Читать книгу Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann - Страница 32
Kapitel 10
ОглавлениеDer Schatten hüllte die beiden Kleinen ein und erstickte augenblicklich ihre Schreie. Dafür schrie jetzt Linda auf und stürzte die Einfahrt hinunter.
Ella und Cam rannten los.
»Linda, nein! Bleib zurück!«
»Lily! Sam!« Linda war völlig hysterisch, blieb zum Glück aber auf Abstand zum Geist. »Helft ihnen! Bitte! Holt sie da raus!«
Schon im Rennen bündelte Cam seine Energie.
Der Schattengeist war riesig. Sicher gute zweieinhalb Meter. Grob bildete er menschliche Umrisse, doch er war breiter, seine Konturen waberten und er schien aus nichts als undurchdringlicher Schwärze zu bestehen.
Von Sam und Lily war nichts mehr zu sehen.
Cam warf einen hastigen Blick zu Ella. »Wir reißen ihn auseinander, okay?«
Sie nickte knapp. Silbernebel wirbelte angriffsbereit um ihre Finger.
»Jetzt!« Cam ließ seine Energie auf den Schatten los.
Nebelfäden verästelten sich wie ein vielzackiger Blitz und krallten sich in die Schwärze. Auf der anderen Seite des Geistes tat Ella dasselbe, dann zerrten beide an der Todesenergie des Schattens.
Cam merkte sofort, wie stark ihr Gegner war – und die reine, pure Lebensenergie, die er den beiden Kindern raubte, machte ihn noch stärker.
Unbändige Wut rauschte durch Cams Körper. Er hasste dieses Drecksbiest dafür, dass es sich an unschuldigen Kinder vergriff, die sich kein bisschen wehren konnten.
Cam zerrte mit aller Kraft, die in ihm war. Spürte kaum die eisige Kälte, als die Todesenergie in seinen Körper drang. Hass und Wut brodelten so heiß, dass sie sie niederrangen und neutralisierten. Voller Genugtuung sah Cam, wie der Schatten allmählich durchscheinend wurde.
Das Biest wurde schwächer.
Cam konnte Sam und Lily in seinem Inneren sehen. Sie schwebten einen knappen Meter über dem Boden in der Schwärze und schienen bewusstlos zu sein.
Hoffentlich.
Sie durften nicht tot sein.
Sie waren noch so jung. Erst drei und fünf.
Ihre Leben durften einfach noch nicht vorbei sein, bloß weil dieser beschissene Geist sie erwischt hatte!
Wieder zerrte Cam mit aller Macht.
Seine Hände brannten vor Kälte, als er noch mehr Todesenergie in sich hineinzog. Er spürte den Zorn des Schattens, fühlte, wie die Kreatur dem Ende bewusst versuchte, den Spieß umzudrehen und Cam seine Energie zu rauben.
Vergiss es!
Grimmig presste er die Kiefer aufeinander.
Er würde dieses verfluchte Biest garantiert nicht gewinnen lassen!
Ihm gegenüber kämpfte Ella genauso entschlossen.
Gemeinsam mussten sie es einfach schaffen!
Wieder zerrte Cam eine Woge Todesenergie in sich hinein, löschte sie mit seinem silbernen Leben, griff nach noch mehr Tod – und plötzlich riss der Schatten auseinander.
Ella und Cam stolperten zurück, als ihre Silbernebel auf einmal ins Leere griffen, und Sam und Lily fielen reglos auf die regennasse Einfahrt.
Der Geist war zerfetzt.
Sie hatten es geschafft!
Ein paar letzte schwarze Schwaden zerfaserten ins Nichts, doch dafür hatte weder Cam noch Ella einen Blick übrig. Sie stürzten zu den beiden Kinder, legten ihre Hände auf ihre Stirn und suchten nach der Lebensenergie der Kleinen.
»Was ist mit ihnen?« Völlig aufgelöst kauerte Linda sich neben sie.
»Sind sie –« George brach ab, unfähig, den Satz zu Ende zu sprechen.
Cam hatte gar nicht mitbekommen, dass er aufgetaucht war. Er musste im Haus gewesen sein und die Schreie seiner Familie gehört haben.
»Lily lebt.« Ella hatte ihre Hände um die Stirn der Fünfjährigen gelegt.
»Sam auch. Aber nur noch gerade so.«
Die beiden Eltern keuchten erleichtert auf.
»Bitte, könnt ihr ihnen helfen?«, schluchzte Linda.
Cam schickte bereits Lebensenergie in Sam, konnte sich aber nicht gut genug konzentrieren, weil er gleichzeitig die Umgebung absuchte.
