Читать книгу König und Dämon - N. H. Warmbold, Nicole Heuer-Warmbold - Страница 6

Kapitel 4 – Antrittsbesuch

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Aufmerksam sah Mikkie sich um. Er gab gar nicht erst vor, nicht beeindruckt zu sein. Das war mal ein Palast: größer, prunkvoller, hoheitsvoller als alles, was er von Jasa kannte. Erian Jasa war wohl doch nur ein eher kleines, unbedeutendes Königreich. Er zuckte die Achseln, sei’s drum. Dafür gab es in Mandura keine Zauberer, keine Schule für Zauberer, stattdessen Soldaten; überall, in der wirklich sehr großen Stadt und natürlich hier auf dem Palastgelände, im Palast. Und Gardisten, die Garde des Königs, und um die beneidete Mikkie die Manduraner tatsächlich.

Als sie vorhin ankamen, war Mikkie auf dem Hof einige Minuten stehen geblieben, um einer großen Gruppe bewaffneter Männer beim Training zuzuschauen, fasziniert, ehrlich beeindruckt von deren Können. Beim Jäger, waren diese Kerle gut! Es packte ihn jetzt noch, wenn er daran dachte. Derartige Krieger hatten sie auf den Inseln nicht. Gut, einzelne, er wollte Lennart gegenüber ja nicht ungerecht sein.

Er presste die Lippen zusammen und sah sich einmal mehr in dem sehr hohen, kühl anmutenden Vorzimmer um – es gab kaum Sitzgelegenheiten –, starrte die zwei Soldaten, garantiert Gardisten, an der zweiflügeligen Tür nicht an. Er ärgerte sich ein bisschen, er hätte gleich darauf beharren … hatte aber Meister Dibistin, seinem Mentor und väterlichen Freund, nicht widersprechen wollen. Na ja, jetzt waren sie endlich hier und würden vom manduranischen König empfangen werden. Antrittsbesuch, wenn auch nicht so ganz offiziell, schließlich war er lediglich aus privaten, persönlichen Gründen hier, anders als die Zauberer um Dibistin. Mikkie hatte schlicht die Gelegenheit genutzt und war jetzt doch etwas nervös … unruhig, weil sie warten mussten.

Nur Männer um ihn herum, eigentlich schade. Insgeheim hatte er gehofft, das junge Mädchen von neulich wieder zu sehen: schlank, recht groß, langes blondes Haar und ziemlich hübsch. Das Mädchen hatte ihm gefallen und es wäre nett gewesen, es näher kennen zu lernen. Er musste wohl auf eine andere Gelegenheit hoffen, seine Unruhe und Ungeduld bezwingen, er war es so leid. Immer warten, dass das Leben, die Abenteuer, die großen, überwältigenden Gefühle … anderswo passierten. Nicht ihm.

Die Türen in seinem Rücken öffneten sich, wurden recht heftig aufgestoßen, und ein Mann und eine Frau durchquerten eiligen Schrittes das Vorzimmer und verschwanden im Audienzzimmer, was auch immer. Mikkie konnte nicht anders und starrte. Auf die beiden. Der Mann mit grimmiger Miene: deutlich größer als er selbst, sehr männlich und hart, sehr fähig, ganz sicher ein Gardist, jedenfalls trug er diese Uniform, und die Frau: rothaarig, überaus schlank, atemberaubend schön. Und erst vor wenigen Augenblicken hatte er dem blonden Mädchen nachgetrauert. Unwillig bemerkte er Lennarts Blick, war ja klar, dessen Gesichtsausdruck, und erschrak fast, als sich die zweiflügelige Tür hinter den beiden nicht schloss und Mikkie und seine Begleiter nun zum König vorgelassen wurden.

Doch jetzt sollte er sich nicht ganz so beeindruckt zeigen, auch nicht von diesem großen, einschüchternden Arbeitszimmer mit den schweren, dunklen Möbeln, schließlich war er nicht irgendein … vertrat er gewissermaßen sein Land. Volk. War seines Vaters Sohn, sein Erbe und in einigen Jahren auch sein Nachfolger.

Mikkie trat noch zwei Schritte vor und verneigte sich höflich, aber nicht allzu tief vor dem großen, stattlichen Mann vor ihm. „Majestät. Es ist mir eine Ehre und auch eine große Freude …“ Die Worte hatte er tatsächlich auswendig gelernt; er konnte nur wenig Manduranisch. Fuhr etwas zu hastig auf Südländisch – jeder zivilisierte Mensch sprach Südländisch – fort: „Ich bin Mikkie … Mikkelaus von Erian Jasa, Sohn von Borman, einst König von Erian Jasa, Neffe von Kaerlon, dem jetzigen Regenten der Inseln.

„Auch ich bin sehr erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen, Mikkelaus von Erian Jasa, und heiße Euch … und Eure Begleiter … ganz herzlich in Manduras Hauptstadt Samala Elis willkommen.“ Der Mann, manduranische König, nickte der jungen Frau knapp zu. Sie trug Hosen, was Mikkie ziemlich aufregend fand, er ertappte sich bei dem Gedanken, gern hinter ihr eine Treppe hinaufgehen zu wollen, verdammte sich sofort dafür. Und sie wiederholte des Königs Worte mit klarer, kühler Stimme auf Südländisch, blickte Mikkie dann fragend … auffordernd an. „Eure Begleiter?

Meine Begleiter … Oh, verzeiht, Majestät, ich …“ Einen kurzen Moment war Mikkie irritiert gewesen und lachte nun verlegen, stellte die Männer der Reihe nach vor: „Meister Dibistin, Erster des Rates der Magier von Mircabor … Roderick VanTeen, genannt Rod, gleich mir Schüler in Mircabor … und Lennart, mein Lehrer und persönlicher Leibwächter.“ Das letzte klang schlicht vorteilhafter als bloß: mein Aufpasser.

Wieder übersetzte die Frau, dieses Mal seine Worte, wobei Mikkie aber den Eindruck gewann, das sei eigentlich nicht nötig. Eine Frage der Höflichkeit und zudem nicht ungeschickt, wie ihm sein Vater vor vielen Jahren einmal erklärt hatte: die kurze Unterbrechung schuf immer Raum für zwei, drei Überlegungen mehr und es wäre wirklich dumm, auf diese zusätzliche Zeit zu verzichten.

Er räusperte sich und wusste nicht so recht, wie weiter fortfahren. „Nun, ich … vielleicht sollte ich kurz darlegen, weswegen wir … meine Begleiter und ich nach Mandura gekommen sind. Wobei Meister Dibistin sein Anliegen sicher besser erläutern kann.“ Er wartete, während die Frau seine Worte auf Manduranisch wiederholte, leckte sich nervös die Lippen; es war schwierig. „Er … Meister Dibistin und zwei seiner geschätzten Kollegen, die sich gleichfalls in der Stadt aufhalten, wünschen dringend mit Euch, Majestät, und noch vielmehr mit Eurem Sohn über die heikle politische Lage in den Nordlanden zu sprechen.“

Etwas am Gesichtsausdruck des Königs schien sich zu verändern, seine freundliche Aufgeschlossenheit wich einer ernsten Miene. „Wie Euren Begleitern sicherlich bekannt ist, Mikkelaus, weilt der Namenlose derzeit nicht in Samala Elis“, erklärte der Mann schroff.

Verdattert schaute Mikkie den König an. Fast erhoffte er sich Hilfe, eine Erklärung von der jungen Frau, ahnte aber, dass er die nicht bekommen würde. „Dann … dann warten wir natürlich gern. Auf seine Rückkehr.“

Die Frau schüttelte sacht den Kopf, ebenso ernst wie der König. „Er, der Namenlose, wird nicht zurückkehren.

