Читать книгу Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann - Страница 23
Kapitel 1
Оглавление2. September
Erster Schultag nach den Sommerferien in der Akademie der Totenbändiger
Nur mit Mühe unterdrückte Jaz ein Gähnen und wünschte sich zurück ins Bett. Worum auch immer es in dieser Oberstufenversammlung gleich gehen würde, sie war sich sicher, eine Stunde Schlaf wäre sinnvoller verbrachte Zeit.
Ein Spiel aus Sonnenlicht und Wolkenschatten fiel durch die hohen Fenster in den altehrwürdigen Versammlungssaal der Akademie. Zwei Stockwerke hoch und holzgetäfelt besaß der längliche Raum eine gewölbte Kuppeldecke, in deren Stein irgendwann vor langer Zeit hübsche Ornamente gemeißelt worden waren. Eine Galerie lief auf Höhe des ersten Stockwerks entlang und führte in die Nachbargebäude. Dicke Läufer lagen auf jahrhundertealtem Steinboden und an den Wänden hingen Portraits der verschiedenen Master, die seit über vierhundert Jahren erst das Anwesen, später dann die Akademie geleitet hatten.
Jaz betrachtete das Gemälde von Master Barnabas. Ein Hüne mit feuerroten Haaren und ebensolchem Bart. Er war der erste Master gewesen. Laut der alten Geschichtsaufzeichnungen hatte er eine Truppe von Totenbändigern aus dem ganzen Land um sich geschart und war mit ihnen mehrere Jahre raubend und mordend durch halb England gezogen, bevor sie im Herbst 1613 nach London kamen. Die dunkle Jahreszeit stand vor der Tür und sie brauchten eine Unterkunft, also metzelten sie kurzerhand eine Adelsfamilie nieder, die auf einem Anwesen am Richmond Park lebte, und übernahmen das schlossartige Herrenhaus samt seiner Ländereien. Die Nachbarn waren darüber verständlicherweise wenig begeistert und es gab etliche Versuche, Barnabas und seine Leute wieder zu vertreiben – mit hohen Verlusten auf beiden Seiten, sodass man sich schließlich auf einen Waffenstillstand einigte: Man überließ Barnabas das Anwesen, dafür verschonten die Totenbändiger die Nachbarschaft mit Raubzügen.
Barnabas gefiel sich in seiner neuen Rolle als Schlossherr, ließ seine Anhänger den landwirtschaftlichen Betrieb wieder aufnehmen und das Herrenhaus wurde zu einer Anlaufstelle für alle Totenbändiger im Großraum Londons.
In der Akademie wurde der erste Master dafür als Held gefeiert. Jaz dagegen fand, Leute wie Barnabas und seiner Horde trugen maßgeblich Schuld daran, dass Totenbändiger in der Gesellschaft einen so schweren Stand hatten. Las man in den Geschichtsbüchern zwischen den Zeilen, musste jedem klar sein, dass Barnabas nach dem Waffenstillstand zwar die Leute in der Nachbarschaft in Frieden gelassen hatte, doch das galt nicht für den Rest Londons. Woher hätten sonst die Gelder für den Ausbau des Herrenhauses kommen sollen? Nur von der Landwirtschaft sicher nicht. Also wurde vermutlich weiter geplündert und gemordet, um sich zu bereichern. Um des lieben Friedens willen nur eben nicht mehr direkt vor der Haustür.
In den Geschichtsbüchern stand außerdem viel von geschäftlichen Beziehungen, die Barnabas mit den Reichen und Mächtigen der Londoner Gesellschaft nach und nach aufbaute. Er bot ihnen mit seinen Totenbändigern Personenschutz gegen Geister und Ganoven an, wenn Adelige und Politiker in der Dämmerzeit unterwegs waren. Weitere Angebote waren die Säuberungen von Grundstücken sowie deren Absicherung gegen Geister und Wiedergänge. Seine Dienste ließ er sich großzügig bezahlen. Und Jaz ging jede Wette ein, dass diejenigen, die kein Interesse an diesen Diensten zeigten, schnell vom Gegenteil überzeugt wurden, indem man ihnen ein paar unschöne Begegnungen mit Geistern oder Ganoven bescherte.