Wenn hier ein verdammter Geist gelauert hatte, konnte es auch noch andere geben.
»Klar«, sagte Ella sofort. »Aber wir müssen ins Haus. Geister lieben Kinder und wir sind hier sechs Leute auf einem Haufen. Wenn wir hierbleiben, locken wir noch mehr Biester an.«
»Verdammt, natürlich! Kommt rein!«
Rasch nahm George seine Tochter auf den Arm, Linda ihren Sohn und sie hetzten ins Haus.
Cam wollte hinterhereilen, spürte aber, wie ihm beim Aufstehen schwindelig wurde, sodass er es langsamer angehen lassen musste, als ihm lieb war. Ella half ihm auf und sie stolperten so schnell sie konnten hinter George und Linda her ins Wohnzimmer der Familie.
Sam und Lily brauchten sie.
Wenn der Schatten sie zu sehr geschwächt hatte, bestand auch jetzt noch die Gefahr, dass ihre Herzen aufhörten zu schlagen.
»Was können wir tun?«, fragte George hektisch, als er Lily auf dem Sofa abgelegt hatte.
»Ruft bei uns zu Hause an und sagt Mum und Dad, dass sie herkommen sollen.« Ella hockte sich neben Lily.
Cam tat dasselbe bei Sammy, den Linda ans andere Ende des Sofas gelegt hatte. Der Kleine war kreidebleich. Hastig zog Cam den Reißverschluss von Sams Jacke auf, ließ seine linke Hand unter den Pullover des Kleinen gleiten und legte sie auf sein Herz. Mit der rechten berührte er wieder Sammys Stirn. Dann schloss er die Augen und blendete alles andere um sich herum aus.
Der Körper unter seinen Händen war eiskalt. Aber da war ein Herzschlag. Nur ganz schwach, doch das war alles, was Cam brauchte. Er bündelte seine eigene Lebensenergie und schickte sie zu Sammys Herz. Legte jede Menge Wärme hinein, um die Kälte zu vertreiben, und strich mit den Fingern sanft über Sammys Stirn. Er dachte an Sonnenschein, heißen Kakao mit bunten Marshmallows und warme Kuscheldecken vor einem fröhlich knisternden Kaminfeuer. Die Bilder schickte er Sam, in der Hoffnung, dass der Kleine merkte, dass jetzt etwas Gutes passierte und er keine Angst mehr haben musste. Und plötzlich spürte er, wie Sammys Herz kräftiger zu schlagen begann.
Cam wurde fast schwindelig vor Erleichterung.
Er hatte es geschafft!
Rasch schickte er mehr von sich durch Herz und Stirn des Kleinen.
Komm schon, Sammy! Du musst wieder aufwachen!
Es war ein unglaubliches Gefühl, jemandem Lebensenergie zu schenken. Cam merkte zwar, dass es ihn auslaugte, doch es tat seiner Seele gleichzeitig unfassbar gut und er konnte fühlen, wie es Sam immer besser ging, wie er wieder stärker wurde und –
»Cam, das ist genug.«
Er fuhr heftig zusammen, als Sues Stimme plötzlich direkt neben ihm erklang, und riss die Augen auf.
Böser Fehler.
Heftiger Schwindel hob die Welt um ihn herum aus den Angeln. Alles schien zu schwanken. Grelle Lichtpunkte flackerten vor seinen Augen und mörderische Kopfschmerzen bohrten sich durch seine Schläfen.
Er keuchte auf.
»Schon okay. Du bist nur erschöpft.« Beruhigend strich Sue ihm über die Schulter und legte ihre Hand über Cams, die noch immer auf Sammys Stirn lag. »Trenn die Verbindung zwischen euch.«
»Nein«, murmelte Cam. »Er muss wieder aufwachen.«
»Das wird er«, versprach Sue. »Aber du hast jetzt genug für ihn getan, den Rest übernehme ich.« Liebevoll zauste sie ihrem Sohn durch die regennassen Haare. »Du hast ihm das Leben gerettet, aber jetzt musst du an dein eigenes denken. Also lass ihn los. Ich sorge dafür, dass Sammy aufwacht.«
Cam spürte eine Welle von Übelkeit und merkte, wie er zitterte.
Sue hatte recht.
Sein Körper warnte ihn davor, dass seine Energiereserven zur Neige gingen.
Er schloss die Augen. Sam wollte ihn nicht loslassen, was es nur umso schwerer machte, die Verbindung zu trennen.
Aber es musste sein.