Das …“ Er schluckte, schwitzte plötzlich und kam sich entsetzlich dumm vor. „Es tut mir Leid, verzeiht vielmals, ich …“

Erneut schüttelte sie den Kopf und Mikkie wusste nicht zu deuten, was sie ihm sagen wollte. Falls sie ihm etwas sagen wollte.

Ich fürchte, manchmal sollte ich das Reden lieber den Wissenden und Weisen überlassen. Kein guter Zeitpunkt?

Sie nickte, übersetzte, und irgendwie beruhigte ihn das. Etwas. Er hatte zig Fragen, hunderte, an erster Stelle tatsächlich die nach ihrem Namen … und nach dem hübschen, blonden Mädchen, beließ es aber dabei. „Wir kommen wieder.“

Und das übersetzte sie nicht. Mikkie grinste und verbeugte sich tief vor dem König, bevor er und seine Begleiter sich verabschiedeten.

* * *

Bereits am nächsten Tag traf Mara sich erneut mit dem dunkelhaarigen Zauberer, Sakar, im Gasthaus ‚Am Osttor‘, nicht im ‚Schlauen Fuchs‘ oder dem ‚Stier‘. Einerseits war sie neugierig, was der Mann ihr über Magie zu erzählen hatte, zugleich aber wollte sie ihm nicht begegnen. Sie wollte in ihm nicht ihren Vater sehen, denn das … ließ ihr gesamtes Leben falsch erscheinen, stellte alles in Frage.

Wenigstens würde Jula sie, was ihre Stimmung ein wenig hob, später noch zu Esme begleiten; sie brauchte ein Kleid. Brautkleid. „Jula?“

„Ja?“

„Bist du mir böse?“

„Warum sollte ich dir denn böse sein? Gut, du heiratest einen anderen, ausgerechnet meinen Hauptmann, der mir ständig droht, er würde mir jeden Knochen einzeln im Leibe brechen, wenn ich dir zu nahe komme. Du hast so gut wie gar keine Zeit mehr für mich und meine Chancen, in nächster Zukunft mit dir zu schlafen, sind erbärmlich gering: so gesehen hätte ich jeden Grund, dir böse zu sein. Andererseits hast du mich gebeten, dich zu begleiten, wenn du dir ein Brautkleid anfertigen lässt, und das wiederum betrachte ich als große Ehre. Wenn du mir jetzt noch versprichst, auf deiner Hochzeit mehr als nur ein Mal mit mir zu tanzen, könnte ich mich dazu durchringen, dir nicht allzu böse zu sein.“

Mara lachte. „Eine nette Rede. Hast du geübt?“

„Ja …“, fiel Jula in ihr Lachen ein. „Len kennt sie inzwischen auswendig.“

„Du hast ihm doch noch mal gesagt, dass er unbedingt kommen soll?“

„Habe ich, und ich soll dir ausrichten, dass er sich die Feier auf gar keinen Fall entgehen lassen wird.“

In dem schlichten, nicht besonders großen Gastraum hielten sich zur Mittagszeit nur eine Handvoll Menschen auf. Mara entdeckte an einem Tisch in der hinteren Ecke Liz-Rasul, der sich mit dem dritten Magier und den beiden doch sehr jungen Burschen unterhielt. Sakar hingegen saß an einem Tisch am Fenster, ein schöner, heller Platz, und schien auf sie zu warten. Mara nickte ihm grüßend zu und setzte sich, nach einem Blick auf Jula, etwas seitlich.

Sakar verzog das Gesicht. „Verdirbt dir die Aussicht, mich zu treffen, die Laune, oder warum machst du so eine bitterböse Miene?

Der Platz ist mir ein bisschen zu offen und einsehbar.

Angst, jemand könnte dich erkennen?“, fragte Sakar spöttelnd.

Ihr sagt es.“ Sie musterte ihn ruhig. „Es treiben sich nicht nur Seine Priester und eine Handvoll Magier … Besucher von den Inseln in der Stadt herum.“

Weshalb es nahezu ausgeschlossen ist, dich ohne bewaffnete Begleiter zu treffen?“ Für einen kurzen Moment trat ein Ausdruck der Besorgnis auf Sakars Züge. „Ist es denn notwendig?

Mara zuckte nur die Achseln. „Ich weiß nicht, der Mann … Ostländer zeigt sich nie. Doch er ist … arbeitet nicht allein.“

Er nickte nachdenklich, bemühte sich um ein Lächeln. „Möchtest du auch einen Tee, ihr beide? Nicht so gut wie der heute Nacht, schon gar nicht so stark, aber trinkbar.“

Vermutlich keine weiße Minze?“ Maras Lächeln war nur ein Heben der Mundwinkel. „Danke, gern.“

Sakar bestellte und blickte dann angestrengt in seine Tasse, seufzte. „Du machst es mir nicht leicht, Kind.“

Inwiefern … nicht? Weil ich Euch nicht jubelnd und überglücklich um den Hals falle? Das wäre …“ Mara kniff die Lider zusammen und sah aus dem Fenster, es schneite schon wieder. „Ihr wolltet mir erklären, was es bedeutet, ein Magier neunter Stufe zu sein.“

Du wolltest, dass ich es dir erkläre“, stellte Sakar richtig und wartete, bis der Wirt den Tee gebracht hatte, bevor er ihr in knappen Worten … nein, nicht das Prinzip der Magie, sondern der Bewusstseinsstufen erläuterte: der grundlegenden Struktur der Magie.

Es klang reichlich abgehoben und theoretisch. Mara hatte sich nie um irgendwelche Stufen gekümmert, die sie im Übrigen auch nicht bemerkt hatte, wenn sie Zauber wirkte; sie tat es einfach. Trank einen Schluck Tee. „Somit seid Ihr ein Magier der höchsten Stufe? Es gibt keine Magier zehnten Ranges?

Ich bin jedenfalls noch keinem begegnet“, blieb Sakar etwas vage. „Und ich weiß auch nicht, ob ich diesen Zustand für erstrebenswert halte.

„Aye“, grinste sie knapp. „Ist kalt und trostlos zwischen den Sternen.“

Sie trank einen weiteren Schluck Tee, betrachtete Sakar über den Rand der Tasse hinweg genau. „Auf welcher Stufe seid Ihr jetzt gerade, vierte, gar fünfte? Wegen der etwas heiklen Stimmung in der Stadt?

Wie …“ Irritiert schüttelte Sakar den Kopf, hatte die Stirn gerunzelt und musterte sie eindringlich. „Nein, die vierte. Reicht.“

Keine angemessenen Gegner für Euch?“, vermutete Mara und unterließ ihr Grinsen. „Und ich?

Du?“ Sein Stirnrunzeln und sein eindringlicher Blick vertieften sich, seine Stimme nur noch ein Murmeln. „Aber du bistkeine …“

„Nicht?“ Und jetzt erlaubte sie sich ein Lächeln, spürte seine Neugier, sein ganz vorsichtiges Tasten, aber mehr tat er nicht. Sakar versuchte nicht, in ihre Gedanken einzudringen. Er erwiderte ihr Lächeln und griff zaghaft nach ihrer Hand. „Fünfte Stufe, mindestens.“

Die Stufe, auf der Magie erst begann, hatte er gesagt.

Und wenn ich versuchte, in Eure Gedanken …“, bohrte sie weiter.