Jaz wandte den Blick vom ersten Master ab und betrachtete stattdessen das Portrait des heutigen Schulleiters. Cornelius Carlton hatte erreicht, dass nächsten Monat darüber abgestimmt wurde, ob die Gilde der Totenbändiger genau wie alle anderen Gilden Londons endlich einen Sitz im Stadtrat bekommen sollte. Jaz fragte sich, welche Mittel Master Carlton dafür wohl eingesetzt haben mochte – und welche er noch einsetzen würde, damit der Stadtrat bei der Abstimmung zugunsten der Totenbändiger entschied.
Innerlich seufzend schaute sie aus dem Fenster. Vom einstigen landwirtschaftlichen Betrieb war nicht mehr viel übrig. Es gab auf dem Gelände zwar noch ein paar Gemüsebeete und einen Hühnerstall, um die sich die jüngeren Kinder der Akademie mit ihren Betreuern kümmerten, doch ein Großteil der Ländereien war in den letzten Jahrhunderten verkauft worden. Mittlerweile bestand das Anwesen nur noch aus dem großen, hufeisenförmigen Haupthaus sowie zwei etwas abseits gelegenen Nebengebäuden, in denen früher die Stallungen untergebracht waren. Heute diente eines als Garage, das andere als Trainingsraum für den Unterricht in Sport, Selbstverteidigung und Grundlagen der Totenbändigerfähigkeiten. Im Haupthaus befanden sich neben dem Versammlungssaal die Bibliothek, Klassenzimmer, Lehrerzimmer sowie Wohnräume von Schülern und Lehrern, außerdem Küche und Speisesaal, Büros und die Privaträume des Leiters der Akademie.
Jaz änderte ihre Sitzposition. Sie saß hier noch keine zehn Minuten, trotzdem taten ihr Rücken und Hintern jetzt schon weh. Vermutlich waren diese blöden Stühle vor gefühlten zweihundert Jahren extra so unbequem gestaltet worden, damit man bei langweiligen Vorträgen bloß nicht einschlief. Sie unterdrückte ein weiteres Gähnen und blickte sehnsüchtig zum verwilderten Wald des Richmond Parks hinüber, der sich jenseits der Grundstücksmauern erstreckte. Sie hätte jetzt einiges dafür gegeben, dort draußen zu sein.
Joggen zum Wachwerden.
Das hätte jetzt was.
Stattdessen hatte man sie mit den anderen Oberstufenschülern der Akademie in den Versammlungssaal bestellt – und Versammlungen bedeuteten entweder nichts Gutes oder elend lange, sterbensöde Vorträge.
Klassische No-Win-Situation.
Sie waren nicht viele Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe. Sechs, die dieses Schuljahr den Abschluss machen wollten, sieben im nächsten. Nicht jeder schaffte die Anforderungen für die Oberstufe und der ein oder andere brach auch noch innerhalb der beiden Abiturjahre ab. Doch ein höherer Abschluss bedeutete bessere Chancen auf einen Job und Totenbändiger konnten jeden erdenklichen Vorteil bei der Arbeitssuche gebrauchen. Außerdem konnte man die Akademie ohnehin erst mit achtzehn verlassen, wenn man keine Familie hatte – außer man ging nach Newfield.
Jaz’ Hals juckte. Der steife Kragen ihrer Bluse machte sie wahnsinnig. Wer auch immer in grauer Vorzeit Stehkragenblusen als Teil der Schuluniform festgelegt hatte, war definitiv sadistisch veranlagt gewesen. Und wie jedes Jahr war es nach fast zwei Monaten Sommerferien auch diesmal wieder eine Umstellung, das ätzende Ding tragen zu müssen.
Ein letztes Jahr lang.
Und wenn es nach Jaz ging, konnte es gar nicht schnell genug vorübergehen.
»Oh Mann, ich bin so aufgeregt! Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich es tatsächlich in die Oberstufe geschafft hab!« Hibbelig rutschte Sarah auf ihrem Stuhl hin und her. »Was denkt ihr, warum sie uns hierher bestellt haben? War das im letzten Jahr bei euch genauso? Gab es da auch eine Oberstufenversammlung zu Beginn des neuen Schuljahres?«, fragte sie an Jessica, Jaz und David gewandt, wartete deren Antwort aber gar nicht ab, sondern plapperte sofort weiter. »Ich glaube nicht, oder? Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass ihr zu so was hinmusstet.«
Wie so oft redete Sarah ohne Punkt und Komma. In Sozialkunde hatten sie irgendwann mal durchgenommen, dass jeder Mensch im Durchschnitt sechzehntausend Wörter am Tag sprach. Sarah schaffte locker doppelt so viele. Jaz dagegen beschränkte sich gerne aufs Nötigste. Statistisch gesehen ergänzten sie sich also perfekt.
