn mit diesem Krieg zu tun? Bis vor einem halben Jahr hatte sie nicht einmal gewusst, dass es ein Land Mandura gab, und jetzt …. Wieso hatte sie diese entsetzlichen Träume, warum wusste sie, was geschehen würde? Fragen, auf die sie keine Antworten hatte, auf die es vielleicht keine vernünftige Antwort gab. Unnütz zu jammern.
Stumm starrte Mara auf ihre Zehen, den bunten Teppich unter ihren Füßen. Ein neuer Teppich. „Der ist sehr hübsch.“
Davian schien von ihrem abrupten Themenwechsel kurz irritiert, lächelte dann aber. „Ich habe gehofft, er gefällt dir.“
„Tut er. Wo hast du den her?“
Er zuckte nur die Achseln und ließ sich mit gekreuzten Beinen auf dem Teppich nieder, die Unterarme locker auf den Knien. „Gab es zusammen mit dem anderen Kram zu der Truhe dazu.“
„Welchen anderen Kram?“, stutzte Mara.
„Schau halt nach.“
Da Davian nicht den Eindruck machte, noch irgendetwas verraten zu wollen, hockte Mara sich eifrig vor die Truhe und klappte den Deckel hoch. Verhüllte Gegenstände. „Was …“
Davian hob bloß die Hände. „Kram halt. Pack aus.“
Vorsichtig hob Mara das zuoberst liegende weiche, nachgiebige Päckchen aus der Truhe, schnupperte daran und legte es behutsam auf den Boden. Dann ein schwereres Paket, offenbar Metall, Mara zog den groben Stoff von dem silbernen Kerzenleuchter, stellte ihn auf den Boden. Ein weiterer Leuchter gesellte sich zum ersten, danach ein dreiarmiger Leuchter. Ein Päckchen mit nach Honig duftenden Wachskerzen. Lächelnd berührte sie erneut das erste Päckchen, schaute Davian fragend an. „Was ist da drin?“
„Sieh einfach nach, dann musst du mich nicht fragen.“
„Es riecht gut, nach Stoff.“
„Es ist in Stoff gewickelt, Mädchen, daher.“
„Nein, nicht nach dem Stoff, der riecht …“ Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Davian entnervt die Augen verdrehte, und zog behutsam den äußeren Stoff auseinander. Noch mehr Tuch, ungleich feiner, glatter, ein Stück zarter Stickerei … Eilig öffnete Mara die Umhüllung ganz, hob ein hauchdünnes Unterkleid mit Stickereien entlang des tiefen Ausschnitts heraus. Sie leckte sich über die Lippen, schob das Unterkleid andächtig beiseite und betrachtete das Nachthemd: aus dem gleichen feinen Gewebe wie das Unterkleid, die Stickereien nicht ganz so aufwendig, jedoch nicht minder schön, ein Rankenmuster umlaufend an Halsausschnitt, Saum und Armabschluss. Und entlang der beiden seitlichen Schlitze. Vergeblich unterdrückte sie ihr Grinsen. „Die gehen ziemlich hoch.“
„Aye, schaffen Beinfreiheit.“
„Ha, du …“ Mara rutschte auf den Knien zu Davian, schlang ihm stürmisch die Arme um den Hals. „Danke, vielen, vielen Dank, die sind … hach, wunderschön!“
„Vielleicht, wenn du sie trägst. Von den anderen Sachen neulich schienst du ein bisschen enttäuscht.“
„Nein, war ich nicht, ich war … krank. Ich habe ... hatte viel zu wenig warme Kleidung, schon gar keine richtig warme Jacke. Die gefällt mir sehr, sehr gut.“
Er sah sie an, lächelte offen und küsste sie auf die Wange. „Das hast du gesagt. Da sollte übrigens noch was sein.“
„Noch mehr? Was?“
„Schau nach, Mädchen, statt …“
Aber Mara hatte die Truhe schon herangezogen und linste hinein. Da lag, ganz unten, noch ein flaches, stoffumwickeltes Päckchen, schwerer als das mit den Kleidern, aber gleichsam nachgiebig. Schnell wickelte sie es aus, befühlte erstaunt die helle Hose. „Das ist ja Leder! Sehr gutes, hervorragend gegerbtes Leder.“
„Will ich hoffen. Probiere sie mal an.“
„Jetzt? Aber …“ Mit gekrauster Nase stand Mara auf und verschwand mit der Hose im Schlafzimmer, sie würde sich nicht vor Davian ausziehen, nicht einfach so. Nicht so nebenbei. In anderen, eindeutigeren Situationen gefiel es ihr, wenn er sie nackt sah, wenn sie deutlich merkte, dass sie ihm gefiel.
Bei den Frauen im Tempel hatte es Mara nicht gestört, auch nicht vor Sina. Bei Reik war es …
Kopfschüttelnd zerrte Mara sich die Hose aus und warf sie in die Ecke, zog die neue über, ein angenehmes Gefühl. „Sie passt!“
„Warum versteckst du dich dann?“ Davian stand in der Tür und betrachtete sie irritiert.
„Ich ver…“ Verlegen band sie die Hose zu. „Hast du mich beobachtet?“
„Nein, ich habe mich gefragt, was du so lange machst.“
„Gar nichts, nachgedacht. Woher hast du eigentlich meine Maße? Bei einem Hemd, selbst bei einem Nachthemd kommt es ja vielleicht nicht so darauf an, aber bei einer Hose … schon.“
„Ich habe mich erkundigt. Bei den richtigen Leuten.“
„Und woher weißt du, wer …“
„Mara, musst du denn alles wissen? Ich weiß, dass Frau Airon zweimal Kleider für dich gefertigt hat, ich weiß, dass du bei dieser Frau, Schneiderin, im Westviertel warst, und …“
„Sie heißt Esme“, erklärte sie spröde.
„Ja. Das sagte sie.“ Lächelnd zog Davian sie eng an sich, die Hände auf ihrem Po. „Gefällt mir.“
„Ich merke es.“ Mara legte ihre Hände leicht auf seinen Bauch, blickte ihm in die Augen. „Mir auch.“
„Das heißt?“, fragte er nach.
„Zieh dein Hemd aus.“
„Zieh du es aus.“
„Dir?“
Davian antwortete nicht, sah Mara nur auffordernd an; sie wurde rot und lehnte den Kopf an seine Brust, spürte seine Finger auf ihrer Taille. Unter dem Hemd.
„Oder soll ich dir helfen?“, bot er an.
„Nein.“ Noch immer verlegen zog Mara sich das Hemd über den Kopf. Ihre Finger zitterten, als sie Davian sein Hemd auszog, die Hände zaghaft, fast scheu auf seine Brust legte. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, biss sich auf die Lippen, konnte sich nicht rühren. Spürte die Luft auf ihrer nackten Haut, seine Finger. Lehnte sich an ihn, schluckte, atmete viel zu schnell, ihre Finger auf seinem nackten Rücken, schloss die Augen.
„Nein. Sieh mich an, Mara.“
Mara gehorchte, schaute ihm in die Augen. „Warum?“
„Ich möchte, dass du ganz da bist. Bei mir.“
„Ja.“
(207.Tag, Ende Monat der Herbst-Tagundnachtgleiche)