Solltest du nicht“, wehrte er hastig ab. „Wirklich nicht, du … Kind, dein Geist ist völlig ungeschützt! Siebte, achte Stufe, bei einem Fremden. Bei jemandem, den du richtig gut kennst, reicht bereits die sechste. Es hängt ein bisschen von der Bereitschaft zur Mitarbeit des anderen ab.

Ah, verstehe. Ihr seid bereits sehr nah …

Lass es!“ Sakar fasste jetzt auch mit der anderen Hand nach ihrer Hand, hielt sie fest. „Weil ich weiß, wie es geht. Mara, Kind, du schadest dir! Dein Begleiter … Freund ginge doch auch nicht ohne Rüstung und Schutz in einen Kampf.

„Nee …“ Sacht schüttelte sie den Kopf, wollte diesen Kontakt eigentlich nicht … Es war faszinierend, die Bilder: die schroffen Klippen der Küste und das Glitzern des Meeres, das sich endlos bis zum Horizont erstreckte …

Die Westinsel, meine Heimat. Jenseits davon ist nur noch Wasser.“ Seine Stimme war ein leises, fast unverständliches Gemurmel. Wie das Rauschen des Meeres, viel zu lange vermisst. „Das eine Bild schenke ich dir gern.“

Seufzend lehnte Mara sich auf dem Stuhl zurück und schlang die Arme um den Oberkörper. Der Kontakt war unterbrochen, doch sie hatte den Geschmack des Meeres auf den Lippen, diesen einzigartigen Geruch in der Nase. Kämpfte gegen die Tränen und die Sehnsucht.

Verstehst du, Mara? Du nimmst immer etwas mit und in den seltensten Fällen ist es gut oder schön. Und dagegen musst du dich wappnen.

Dann bringt es mir bei, Sakar.“

Er schnaufte, nur ein klein bisschen verächtlich. „Nicht mehr heute.

* * *

Lucinda fühlte sich elend; schwach und benommen. In ihrem Kopf ein einziger Wust aus Gedanken und Gefühlen, doch einer klar: er hatte sie.

Wie gelähmt vor Entsetzen, sie konnte sich nicht bewegen, ihr Körper, wie in Eiswasser getaucht, lag … Es war eng und dunkel, stickig. Sie konnte nur wimmern, nicht einmal schreien, als Alek sich über sie beugte, viel zu dicht über sie beugte, spürte seinen Atem auf ihrer bloßen Haut. „Bitte, tut mir nicht …“

Und alles verkehrt, als sie die Verwirrung, den Ärger auf seinem Gesicht sah. Es war nicht dunkel, nur dämmrig, irgendwo brannten Kerzen. Das Zimmer, Kämmerchen klein, die Pritsche, auf der sie lag, hart und unbequem. Sie hatte seine Worte überhört, nicht verstanden, und hob die Hand an ihren schmerzenden Kopf. „Was …“

„Meine Frage, Sekassne: Was, verdammt?“ Aleks Stimme klang streng, strafend, und er blickte sie auffordernd an, rücklings an den Tisch gelehnt, der keine zwei Schritte … eine undeutliche Erinnerung …

„Sind … Ist das etwa Euer Zimmer in den Gardeunterkünften?“

Alek … Hauptmann Alek zuckte die Achseln. „Lag näher. Ich wollte Euch in Eurem Zustand nicht durch den gesamten Palast schleppen.“

„Darf ich …“ Lucinda setzte sich auf, spürte die Schwäche in ihren Gliedern, den Beinen, erneuter Schwindel, doch sie wollte nicht, dass er so über ihr aufragte. Auf sie herab blickte. „Ihr hättet nicht vielleicht einen Schluck Wasser?“

„Vielleicht auch eine Tasse Tee und Gebäck?“ Sein Spott, seine Verachtung für sie war ätzend, wie eine körperliche Züchtigung. „Höchstens Branntwein, für Notfälle, doch dann habt Ihr einen Grund, taumelnd durch die Gegend zu torkeln.“

„Mir war furchtbar schwindelig, alles hat sich …“ Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen, schlief zu wenig. War in Panik geraten, als sie ihn, auf dem Rückweg hoch zum Palast, hinter sich bemerkte. Natürlich hatte er sie eingeholt, gepackt und … Nein, das wohl nicht; er hatte sie nicht in dieses dunkle Loch gezerrt, um über sie herzufallen. Aber er hatte stützend ihren Arm gepackt … gegriffen und ihr durch den Schnee den Hang hinauf geholfen. „Ich … Es tut mir leid, Euch solche Umstände …“

„Ihr oder jemand anders.“ Er zuckte erneut die Achseln, griff die dunkle Flasche auf dem Schreibtisch und goss ein kleines Glas nicht mal zur Hälfte voll, reichte es ihr. „Schmeckt aber nicht gut.“

„Ich weiß, ich habe schon … Danke.“ Sie wusste, wie Branntwein schmeckt, nippte vorsichtig. „Ich bin kein kleines Mädchen mehr.“

„Bereits ein großes Mädchen?“ Er trank nicht, beobachtete sie nur und wirkte ungehalten. Ungeduldig.

„Ihr mögt wohl überhaupt keine Frauen, Hauptmann?“

Ihre Frage schien ihn zu amüsieren, jedenfalls verzog Alek den Mund zu einem Lächeln. „Klar mag ich Frauen. Aber das Weibsvolk im Palast, Euresgleichen, ist mir zu anstrengend. Ich bevorzuge Frauen, die nicht aus lauter Langeweile Probleme machen.“

„Meint Ihr etwa mich?“

Sein sprödes Lächeln wurde zu einem Grinsen. „Trinkt aus, dann bringe ich Euch …“

„Kann ich nicht noch ein Weilchen bleiben?“, fiel Lucinda ihm ins Wort.

„Warum?“ Kopfschüttelnd sah Alek sie an und ging dann vor ihr in die Hocke, musterte sie aufmerksam. „So einsam und verzweifelt, dass Ihr Euch einem Mann, vor dem Ihr ganz offensichtlich Angst habt, aufdrängen müsst, Sekassne?“

„Und wenn es so wäre?“, stieß Lucinda hervor, heftiger, als gewollt. Er war gemein.

„Ihr verkauft Euch unter Wert. Ich will nichts von Euch.“

„Ich will ja auch nichts …“ Sie biss sich hastig auf die Lippen, merkte, wie sie errötete.

„Nein. Gar nichts.“

Und sie wusste, er grinste, hörte es an seiner Stimme, hatte aber den Kopf abgewandt. Sie wollte ihn nicht ansehen, wollte vor ihm nicht in Tränen ausbrechen. Bildete sich ein, seinen Blick zu spüren; sie bildete sich eine Menge ein, zu viel. Seine Hand an ihrem Gesicht, als er ihren Kopf zu sich drehte. Wie ein Streicheln, sie kniff die Lider fest zu, schluchzte fast.

„So schlimm?“

Sie nickte stumm, die Lippen zusammengepresst, und spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen rannen.

„Na kommt.“ Er erhob sich geschmeidig, griff nach ihrem Arm. „Ich bringe Euch noch rüber.“

„Und dann?“ Lucinda konnte ihn nicht ansehe, sie schämte sich.