Jaz warf ihrer Zimmergenossin einen Seitenblick zu. Sarah hatte ihre zartrosa Haare zu zwei langen Zöpfen geflochten, was sie in Verbindung mit der Schuluniform aussehen ließ wie ein zwölfjähriges Chormädchen, nicht wie eine sechszehnjährige Oberstufenschülerin. Doch Sarah lebte ohnehin oft in ihrer eigenen kleinen Welt und träumte vom berühmten Prinzen auf dem weißen Pferd. Sie war ein Jahr jünger als Jaz und genau wie sie eine Interne, die als Baby in der Akademie abgegeben worden war, weil ihre leiblichen Eltern keine Totenbändigerin in ihrer Familie hatten haben wollten. Solange Jaz denken konnte, teilten sie sich schon ein Zimmer, und obwohl sie so verschieden waren wie Tag und Nacht, hatte das immer erstaunlich gut funktioniert. Sie waren zwar keine besten Freundinnen, sondern eher eine Art gut eingespielte Zweckgemeinschaft, aber sie halfen sich gegenseitig und nahmen einander so, wie sie eben waren. Das war mehr, als die meisten anderen hier taten.
»Nee, letztes Jahr hatten wir keine Versammlung.« Jessica spielte mit einer ihrer schwarzen Korkenzieherlocken. Ihre Haut war so dunkel, dass man die feinen schwarzen Totenbändigerlinien, die sich von ihrer Schläfe hinab zum Ohr schlängelten, kaum erkennen konnte. Jessica war eine der Externen, die jeden Morgen zur Schule herkamen. Ihre Eltern waren beide Totenbändiger und soweit Jaz wusste, lebten sie irgendwo in Putney in der Nähe des Wandsworth Parks. Jessica war zwar deutlich cooler als Sarah, doch auch sie sah in der Uniform aus wie ein Chormädchen.
Jaz schnaubte innerlich. Himmel, wir sehen alle aus wie verdammte Chorkinder!
Ihre Schuluniform bestand aus einer weißen Bluse mit immens nervigem, extra steif gebügeltem Stehkragen, einem knielangen schwarzen Faltenrock, grauem Pullunder und einem schwarzen Blazer, auf dessen linker Brustseite in Weiß das Zeichen der Akademie aufgestickt war: eine Triskele, deren drei Schlaufen in keltischen Knoten endeten. Diese Dreieinigkeit stand in ihrer Gemeinschaft für Körper, Seele und Geist, mit denen Totenbändiger ihre Fähigkeiten beherrschten und sich von den unbegabten Menschen unterschieden, die keine Chance gegen Geister und Wiedergänger hatten.
»Ich schätze, diese Versammlung hat etwas mit unseren Besuchern zu tun«, meinte David, ein weiteres internes Chorkind. Die Uniform der Jungen bestand aus weißen Hemden, schwarzen Tuchhosen, grauen Pullundern und schwarzen Sakkos, auf denen ebenfalls das Schulwappen aufgestickt war.
»Welche Besucher?«, fragte Jessica überrascht.
»Die beiden aus Newfield.«
David nahm seine Brille ab und polierte die Gläser mit einem Zipfel seines Pullunders. Wie immer hatte er seinen violett schimmernden Haaren einen perfekten Seitenscheitel verpasst und sie mit jeder Menge Gel fixiert, damit bloß keine Strähne irgendetwas tat, was sie nicht tun sollte.
»Sie sind gestern sehr spät hier angekommen. Master Carlton hat sie in seinen Privaträumen zum Abendessen empfangen und heute Morgen haben sie dort gemeinsam gefrühstückt. Ruben und ich hatten Servierdienst. Die zwei sind sehr nett. Sie heißen Anya und Drew. Anya ist früher hier in der Akademie zur Schule gegangen.«
»Oh wie cool! Besuch aus Newfield!« Wie immer war Sarah total schnell begeistert, egal von was. »Da muss es sooo toll sein. Ich hatte ja echt überlegt, ob ich Master Carltons Angebot annehmen und dorthin wechseln soll, aber Jaz meinte, ich soll erst mal die Oberstufe versuchen. Immerhin hab ich die Qualifikation dafür ja geschafft.«
Mit Ach und Krach. Zig Stunden hatte Jaz mit ihr gebüffelt, damit Sarah es hinbekam. Und als sie die Prüfungen dann tatsächlich bestanden hatte und plötzlich meinte, sie würde vielleicht doch gar nicht in die Oberstufe wollen, hatte Jaz ihr ordentlich ins Gewissen geredet – und sich damit bei Master Carlton nicht sonderlich beliebt gemacht. Aber das war Jaz egal. Auf einmal mehr oder weniger anecken bei ihrem Schulleiter kam es ohnehin nicht mehr an.
»Weißt du schon, dass letzte Woche fünf Kids aus Newfield zu uns in die Akademie gekommen sind?«, fragte Sarah an Jessica gewandt. »Sie sollen hier eine gute Schulbildung bekommen.«
»Macht Sinn. Auf der Farm haben sie dafür nicht die Möglichkeiten. Würdest du da echt hinwollen? Weg aus London in die Pampa von Yorkshire?« Jessica rümpfte die Nase und spielte weiter mit einer ihrer Locken.
Sarah nickte eifrig. »Sicher. Das ist doch total idyllisch! Und Newfield ist ja schon viel mehr als bloß eine Farm. Master Carlton hat uns erzählt, dass sie dort ständig bauen und alles erweitern. Es soll zu einem richtigen kleinen Dorf werden, in dem nur Totenbändiger leben. Stell dir doch mal vor, wie cool das wäre! Keine Unbegabten, die uns blöd angucken. Nicht mehr ständig angefeindet werden, wenn wir einen Fuß vor die Tür setzen. Ein eigenes kleines Dorf, nur für uns alleine. Das ist doch toll!«
»Ich finde die Idee auch sehr reizvoll.« David setzte sich die Brille wieder auf und schob sie seine Nase hoch. »Ich werde auf jeden Fall nach Newfield gehen. Natürlich erst nach dem Abschluss hier auf der Akademie. Ich könnte auf der Farm leben und ein Fernstudium machen. Master Carlton findet das eine gute Idee. Sie haben bisher erst eine Ärztin, und wenn Newfield in den nächsten Jahren weiter wächst, brauchen sie mehr Fachleute, um die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Ich würde gerne dabei helfen, dort unsere eigene Gesellschaft aufzubauen.«
»Ich auch!«, strahlte Sarah. »Das klingt sooo cool!«
Die Tür zum Südflügel ging auf und Cornelius Carlton erschien. Der Leiter der Akademie wurde begleitet von einer Frau und einem Mann. Jaz schätzte die beiden auf Mitte bis Ende zwanzig. Er war groß und muskulös, komplett in lässigem Schwarz gekleidet mit Jeans, Hemd und Boots. Sie trug ein schlichtes Sommerkleid, unter dem sich ein kleiner Babybauch wölbte. Hinter den dreien schritt Blaine mit seiner typischen Ich-bin-der-Sohn-des-Akademieleiters-Haltung in den Versammlungssaal. An seiner Seite waren Leroy und Asha, seine beiden nicht minder arroganten Freunde, die sich für etwas Besseres hielten, weil sie aus jahrhundertealten Totenbändigerfamilien stammten. Beim Anblick der drei fragte Jaz sich wie so oft, womit sie es verdient hatte, dass die drei ausgerechnet in ihrem Jahrgang waren.
»Guten Morgen, Oberstufe!« Master Carlton hatte die Stühle des Versammlungssaals zu einem Kreis stellen lassen und lud seine beiden Gäste ein, Platz zu nehmen. Cornelius Carlton war ein hochgewachsener, gutaussehender Mann Mitte vierzig, der die Leitung der Akademie vor zwölf Jahren nach dem Tod seines Vaters übernommen hatte. Er blieb als Einziger im Kreis stehen und bedachte seine Schülerinnen und Schüler mit einem Lächeln.
»Für die einen von euch ist dies das letzte Schuljahr.« Er sah zu seinem Sohn, Leroy, Asha, David, Jaz und Jessica. »Für die anderen startet heute der erste Tag eurer freiwilligen Schulbildung.« Er blickte zu Sarah und den anderen sechs aus der elften Klasse. »Und für euch alle ist es damit Zeit, euch Gedanken um eure Zukunft zu machen.«
Jaz pustete sich eine burgunderfarbene Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, und widerstand nur mit Mühe dem Drang, genervt ihre Arme vor der Brust zu verschränken. Sie hatte solche Planungsgespräche über ihre Zukunft mit ihrem Schulleiter in diesem Jahr schon zwei Mal geführt. Mit mäßigem Erfolg. Master Carlton akzeptierte nicht, dass man andere Pläne hatte als die, die er für einen vorsah, deshalb hatte Jaz so ihre Schwierigkeiten mit ihrem Schulleiter. Und die Tatsache, dass zu der heutigen Versammlung nur zwei Leute aus Newfield hier waren und keinerlei alternative Berufsberater, ließ sie ahnen, wie einseitig dieses Planungsgespräch laufen würde.