„Und dann nichts, Sekassne.“ Er legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie seltsam unbeteiligt an sich. Lucinda lehnte den Kopf an seine Brust, sie wollte nicht gehen, wollte den Moment hinauszögern. „Ihr habt mir nicht mal die Schuhe ausgezogen.“

„Ich bin Gardist. Gardisten schlafen sogar in ihren Stiefeln. Wusstet Ihr das nicht?“ Zumindest umarmte er sie jetzt richtig, wenn auch recht locker, hatte eine Hand an ihren Kopf, auf ihrer Wange, berührte, teilte mit dem Daumen ihre Lippen. „Ich hatte nicht vor, Euch irgendwas auszuziehen.“

Sie spürte ihr Herz hart klopfen, küsste zärtlich seinen Daumen. „Ihr hättet es angezogen mit mir getrieben?“

„Genau. In Uniform.“ Er schob sie aus der Tür und dann etwas rüde den Korridor entlang.

Der Gardehof war erfreulich leer, Wind fegte über die Fläche, fing sich in den Ecken und Winkeln der hohen Gebäude. Trieb Lucinda harte, körnige Schneeflocken ins Gesicht.

* * *

Das schlimmste war nicht die Kälte; Mandura war, jedenfalls in den Wintermonaten, ein kaltes Land, daran war Réa gewöhnt, damit kam sie zurecht. Und in den viel zu kurzen Nächten lagen sie ja dicht beieinander, wärmten sich gegenseitig.

Das schlimmste war auch nicht der Hunger, der war auszuhalten. Meist hatten sie irgendetwas, wenn auch selten genug.

Nein, das schlimmste war die Unsicherheit, ihre Unsicherheit, war die unterschwellige, immer gegenwärtige Angst vor der Veränderung, die er durchlaufen würde. Am Ende des Weges, seiner Suche, wäre er nicht mehr der Mann, den sie kannte und schätzte, den sie liebte. Sondern ein anderer, fremder, vom Geist des Jägers besessener.

Oder fürchtete sie das nur, deutete sie die vermeintlichen Anzeichen einer Veränderung, wie seinen gehetzten Blick, seine manchmal lauernden, dann wieder abrupten Bewegungen, völlig falsch? Die Härte und Feindseligkeit in seinen Augen? Sie wusste doch nicht, was er durchlebte, kannte nicht seine Träume, hörte nicht die Stimmen in seinem Geist.

Das schlimmste war das Schweigen. Ihre wachsende Angst vor ihm, dem Fremden in ihm, dem erwachenden Monster.

Und doch folgte sie ihm blind durch Dunkelheit und eisige Kälte. War dankbar über das bisschen Wärme, die seine Nähe, seine Gegenwart ihr bot, da er sich in diesem Schuppen, Unterstand, so es denn einer war, sie sah nur Schwärze, sah absolut nichts, dicht hinter sie legte. Réa lauschte angespannt den heulenden Winden und seinem Atem.

Réa hatte die Nacht kaum Schlaf gefunden, da Reik sich unruhig im Schlaf gewälzt, immer wieder gequält aufgestöhnt hatte. Sie viel zu früh geweckt hatte.

Ihr Kopf dröhnte, pochte, derweil sie mit kleinen, bedächtigen Schlucken den letzten Rest Tee trank. Das Feuer war in sich zusammengefallen, verbreitete nur noch einen düsteren Schein, kaum Wärme. Und irgendwas an der Art, wie die Pferde auf der anderen Seite des Feuers standen, brachte sie auf den Gedanken, dass sie von nun an zu Fuß weitergehen würden. Es wäre wohl auch zu einfach gewesen, wären wir jetzt schon am Ziel, die Höhle auf dem Gipfel nur ein paar Schritte entfernt.

Seufzend stand Réa auf, müde, die Knochen steif vor Kälte, und suchte ihre Sachen zusammen. Den Beutel mit den Zutaten für den Trank, dazu Robe und Gürtel, zwei hölzerne Schüsseln. Sie wickelte alles in ihre Decke, die sie sich quer über den Rücken band, darüber das Schultertuch, über der Brust gekreuzt und im Rücken verknotet, so dass sie die Hände frei hatte. Die zwei kleinen Lederbeutel stopfte sie hinter den Gürtel und war sich schmerzlich der Tatsache bewusst, dass noch etwas fehlte: Die Pilze sollten frisch sein, sie hatte nur getrocknete, und die roten Glockenblumen … Sie benötigte die Wurzeln, nicht allein die Blüten, in denen war der Wirkstoff nicht so konzentriert. Den schmalen Dolch der Priesterin steckte sie in ihren Stiefel und nickte Reik zu. „Ich bin fertig.“

Er schwang sich sein Bündel über die Schulter und Réa folgte ihm hinaus in die Dämmerung. Sobald sie den Schutz des Unterstandes verlassen hatten, fielen die ungestümen Böen über sie her. Zerfetzten den Nebel, der über dem steilen Berghang lag, über schroffe Grate trieb, Felsbrocken in beunruhigende Gestalten verwandelte und felsige Rinnen voller lockerem, scharfkantigem Gestein verbarg. Réa hörte Bäume knarzen und wandte sich dem Ursprung des Geräusches zu, einer Gruppe von Bergfichten, im Nebel schwebend, ein gutes Stück den Hang hinauf. Uralte, riesige Gestalten, vom ewigen Wind gebeugt, die Wurzeln in den harten Boden gebohrt, ihn dabei regelrecht aufgesprengt, um große Steine geschlungen, nach Halt suchend und doch jeden Halt lösend. Sie sah Reik an. „Kommen wir bei den Bergfichten vorbei?“

Nachdenklich musterte er den Hang, nickte knapp und ging voran, Réa hielt Abstand. Das Geröll machte den Weg tückisch, bei jedem Schritt lösten sich kleine Steine, unter dem Schnee nicht auszumachen, und rutschten unter den Füßen weg. Einige Stellen waren so steil und abschüssig, dass sie lieber die Hände zu Hilfe nahm, nachdem sie ein großes Stück wieder hinab gerutscht war, sich gehörig Knie und Hände angestoßen, an den Kanten der Steine aufgeschrammt hatte.

Reik war bei den Fichten angelangt und schaute sich abwartend nach ihr um. Sie wollte bereits die gewaltige, etwa fünf Schritt hohe Felsplatte erklimmen, auf der die Bergfichten wuchsen, aber Reik hielt sie fest. Verwundert beobachtete sie, wie er das Seil löste, dass er sich um die Taille gewickelt hatte, und sorgsam ein Ende um ihren Leib schlang.

Sie setzte den Fuß in einen Riss im Felsen, griff nach einem Vorsprung und zog sich ächzend hoch. Tastete mit dem Fuß nach einem weiteren Halt, bevor sie ihre Hände höher schob, noch eine Trittmöglichkeit, bis sie die obere Kante der Platte mit den Händen erreichen konnte. Der Rand war nass und glitschig, sie musste lange nach einem festen Griff tasten, setzte die Füße um und zog sich hoch, lag keuchend halb auf der Platte, schob mit den Füßen nach und war oben. Wenigstens war das Seil lang genug. Réa verkeilte die Füße, wandte sich der Kante zu. „Du kannst hochkommen.“

Kurze Zeit später war Reik neben ihr angelangt, half ihr auf die Füße. Réa spähte blinzelnd zu den Bäumen, der unebene Boden voller Risse und Löcher, glitzernd vor Nässe und Frost. Sie ging auf die Bergfichten zu; Reik folgte ihr zögernd, setzte die Füße sehr überlegt und nahm die Hände nicht vom Seil. Zwischen den Wurzeln der dritten Fichte erblickte sie endlich die unscheinbaren, blassblauen Pilze, jedoch nur drei. Sie schnitt sie ab und studierte den Boden um eine weitere Fichte herum. Der Nebel war so dicht, dass sie keine zwei Schritt weit sehen konnte, sie schob die Füße schlurfend über den Boden, glaubte weitere Pilze entdeckt zu haben und wurde durch einen harten Ruck am Seil zurückgerissen, landete schmerzhaft auf dem Hintern. Erbost fuhr Réa zu Reik herum, las in seinem Blick aber nur Angst und Entsetzen. „Was ist los, wieso hast du …“