Prinzipiell konnte Jaz verstehen, dass für viele ihrer Leute die Vorstellung eines Ortes, an dem nur Totenbändiger lebten und man nicht schief angeguckt und vorverurteilt wurde, sehr verlockend war. Wenn sie durch London streifte, nervten sie die Anfeindungen und misstrauischen Blicke auch tierisch. Doch ein Rückzug aus der Gesellschaft auf irgendeine abgelegene Farm in Yorkshire änderte daran ja nichts. Im Gegenteil. Wenn Totenbändiger sich rund um diese Farm ein eigenes Dorf aufbauten und sich darin vor dem Rest der Bevölkerung abschotteten, dachten die Menschen doch gleich wer weiß was und das würde Vorurteile und Misstrauen gegenüber Totenbändigern nur verstärken.
Die viel bessere Lösung war doch Sichtbarkeit. Für Jaz mussten Totenbändiger in der Gesellschaft noch viel präsenter werden als bisher.
»Einige von euch wollen hier in London bleiben und sich gemeinsam mit unserer Gilde für die Gleichstellung der Totenbändiger einsetzen«, sprach Carlton weiter und bedachte seinen Sohn und dessen Freunde mit einem wohlwollenden Blick.
Blaine lächelte selbstgefällig in die Runde und Jaz konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen. Klar durfte der Kronprinz an Daddys Seite bleiben. Vermutlich spekulierte er schon darauf, eines Tages die Leitung der Akademie von seinem Vater zu übernehmen, genauso wie Carlton sie von seinem Vater übernommen hatte.
Jaz wollte auch in London bleiben und sich für ein besseres Ansehen der Totenbändiger hier in der Stadt einsetzen. Nach ihrem Anschluss wollte sie auf die Polizeiakademie gehen und sich später für eine der Spuk Squads bewerben. Gemeinsam mit Nicht-Totenbändigern gegen Geister und Wiedergänger kämpfen und so ihren Mitbürgern zeigen, wie gut zusammenarbeiten und zusammenleben funktionierte. Doch Master Carlton war mit ihren Plänen nicht einverstanden.
»Für andere könnte unsere Farm in Newfield eine Alternative sein.« Carlton blickte zu Sarah, Bethany, Sally und Paula, dann auch kurz zu Jessica und Jaz. »Deshalb freue ich mich sehr, dass heute Anya und Drew bei uns sind. Sie leben schon seit einigen Jahren in Newfield und sind maßgeblich mit am Aufbau und der stetigen Erweiterung beteiligt. Bitte begrüßt sie.«
Carlton begann zu klatschen und setzte sich auf den letzten noch freien Platz, während alle gehorsam in seinen Applaus einfielen. Auch Jaz. Sie hatte auf die harte Tour gelernt, dass das Leben in der Akademie einfacher war, wenn man gute Miene zu bösem Spiel und die Faust nur in der Tasche machte.
»Danke, Master Carlton.« Drew nickte ihm zu und wandte sich dann an die Jugendlichen. »Und danke an euch, dass ihr uns so herzlich willkommen heißt. Es tut sehr gut, eine Gruppe so fähiger junger Leute unseres Schlages hier versammelt zu sehen, und ich bin mir sicher, ihr wisst, wie glücklich ihr euch schätzen könnt. Mit der Akademie gibt es hier in London einen Ort, an dem diejenigen, die von ihren leiblichen Eltern verstoßen wurden, geschützt aufwachsen können. Und diejenigen von euch, die aus Totenbändigerfamilien stammen, haben hier die Möglichkeit, gemeinsam zur Schule zu gehen und eine gute Ausbildung zu genießen. Eure Gemeinschaft konnte hier eine Gilde aufbauen und bekommt in einigen Wochen sogar die Chance, für eine offizielle Vertretung im Stadtrat zu kämpfen. Das ist großartig und wir in Newfield danken euch für den Beitrag, den ihr hier leistet.«
Jetzt klatschte er und Anya fiel mit ein. Master Carlton bedachte die beiden mit einem seiner jovialen Lächeln, bei denen Jaz immer unwillkürlich mit den Zähnen knirschen musste.
»Im Rest des Landes sieht es für uns Totenbändiger jedoch leider weiterhin sehr düster aus«, sprach Drew weiter. »In größeren Städten wie Manchester oder Birmingham haben sich zwar kleinere Gemeinden zusammengefunden, doch da die Bereitschaft der Bevölkerung gering ist, uns auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt eine Chance zu geben, bleibt vielen nur ein Leben als Selbstversorger auf dem Land. Dort wachsen Kinder und Jugendliche oft isoliert auf, weil sie nicht in öffentliche Schulen gehen dürfen und nur Zuhause unterrichtet werden können. Nicht alle Eltern haben dazu aber die nötige Kompetenz, sodass dort viel Potenzial verloren geht oder unentdeckt bleibt.«
Drew deutete zu Master Carlton und machte dann eine ausladende Handbewegung in den Versammlungssaal. »Natürlich hätten all diese Kinder die Möglichkeit, hier in der Akademie unterrichtet zu werden. Doch nur wenige Eltern bringen es übers Herz, ihre Kinder in ein Internat zu geben. Besonders, wenn die Kleinen noch Grundschüler sind.«
»Newfield soll deshalb zu einer Alternative werden«, übernahm nun Anya. »Alle Familien, die sich im Moment alleine als Selbstversorger durchschlagen, sollen bei uns den Rückhalt einer größeren Gemeinschaft bekommen. Sie bringen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in Newfield ein und dafür erhalten sie in Newfield Sicherheit und das Gefühl, nicht mehr mit allem alleine zu sein. Newfield ist das Versprechen auf eine Heimat für alle Ausgegrenzten und Verstoßenen, in der wir einander wertschätzen und so sein können, wie wir sind. Ohne dass wir uns erklären oder für Dinge rechtfertigen müssen, die wir oft gar nicht getan haben. Ohne Angst, dass sich jemand von uns bedroht fühlt und uns ohne Bestrafung quälen oder gar töten darf.«
»Oh Mann, das klingt sooo toll«, seufzte Sarah hingerissen.
Anya schenkte ihr ein warmherziges Lächeln. »Es freut mich sehr, dass du unsere Vision einer besseren Zukunft teilst.« Dann blickte sie von einem zum anderen. »Wir sind heute zu euch in die Akademie gekommen, weil ihr hier in den letzten Jahren eine anspruchsvolle Bildung genießen konntet. Und solche Leute brauchen wir in Newfield. Ihr habt sicher mitbekommen, dass einige der älteren Newfieldkinder hierher zu euch in die Akademie geschickt wurden, um ihnen ebenfalls eine erstklassige Schulbildung zu ermöglichen.«
Ein paar der Schüler nickten bestätigend.
»Umgekehrt hat Newfield in den letzten Jahren Babys und Kindergartenkinder aus London aufgenommen, denn unsere Farm bietet die perfekte Möglichkeit, sie in behüteter Umgebung aufwachsen zu lassen. Auch einige eurer jüngeren Grundschulkinder sind zu uns gekommen, wenn sie hier keine eigenen Familien hatten, oder wenn ihre Familien London den Rücken zugekehrt haben, um in Newfield ein neues Leben anzufangen.«
»Momentan leben dreiundzwanzig Kinder im Grundschulalter bei uns«, berichtete Drew. »Deshalb haben wir im Sommer auf der Farm eine kleine Schule mit zwei Klassen eingerichtet. Doch uns fehlen Leute, die diese Kinder unterrichten. Gerade jetzt, zur Erntezeit, werden unsere Erwachsenen und die älteren Jugendlichen auf den Feldern gebraucht. Außerdem bauen wir gerade zusätzlichen Wohnraum für unsere stetig wachsende Gemeinschaft. Der muss bis zum Herbst fertig werden, damit wir allen, die in der dunklen Jahreszeit Zuflucht bei uns suchen, ein sicheres Zuhause bieten können.«
Drew sah zu genau den Mädchen in der Runde, die Carlton bereits zuvor ins Visier genommen hatte. »Master Carlton hat uns erzählt, dass es hier einige Schülerinnen gibt, die sowohl die Bildung, als auch die Geduld und Kompetenz mitbringen, jüngere Kinder unterrichten zu können. Das habt ihr bewiesen, indem ihr den unteren Klassen dieser Akademie bei den Hausaufgaben helft oder Nachhilfeunterricht gebt.«
Ernsthaft?