Er deutete wortlos nach vorn in den wogenden Nebel. Réa starrte angestrengt, sah erst gar nichts, Nebelschwaden, hörte den Wind stärker werden. Dann, von einem Moment auf den anderen, war der Nebel fort und sie blickte über eine schier bodenlose Schlucht hinweg. Sie war froh, dass sie bereits saß, fragte mit belegter Stimme: „Hast du das gesehen?“

Reik schüttelte den Kopf und sie krabbelte mit zitternden Gliedern zu ihm. Es gab dort vorn keine Pilze, keine Bergfichten, nichts, nur diesen endlosen Abgrund, als wäre ein Teil der Bergflanke weggeschnitten worden. Ihr Gefühl vom Vortag, ihre Angst, war berechtigt: der Berg hasste sie. „Lass uns weiter. Dann nehme ich zwei von den älteren Pilzen, so schlimm ist das nicht.“

Sie arbeiteten sich über die Platte zurück und weiter den Geröllhang hinauf, höher und höher, langsam, stetig, immer auf der Hut. Es war kalt, eisig kalt, trotzdem begann Réa schon bald zu schwitzen, keuchte nach Luft und schien doch nie genug Luft zu bekommen.

Am späten Vormittag brach für kurze Zeit die Sonne durch die faserigen Wolken, sie tranken Wasser aus einem glucksenden Rinnsal, das sich zwischen Felsbrocken hindurch wand, ruhten einen Moment aus. Dann trieb der Wind wieder Wolken vor die Sonne und sie zogen weiter.

Réa hielt Ausschau nach den roten Glockenblumen, hatte aber nicht mehr viel Hoffnung. Hier oben wuchs so gut wie nichts, Flechten, einige harte Gräser in geschützten Senken und zwischen Felsen, seltsam kleinblättrige Pflanzen dort, wo sich Wasser gesammelt hatte, Schnee getaut war. Doch fast überall lag Schnee, manchmal nur eine dünne Schicht, manchmal kniehoch.

Es begann erneut zu schneien, ihre Hände schmerzten, die Felsen waren vom Neuschnee glatt und rutschig, und wenn Reik ausrutschte, riss er am Seil und brachte Réa ebenfalls aus dem Gleichgewicht. Wenn sie abrutschte, tat sie wenigstens nur sich selbst weh.

Der Schneefall wurde dichter, der Wind heftiger, kälter, irritiert stoppte Réa. Vor ihr erhob sich ein nahezu senkrechter Felsenwall. Fragend drehte sie sich zu Reik um.

Ohne zu zögern zeigte er nach links und ging voran. Réa folgte ihm, immer dicht am Fuß des Walls, und redete sich ein, dass dieser nicht überhing, sich nicht drohend über ihnen wölbte. So ganz gelang es ihr nicht. Nicht lange, und sie erreichten einen engen Einschnitt in der Wand, und Reik stapfte durch den vom Wind aufgetürmten Schnee hinein. Réa ging ihm zögernd nach, spähte misstrauisch die steilen Wände hinauf und horchte auf den heulenden, klagenden Wind, der sich in der Enge fing. Lauschte verwirrt den seltsamen Geräuschen, hatte den Eindruck, der Boden würde sich bewegen, und stolperte über einen der zahlreichen auf dem Grund des Einschnitts liegenden Steine. Sie fiel unglücklich, konnte gerade noch vermeiden, mit dem Kopf gegen einen vorstehenden Grat der Felswand zu stoßen, schlug trotzdem hart auf, hörte ein Poltern, Rumpeln und Rauschen, roch Staub und Schnee und schrie gellend.

* * *

Nebel, Nebel auch auf dem Alten Berg. Sie sah nur diffuse Formen, Grau in Grau, träge Bewegungen, unwirklich. Es war kalt, kalt und still.

Stöhnend wälzte Mara sich im Bett herum, bang wartend, doch der zornige Gott würde nicht kommen. Nicht heute Nacht. Er, der Jäger, war mit anderem beschäftigt.

Mara setzte sich auf und wusste, Davian neben ihr war wach. Verschlafen zog er sie in seine Arme. „Was ist denn, schlechte Träume?“

Sie schüttelte den Kopf, kämpfte um eine klare Stimme. „Sie … sind da. Am Alten Berg.“

Davian nickte brummend. „Und?“

„Ich weiß nicht, es ist kalt, sehr kalt, neblig … Sie müssen hoch. Zu … dieser Höhle direkt unterm Gipfel.“

Wieder nickte er, strich ihr sacht durchs Haar. „Und … Du wirst nicht eingreifen, Geliebte, du kannst ihm das nicht abnehmen.“

Sie war bereits aufgestanden. „Aber wenn ich …“

„Nein, Mara.“ Davian klang sehr entschieden, stand gleichfalls auf. „Das ist seine Prüfung.“

* * *

Schmerzen, der Boden unter ihm hart und kalt, die Kälte kroch ihm in den Leib, er … versuchte sich hoch zu stemmen. Die Stimmen in seinem Geist gedämpfter, einzig die der Frau, panisch, dann eine Berührung, sie. Ihre Hand zitterte. Er wälzte sich auf den Rücken, unterdrückte sein Stöhnen, so arg … Zwang ihr zuliebe die Augen auf, blinzelte, das Licht zu grell … ein Flimmern, Flirren: Schnee, es dämmerte, er musste …

Sie redete mehr als die letzten Tage und er hörte ihr ihre Angst an, schöpfte einen Moment Kraft, kontrollierte seinen Atem. Er roch sie, als sie sich dicht zu ihm, über ihn beugte, so verlockend, seine verletzte Schulter versorgte, das kalte Wasser wie glühendes Eis. Die Wurzeln, die sie ihm gab, bitter, leicht säuerlich, überdeckten den Schmerz. Unruhig versuchte er aufzustehen, musste sich auf sie stützen, ihr lebendiger, warmer Körper ihm allzu bewusst, so nah, und … Willkommen, doch zu früh.

Weiter, die dröhnenden, brüllenden Stimmen in seinem Schädel lockten, trieben ihn, er ließ die Frau voran gehen, behielt sie … seine Beute im Blick; sie roch nach Blut, der Duft überschwemmte seinen Geist. Vor ihm, dicht vor ihm, ihr Atem immer schwerer, keuchender, die Kälte …

Die Stufen … Felsentreppe, vor Jahrzehnten, Generationen für ihn angelegt, eine letzte Prüfung. Er folgte der Beute hinauf, trieb sie vor sich her, lachte fast, seine Lungen pumpten Kraft in sein Blut, in seinen Körper, seine Schenkel schrien. Endlos, nur betäubende Kälte, Eis, Schmerzen, der Wind marterte sie, saugte das letzte bisschen Wärme aus ihnen, die Sonne längst untergegangen.

Erschöpft ließ er sich in die eiskalte Weiße sinken, packte ihre Hand, atmete keuchend, triumphierend, ihr Handgelenk; allzu zerbrechlich, er spürte ihren Puls flatternd unter seinen Fingerspitzen. Ihr Duft köstlich, berauschend, und die Stimmen jubilierten gleich ihm.

Oben. Ein schmaler Pfad, an dessen Ende die Höhle … ihr Eingang wie ein aufgerissenes Maul, das sie zu verschlingen drohte. Er zögerte nicht, half der Frau auf die Beine, die letzten Schritte …

* * *

Dann lag Reik neben ihr, gleich ihr nach Luft ringend, völlig erledigt, tastete nach ihrer Hand und hielt sie fest.

Er griff behutsam nach ihrer Schulter, half ihr auf, und gemeinsam gingen sie das letzte Stück zur Höhle hinauf. Erst dort, in der Höhle, löste er das Seil. Réa sah sich um, erkannte im Halbdunkel des hinteren Bereichs eine alte, rußgeschwärzte Feuerstelle und legte ihr Gepäck neben einer steinernen Bank ab. Wandte sich zu Reik um, der sie abwartend ansah. „Ich brauche ein Feuer und dann natürlich Wasser.“

Er nickte nur und Réa achtete nicht mehr auf ihn, machte sich an die Vorbereitungen. Es kostete sie Überwindung, ihre arg mitgenommene, aber wenigstens warme Kleidung gegen die dünne Robe zu tauschen. Sorgfältig breitete Réa die Lederbeutel mit den einzelnen Zutaten für den Trank vor sich aus, setzte sich mit untergeschlagenen Beinen davor, die offenen Hände auf den Knien, die Augen geschlossen, und sammelte sich. Lange, sehr lange, bis alle unnötigen, störenden Gedanken, Furcht und Angst aus ihrem Geist verschwunden waren, bis sie vollkommen ruhig und konzentriert war. Dann erst fing sie an, zerschnitt die Pilze in kleine, feine Stücke, zerdrückte eine Handvoll Holunderbeeren, Moos- und Krähenbeeren, letztere sorgsam abgezählt, in der größeren Holzschale, gab zerrissene Blätter des Holunderstrauches und einige Tropfen kalten Wassers dazu. Zerrieb die Blütenblätter der roten Glockenblume in der zweiten Schale und vermengte sie mit den Pilzstücken und kleingeschnittenen Wurzeln und Pflanzenteilen zu einem unansehnlichen Brei. Inzwischen kochte das Wasser, Réa goss ein wenig zu dem Brei und rührte mit einem Zweig um, den sie anschließend genau wie die Schale ins Feuer warf, nachdem sie den heißen Brei in die große Schale gegossen hatte. Ein kräftiger Geruch breitete sich in der Höhle aus, nicht unangenehm. Sie gab mehr heißes Wasser in die Schale, das Ergebnis ein stark riechender, sämiger Trank.

Entschlossen stand sie auf und trat, das Gefäß in beiden Händen haltend, zu Reik, der unbekleidet auf einer Decke saß. Sie sah, dass er zitterte, sah seine Blöße … wandte verlegen den Blick ab. Réa kniete vor ihm nieder und bot ihm die Schale dar. Einen Moment zögerte er, wich unwillkürlich ob des scharfen Geruchs zurück, dann legte er die Hände über ihre Hände und trank.

* * *

Unruhig erhob sich Bahadir von der kargen Bettstatt und öffnete die kleinen Fenster, lehnte sich weit hinaus. Vielleicht würde die kühle Nachtluft ihn … Aber es war nebelig, die dichten Schwaden wogten fettigen Rauchwolken gleich durch die engen Straßen und Gassen. Der Jäger war stark diese Nacht, immens stark, er spürte ihn in seinem Blut, in seinem Geist, und fühlte sich ungewollt an eine andere Nacht …

Bahadir sah nicht zu dem anderen Bett, in dem Bruder Jo’quin lag. Ruhte. Er sollte nicht daran denken, den Anblick seines schlanken, nackten Körpers, ölglänzend im flackernden Schein der Fackeln, er wollte wirklich nicht daran denken, presste die Zähne aufeinander. Er wusste nicht, ob der nur ein paar Jahre jüngere Bruder sich überhaupt erinnerte: an die Nacht, sicherlich, das Ritual der Zwölf, aber auch an ihn? Er hatte nie darüber gesprochen, weder mit Jo’quin noch sonst jemandem. Auch nicht mit Arpad. Dem ehrwürdigen obersten Priester in Seinem Heiligtum in Débar.

Doch in Nächten wie diesen, wenn der Jäger durch seinen Geist raste, hetzte, auch von seinem Körper Besitz ergreifen wollte … Bahadir kämpfte dagegen an, mit all seinem Willen, seiner Kraft, mochte ihm vor Anspannung schier der Kopf bersten, der Schweiß über seinen Leib rinnen und er mit den Zähnen knirschen, unterdrückt ächzen.

Geht es Euch nicht gut, habt Ihr Schmerzen?“ Jo’quin hatte sich, auf den Ellenbogen gestützt, aufgerichtet.

Nein“, murmelte Bahadir. „Er ist stark heute Nacht, ungeheuer stark.

Jo’quin lachte heiser, kehlig, und sprang aus dem Bett, kam mit raschen Schritten auf ihn zu. „Wenn sogar Ihr das spürt … Wir sollten Ihn feiern, Bruder, mit unseren Leibern lobpreisen …

Doch Bahadir packte ihn hart an den Schultern, spürte den vor Leben vibrierenden Körper unter seinen Händen. „Wir müssen in den Tempel. Jetzt!

Wieder lachte Jo’quin und drängte sich an ihn, zerrte ihm das Hemd aus der Hose. „Dazu brauchen wir keinen Tempel, Bruder, wirklich nicht.“

Darum geht es nicht, Jo’quin, wir … Wir sollten in den Tempel!

Bahadir stand auf der Schwelle zu Seinem Tempel, irritiert über die zerborstenen Türflügel, und ging fast in die Knie, als er überdeutlich Seine Macht spürte. Zu seiner großen Verwunderung waren sie nicht die ersten, einzigen hier unten. Wortlos kniete er neben der jungen Frau vor dem Altar nieder und bemerkte Jo’quins sehnsüchtigen Blick auf diese. Der jüngere Priester begegnete ihr nicht zum ersten Mal. Er ja ebenso wenig, aber deshalb waren sie nicht hier.

Bahadir versuchte erfolglos, sich ins Gebet zu versenken, die Unruhe seines Begleiters und vielmehr noch ihre spürbare Anspannung lenkten ihn ab. Dazu die Anwesenheit des Begleiters der Frau, jenes grimmigen, einschüchternden Hauptmanns – er trug keine Uniform –, dem sie neulich in der Taverne begegnet waren; er stand seitlich, ein wenig im Hintergrund … Schatten, wenn es denn Schatten gegeben hätte. Das Öl in den Becken brannte fauchend, immer wieder hell auflodernd, und erschuf huschende Silhouetten und Schemen, flüchtige Bewegungen an den Wänden, hinter dem Altarstein. Auf dem allzu lebensechten Bild, Gemälde; er fühlte sich ungewollt erregt von der Darstellung, dieser Szene, die beinah ein Abbild des Geschehens … War es das, passierte genau das jetzt auf dem Alten Berg?

Unwillig schüttelte Bahadir den Kopf und musterte die Frau neben sich nicht zu intensiv. Sie hatte die Augen geschlossen, schien kaum zu atmen, ihre Lippen bewegten sich, als würde sie lautlos reden, beten. Oder es war nur das Flackern der Flammen. Er wusste nicht, wie lange er so kniete, wie gebannt die Frau betrachtete, ihr Gesicht, während der Drang, sie zu berühren, diese Lippen mit seinen … Nein!