Jaz zog eine Augenbraue hoch und konnte sich nicht mehr länger zurückhalten. »Okay, das stimmt zwar, aber nur weil ich zwei Jungs geholfen hab, das Bruchrechnen zu verstehen, heißt das ja noch lange nicht, dass ich Mathe unterrichten kann. Ich hab keine Ahnung von Pädagogik und Lehrplänen und was man als Lehrerin sonst noch so draufhaben muss.«
Anya lächelte. »Aber wie du selbst sagst, haben die beiden das Bruchrechnen mit deiner Hilfe verstanden. Das ist es, was zählt. Manche Menschen haben ein natürliches Talent für bestimmte Dinge. Für einige von euch trifft das offensichtlich zu«, sagte sie dann wieder an alle gewandt. »Ihr habt eine natürliche Begabung dafür, Kindern etwas beizubringen. Dieses Talent solltet ihr nutzen. Und über Lehrpläne müsst ihr euch keine Sorgen machen. Das alles würde euch bei eurer Arbeit in Newfield natürlich zur Verfügung stehen. Und unsere Kinder freuen sich schon sehr auf euch.«
»Das heißt, ihr seid hier, um zu fragen, wer von uns Lust hat, mit euch nach Newfield zu gehen, um dort den Unterricht an eurer Grundschule zu übernehmen?«, fragte Bethany, ein pummeliges und ziemlich gemütliches Mädchen aus Sarahs Jahrgang.
»Exakt. Damit würdet ihr einen unglaublich wertvollen Beitrag für unsere Gemeinschaft leisten. Im Gegenzug bieten wir euch dafür ein neues Zuhause ohne Angst oder Sorgen um eure Zukunft.«
»Aber was ist mit unseren Abschlüssen?«, fragte Paula, die Musterschülerin der elften Klasse.
»Die mittlere Reife habt ihr ja bereits«, sagte Anya. »Falls die eine oder andere von euch sich also entschließt, die Oberstufe abzubrechen, wäre das überhaupt kein Problem. Falls du aber trotzdem dein Abitur machen möchtest, würden wir dir nach deinen Pflichten mit den Kindern den Freiraum ermöglichen, deinen Abschluss als Fernstudium im Homeschooling zu machen. Die Aufgaben dazu gibt es im Internet und die Lehrer der Akademie würden dir bei Fragen per E-Mail oder Videokonferenz zur Verfügung stehen. Wie gesagt«, sie schenkte Paula und dann auch Jaz ein versicherndes Lächeln, »wir brauchen gut ausgebildete Leute und unterstützen euch voll und ganz.«
Dann blickte sie zu den anderen Mädchen und streichelte über ihren Babybauch. »Wir schätzen allerdings auch anderen Einsatz, denn natürlich soll unsere kleine Gemeinschaft weiter wachsen. Ich bin bereits zum dritten Mal schwanger und beide Kinder, die ich zur Welt gebracht habe, sind starke Totenbändiger.« Sie strahlte stolz vor Glück. »Auf der Farm ist es einfach, einen Partner zu finden. Und falls ihr keinen wollt oder lieber eine Partnerin mögt, ist das auch kein Problem. Unsere Männer spenden auch gerne Leben und unsere Ärztin ist bei der Empfängnis behilflich.«
Jaz konnte sie nur ungläubig anstarren und wusste nicht, ob sie ihren Ohren gerade wirklich trauen wollte.
»Wichtig ist, dass unsere Gemeinschaft wächst«, übernahm nun wieder Drew. »Ich denke, wir sind uns alle einig, dass wir mehr Totenbändiger in diesem Land brauchen, um besser gegen unsere Unterdrückung durch die unbegabte Mehrheit vorgehen zu können.« Er sah erneut zu Sarah, Paula, Sally, Bethany, Jessica und Jaz. »Ihr sechs seid junge, gesunde Frauen. Wie Anya und einige andere Frauen in Newfield könnt ihr entscheidend dazu beitragen, dass die Zahl der Totenbändiger in diesem Land wächst.«
Jetzt hatte Jaz endgültig das Gefühl, in einem völlig falschen Film gelandet zu sein. Einem, bei dem sich ihre Fußnägel aufrollten und die Nackenhaare sträubten.
»Als was denn bitte? Gebärmaschinen?! Mann, einige hier sind gerade erst sechzehn!« Ihr war klar, dass sie besser den Mund gehalten hätte, aber das hier war mal wieder einer dieser Fälle, in denen das einfach nicht ging.