Plötzlich wurde ihm klar, dass sie ihn ansah. „Könnt Ihr ihn rufen?

Ihre Stimme, ihr Flüstern wie eine Liebkosung, Bahadir erwiderte ihren Blick, bemüht, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen. „Ihr meint … Ihr wollt, dass er erscheint?

Ja, natürlich.

Er schüttelte sacht den Kopf, stand gleich ihrer auf. „Ich fürchte … Es tut mir unendlich leid, aber dazu bin ich nicht in der Lage.

Sie runzelte die Stirn, zuckte dann die Achseln. „Schade. Euer … Bruder … Jo’quin vermutlich auch nicht?

Es war kaum mehr eine Frage, sie zog bereits ihr Messer.

Jo‘quin sah ihr standhaft ins Gesicht, sein Gesichtsausdruck erschreckend zärtlich. „Herrin …“ Fast wie ein Flehen.

Glaubt Ihr an mich, Jo‘quin? Meine Kraft, meinen Willen, ihm zu widerstehen?

Ja, Herrin.

Sie kniff die Augen zusammen und schnitt sich über die Handfläche, Bahadir packte hastig ihr Handgelenk, bevor auch nur ein Tropfen ihres Blutes auf den Altarstein fallen konnte. „Nein! Ihr dürft das nicht!

Wortlos kämpfte sie gegen seinen Griff. Jo’quin kam ihm zu Hilfe, legte die Arme um die junge Frau und zog sie zurück.

Er, der Namenlose, muss und wird diese Prüfung allein bestehen“, erklärte Bahadir eindringlich. Er ließ ihre Hand nicht los, roch ihr Blut, sie, und sein Verlangen wuchs. Hörte … nicht ihn, seinen Gott, sondern den Soldaten, ihren Begleiter rasch näher treten.

Dann war sie fort, seinen Armen … Aber er hatte doch nicht … Keuchend starrte er den Mann an. „Er ist stark heute Nacht.

„Oh ja. Und es verlangt ihn nach Blut.“ Der Kerl … Nein, er beugte das Gesicht nicht über ihre Hand und leckte das heraustretende Blut …

Bahadir wandte sich ächzend ab, begegnete Jo’quins Blick. Sank erneut auf die Knie, warf sich bäuchlings zum Beten vor den Altar.

* * *

Reik rührte und regte sich nicht. Er hatte von ihr dieses fürchterliche Zeug entgegengenommen und es klaglos getrunken, aufmerksam zugeschaut, wie sie den Rest trank, dann die Augen geschlossen.

Seitdem hatte er sich nicht mehr bewegt. Réa betrachtete ihn sinnend. Andächtig, fühlte … Nein. Keine Verlegenheit, jetzt nicht mehr, auch wenn er derart nackt vor ihr lag, keine drei Schritte entfernt. Er erschien ihr wie eine wundervolle, exquisite Statur, makellos trotz der Schrammen und den tiefen, dunklen Schatten unter seinen Augen. Sie liebte seinen Mund, hätte zu gern … und lachte bitter auf. Sie hatte Angst, vor ihm, vor dem, was …

Den Ritt über hatte sie ihre Befürchtungen zurückdrängen können, und er war so sehr mit sich … Doch jetzt? Sie war allein, der einsamste Mensch auf der ganzen Welt, und er lag da wie tot vor ihr, regte sich nicht, er zitterte nicht einmal. Kaum merklich hob und senkte sich seine Brust; es war wunderschön, so friedlich, verlockend. Entsetzlich.

Vor dem Eingang zur Höhle fauchte und tobte der Wind, trieb immer wieder Schnee und Eiskristalle herein und ließ sie noch stärker bibbern. Vor dem, was dort draußen in der Nacht lauerte: sie hatte in den letzten Nächten die Wölfe heulen hören, immer ein Stück näher. Schlimmeres als die Wölfe, der Jäger … Sie sollte nicht … Aber sie war hier, allein, ihm ausgeliefert! Hörte sich selbst vor Angst wimmern und presste die Lippen zusammen. Sie war nicht mutig, nicht so tapfer wie Mara. Die sollte hier … an ihrer Stelle … Sie zog den Dolch hervor und drehte ihn im Schein des flackernden, mickrig kleinen Feuers. Ein silberner Dolch gegen alle Schrecken der Welt, der Nacht, brüllend stob eine Böe herein, drückte brutal die Flammen zur Seite. Trug einen fremden, wilden Geruch und das Jaulen der Wölfe herein, näher zu ihr, viel zu nah. Sie schrie nicht, als sie das Klicken zahlloser Pfoten auf dem Höhlenboden hörte, war wie gelähmt vor Angst. Roch ihren eigenen Schweiß, Angstschweiß, und stöhnte leise.

* * *

Ein Reißen, Kreischen, das wohltuende Dämmerlicht jäh durch brüllende Helligkeit ersetzt. Gestalten, Bewegung, er spürte seine Muskeln arbeiten, verspürte Hunger. Bohrenden Hunger, ihr Geruch … der Geruch der Beute, der seinen Geist erfüllte, kein Raum für anderes. Lief mit ihnen, jagte mit ihnen; erfolgreich, dieses Mal, und der brutale Duft nach frischem, heißem Blut flutete seine Sinne. Beißen, Schlingen, sollten sie knurren, er forderte seinen Anteil. Bekam ihn, auch ein paar Knuffe und Gezwicke, doch er war gesättigt, ruhte mit ihnen. Sein Rudel.

Stillte seinen Durst an der Quelle, roch das Weibchen in seiner Nähe, sollte er es wagen? Unruhe in der engen Gemeinschaft, seinetwegen; Streit und Zorn, erneute Kämpfe.

Er streifte allein durch die Welt, die Wälder, über die Hügel bis hinauf in die kargen, schroffen Gipfel. Nur der Wind, Kälte und Schnee, Eis brannte, Sturm peitschte, riss, prügelte auf ihn ein und raubte ihm die letzte Kraft. Hier erst offenbarte sich sein wahrer Gegner, und sie liefen gemeinsam über die felsigen Berghänge, hetzten die Beute, Seite an Seite, teilten. Bis er sich ihm entgegen stellte, der Verrat brannte wie Säure, doch er wehrte sich. Nahm die Herausforderung an und kämpfte, mit ihm, sich selbst; es konnte keinen Sieger geben, nur einen. Ihn.

Blutend und verletzt, hoch aufgerichtet schrie er seinen Triumph heraus. Suchte … sein Volk, jetzt war er ihrer würdig.

* * *

Die Zeit dehnte sich, die Nacht wollte kein Ende nehmen, die Dunkelheit nicht weichen. Die Wölfe wurden unruhig, hoben witternd die Nasen, einige winselten. Der Rudelführer sprang knurrend auf, das Nackenfell gesträubt, die Lefzen drohend zurückgezogen. Ein gewaltiger Schatten erschien in der Nacht, glitt geräuschlos in die Höhle hinein, massiger, größer selbst als der Leitwolf und gänzlich unbeeindruckt von dessen Gebaren. Plötzlich stand der Schneeleopard über Reik, hieb ihm mit einer blitzschnellen Bewegung seiner riesigen Pranke quer über die Brust. Réa roch das frische, warme Blut, metallisch, süßlich, und sie musste würgen, hielt sich eilig die Hand vor den Mund, um ihren Schrei zu unterdrücken.