Anya lächelte nachsichtig. »Das Alter sagt nichts über die Reife einer Person aus. Die eine oder andere von euch hegt vielleicht schon jetzt den Wunsch nach einer eigenen Familie.« Sie blickte zu Sarah, Bethany und Sally, die alle Gesichter machten, als wären sie nicht abgeneigt. »Und wie gesagt, ihr müsst euch nicht mit einem Mann einlassen, wenn ihr euch dazu noch nicht bereit fühlt. Auch wenn es auf der Farm einige wirklich nette junge Männer gibt.«
Anya zwinkerte den dreien vielsagend zu und Jaz konnte nur den Kopf schütteln, als sie das Funkeln in Sarahs Augen sah. Vermutlich wartete in ihrer Vorstellung schon der Prinz mit dem weißen Pferd voll inbrünstiger Sehnsucht vor den Toren der Farm auf sie, um sie leidenschaftlich in Empfang zu nehmen.
Wieder streichelte Anya ihren Bauch. »Leben zu schenken, ist das absolut Großartigste, was ich bisher erleben durfte. Das sollte sich keine von euch entgehen lassen. Und solltet ihr euch entscheiden, nach Newfield zu kommen, habt ihr keinerlei Existenzsorgen mehr. Die Gemeinschaft sorgt für Unterkunft und Verpflegung, ihr bekommt jegliche Unterstützung, die junge Mütter brauchen, und ihr müsstet euch keine Gedanken mehr darüber machen, wie ihr euch nach eurem Abschluss hier in London durchschlagen wollt. Auch wenn sich hier in der Stadt im Moment einiges wandelt, wird es trotzdem in den nächsten Jahren auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt für uns Totenbändiger weiter schwierig bleiben. In Newfield gibt es keine Sorgen um ein sicheres Zuhause. Es gibt auch keine finanzielle Ängste. Wir kümmern uns umeinander. Und jeder, der einen Beitrag zu unserer Gemeinschaft leistet, bekommt dafür unglaublich viel zurück.«
Jaz wollte schon wieder den Mund aufmachen, doch der Blick ihres Schulleiters verriet ihr, dass es besser war, zu schweigen.
Carlton bohrte seinen Blick noch einen Moment länger warnend in Jaz, als wollte er sicherstellen, dass sie auch wirklich den Mund hielt, dann wandelte sich seine Miene wie auf Knopfdruck und er wandte sich mit einem weltmännischen Lächeln an seine beiden Besucher.
»Vielen Dank, Anya und Drew, für euren Bericht. Ich bin mir sicher, einige hier brauchen jetzt etwas Zeit, um über euer großzügiges Angebot nachzudenken. Außerdem möchte die eine oder andere vielleicht auch lieber in einem etwas privateren Rahmen noch einmal alleine mit euch sprechen.«
Jaz sah, wie Sarah, Bethany und Sally nickten.
»Deshalb hebe ich diese Versammlung nun auf, würde es aber begrüßen, wenn ihr denjenigen, die noch Fragen haben, weiter zur Verfügung steht.«
»Natürlich«, versicherte Anya sofort. Sie bedachte Sally, Sarah und Bethany mit einem Lächeln. »Wir können uns gerne zusammensetzen und ihr fragt alles, was ihr wissen wollt.«
Eifrig nickten die drei.
»Sehr schön.« Carlton erhob sich. »Geht zum Unterricht in eure Klassen oder bleibt hier, wenn ihr noch Redebedarf mit Anya und Drew habt«, sagte er dann an seine Schüler gewandt. »Auch ich werde mit einigen von euch noch ein persönliches Gespräch führen.«
Er nahm Jaz ins Visier und sein Blick wurde deutlich härter, während seine Stimme pure Freundlichkeit blieb.
»Jazlin, du kommst bitte als Erste mit in mein Büro.«
Jaz presste die Kiefer aufeinander. »Natürlich, Master Carlton.«
Allgemeine Aufbruchsstimmung setzte ein und Jessica warf Jaz einen mitleidigen Blick zu, als sie sich mit David hinter Blaine, Asha und Leroy Richtung Klassenzimmertrakt aufmachte. Sarah, Bethany und Sally rückten dagegen in kleiner vertrauter Runde mit Anya und Drew zusammen.
Jaz seufzte und hatte ein ganz mieses Bauchgefühl, als sie ihrem Schulleiter folgte und den Versammlungssaal verließ.