Unbeeindruckte schnüffelte die gewaltige Bestie ausgiebig an Reik, seinem Hals, den Achseln, an den Leisten, und … Réa ächzte, mochte nicht mehr hinsehen, presste die Lider … Da sich der breite Kopf vor sie schob, ihr Gesicht, ganz dicht, der Gestank überwältigend, betäubend. Sie konnte sich nicht rühren, nur atmen, viel zu hastig, spürte … Der Schatten verschwand lautlos und Réa … schwanden die Sinne.

* * *

Brutalität und Konfusion schwanden, zurück blieb einzig Klarheit. Und der Hunger, die Gier nach Leben, nach Blut.

Feuchtigkeit netzte seine Lippen, warm, ein bisschen salzig. Es verlangte ihn nach mehr, viel mehr, und so schlang er die Arme um die, die sich dicht über ihn beugte, so warm, so lebendig, zog sie eng an sich und hörte verzückt ihr erschrockenes Aufkeuchen.

„Reik!“

Er erkannte die Stimme, ihre Stimme, genoss die üppige Weichheit ihres Körpers, ihre Wärme, und drängte sich an sie, zwischen ihre Schenkel, spürte ihr Zittern, sie fror, ihre Angst. Flüsterte ihr heiser ins Ohr: „Du bist ganz kalt.“

Sie lachte, es klang eher wie ein Schluchzen, also küsste er sie behutsam, sanft, noch einige Male. Kostete ihre Tränen und zügelte sein Verlangen. Er sollte … würde ihr nicht wehtun, küsste sie erneut, inniger, und hielt sie zärtlich in seinen Armen.

„Aber du …“

„Aye“, unterbrach er sie. „Ich bin der Winterkönig. Der Jäger ist lediglich ein Teil von mir.“

Er spürte, wie sie sich ein wenig entspannte, an ihn schmiegte, und das gefiel ihm, weckte seine Lust. Er zerrte den störenden Stoff der Robe von ihren Schultern, entblößte ihre Brüste, die sich ihm üppig und prall entgegen reckten, hörte ihr leises Keuchen und streichelte sacht die Innenseite ihrer Schenkel; er roch sie, ihren Duft, und war erregt.

Er hatte sich nie viel aus Jungfrauen, derart jungen Mädchen gemacht, sie jammerten ihm zu viel, hatten hunderterlei Bedenken, doch Réa … gefiel ihm, war eine sehr weibliche Frau, und er könnte … Spreizte ihre Schenkel ein wenig weiter und drängte sich näher an sie, ihren Schoß, küsste sie längst nicht mehr nur sacht und zärtlich; gierig, fordernder. Ihr Mund schmeckte köstlich, er hörte sie einmal mehr keuchen, wie leise jammernd stöhnen, und endlich kam sie ihm entgegen, öffnete sie sich ihm. Er bekam Blut, ihr Blut, natürlich, doch war es ihm nicht mehr wichtig.

Hörte die Wölfe heulen, nicht allein in seinem Kopf.

Stand hoch aufgerichtet am Eingang der Höhle, die Wölfe zu seinen Füßen, und blickte über die Welt. Mandura. Alles überdeutlich, klar, und für einen langen Moment gab es keinerlei Zweifel mehr. Nur unumstößliches Wissen, Gewissheit, er war … der Winterkönig. War der nächste …

* * *

Lorana vermied es, zu dem Mädchen zu sehen. Sie hatte bereits nach Nadka schicken lassen, dessen Wunde zu versorgen; schlimm genug, dass dieser Kerl … Hauptmann Davian in ihrem Arbeitszimmer herum lungerte. Er, Männer seiner Art, Gardisten missfielen ihr, und gerade er … Eine fatale Schwäche, der sie nicht nachgeben wollte.

Sie griff nach ihrer Teetasse, trank aber nicht. „Die beiden Männer … Priester weilen also noch unten?“ Sie hatten auf ungehinderten Zutritt zum unteren Tempel gedrungen, und den konnte sie diesen ‚Kapuzenträgern‘ unmöglich verwehren.

„Sie warten, dass die Sonne aufgeht“, murmelte Mara undeutlich. Sie war bleich, hatte den Kopf angelehnt, die Augen geschlossen.

Lorana runzelte die Stirn, die Sonne war längst aufgegangen. „Und …“ Sie presste die Lippen zusammen, sie würde nicht fragen, nicht dieses Kind.

„Ich hoffe, es gibt keine Schwierigkeiten, wenn wir hier im Tempel heiraten wollen?“, fragte der Hauptmann unvermutet. Sein Tonfall klang zahm, fast defensiv. Höflich?

„Nein.“ Sollte es so einfach sein? Es würde Lorana schwerfallen, sich bei dem Mädchen … Mara für ihr eigenes, etwas voreiliges und allzu sehr von Gefühlen geleitetes Verhalten zu entschuldigen, das so … „Gewiss nicht. Es wäre mir eine große Freude, Hauptmann, Euch im Tempel von Samala Elis zu vermählen. Gehe ich recht …“

„Paar Tage nach seiner Ankunft, genau.“

Sein verhaltenes, absichtsloses Grinsen gefiel ihr. Lorana überließ dem Mann das letzte Wort und bemerkte das Lächeln auf der Miene des Mädchens. Sie musste nicht mehr nachfragen, wie es der Priesterin, wie es Réa ging.

* * *

Schon in der nächsten Nacht suchte der zornige Gott Mara wieder heim. Schreiend, vor Entsetzen und Elend würgend fuhr sie hoch, kämpfte gegen Schwindel und Übelkeit.

„Hat er dir wehgetan?“ Davian zog sie eng an sich.

„Was ist das denn für eine Frage?“

„Eine nahe liegende. Mara, du hast geschrien, als würde man dich foltern.“

„Aber … Das hast du gehört?“, wunderte sie sich.

Davian blickte ihr ins Gesicht. „Ich nehme das als ein Ja. Nicht in dem Sinne gehört, aber gespürt.“

„Oh.“ Sein Geruch, seine bloße Gegenwart gaben der Welt wieder Festigkeit. Sicherheit.

„Was ist passiert, Zauberin?“

„Der zornige … der Jäger war da, er stand direkt vor mir, ich weiß es, aber … Er sagte, ich würde vergessen, dass er überhaupt da war, dass wir geredet haben und …“ Verwirrt schüttelte sie den Kopf, schaute auf ihre verbundene Hand. „Ich kann nicht vergessen, Davian. Alles, was jemals passiert ist, mein ganzes Leben, es ist immer da, immer gegenwärtig.“

„Jede Einzelheit?“

„Alles.“

Vorsichtig strich Davian über ihre Finger, barg dann behutsam ihre Rechte in seinen Händen. „Das klingt nicht gut. Wie kannst du noch unterscheiden zwischen dem, was war, und dem, was ist, was gerade jetzt geschieht?“

„Es ist manchmal schwierig. Ich musste es lernen.“

„Dann …“ Er runzelte die Stirn, küsste zärtlich ihre Fingerspitzen. „Dann weißt du also, was passiert … was er gesagt hat?“

„Ich fürchte, ich werde mich erinnern.“ Ihr war übel, ihr war heiß und kalt zugleich und sie fror entsetzlich, zitterte am ganzen Leib. „Davi …“

Die Sonne, verborgen hinter dicken, grauen Schneewolken, war längst untergegangen, die Nacht heraufgezogen. Erste, große Flocken segelten lautlos zu Boden und Davian hielt sie fest im Arm. Er würde sie die ganze Nacht so halten, würde wachen, doch Maras Angst blieb. Sie drückte das Gesicht an seine Brust, wollte nicht mehr denken. „Halt mich.“

Er zog wortlos die Decken über sie.

(219./220. Tag)

König und Dämon

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