Sanft, aber bestimmt löste Cam sich von dem Kleinen und ließ seinen Silbernebel verebben. Er öffnete seine Augen wieder und wollte seine Hände zurückziehen, um Sue Platz zu machen, damit sie Sammy helfen konnte. Doch seine Arme schienen plötzlich Tonnen zu wiegen.
»Gabriel.« Sue warf einen kurzen Blick zu ihrem Ältesten.
Zwei Hände packten Cam unter den Armen und Gabriel zog ihn von der Couch fort. Cam hätte dagegen protestiert, doch die Bewegung ließ seine Kopfschmerzen explodieren und er brauchte all seine verbliebene Kraft, um die Übelkeit in Schach zu halten. Es wäre megapeinlich gewesen, wenn er George und Linda vor den Kamin gekotzt hätte.
»Atme langsam und gleichmäßig.« Gabriel lehnte Cam gegen einen der Kaminsessel und legte ihm eine Hand auf die Stirn. »Es wird gleich besser.« Er nahm Cams Hand. »Nimm dir alles, was du brauchst.«
Die Berührungen gaben Wärme und Cam merkte plötzlich, wie verflixt kalt ihm war. Er fühlte die Energie, die Gabriel ihm versprach, blockte ihn aber trotzdem ab und ließ die Verbindung nicht zu.
»Musst du heute Nacht noch arbeiten?«, fragte er matt. »Dann darfst du mir keine Energie geben. Das wäre zu gefährlich.«
Gabriel schnaubte. »Kleiner, was glaubst du wohl, was mir wichtiger ist? Du oder mein Job?« Bedeutungsvoll bohrte er seinen Blick in Cams. »Aber keine Sorge. Ich hab frei. Wir haben diese Woche so viele Doppelschichten geschoben, dass der Commander uns erst am Montag wiedersehen will. Also wehr dich nicht und lass mich dir helfen.«
Cam gab nach und ließ die Verbindung zu. Gabriel behielt seine Hand auf Cams Stirn, bis Kopfschmerzen und Schwindel verschwunden waren, dann zog er sie zurück, hielt aber mit der anderen weiter Cams Hand und half ihm, seine Kräfte zu regenerieren.
Müde lehnte Cam den Kopf gegen das Sitzkissen des Sessels und schaute zu Sammy hinüber. Sue kniete neben der Couch und hatte ihre Hände auf Herz und Stirn des Kleinen gelegt, um ihm beim Aufwachen zu helfen. Am anderen Ende der Couch hockte Phil bei Lily und hatte die Kleine gerade untersucht. Die Fünfjährige war bereits wieder wach, schmiegte sich in die Arme ihre Mum und grinste, als Phil ihr erklärte, dass planschen in der Badewanne die beste Medizin gegen Geisterkälte war, außerdem eine große Portion Abendessen, danach kuscheln mit Mum und Dad und eine heiße Milch mit Honig.
»Au ja, Honigmilch will ich nachher auch«, seufzte Ella sehnsüchtig.
Sie saß auf einem flauschigen Teppich neben dem Sofa und lehnte sich an ihre große Schwester. Sky hatte den Arm um sie gelegt und hielt Ellas Hand, doch Cam sah keinen Silbernebel zwischen den Fingern der beiden. Anscheinend brauchte Ella keine fremde Energie, um ihre Kräfte zu regenerieren. Sie sah zwar ein bisschen blass aus und war regendurchnässt, wirkte ansonsten aber völlig munter und kein bisschen so, wie Cam sich gerade fühlte – als hätte er einen stundenlangen Marathon hinter sich, gleichzeitig eine Matheklausur geschrieben und wäre am Ende von einem Boxprofi als Ganzkörper-Punching-Bag missbraucht worden.
Wie machte Ella das?! Das war absolut unfair!
George kniete bei Sue und keuchte erleichtert auf, als Sammy sich zu regen begann und die Augen öffnete.
»Hey, kleiner Mann, da bist du ja wieder.« Lächelnd strich Sue ihm über die strubbeligen Haare und trennte die Verbindung zwischen ihnen.
Sammy blinzelte sie verwirrt an und wirkte noch ziemlich benommen. Eingeschüchtert sah er zu den ganzen Leuten, die um ihn herum im Wohnzimmer versammelt waren und streckte seine Ärmchen zu seinem Daddy aus. Mit Tränen in den Augen zog George seinen Sohn an sich und setzte sich mit ihm zu Linda und Lily auf die Couch.
»Danke«, sagte er tief bewegt zu Sue, blickte dann aber vor allem zu Cam und Ella. »Ihr habt unseren Kindern das Leben gerettet.« Er drückte Sammy fest an sich und strich Lily über den Kopf. »Ich weiß nicht, wie wir das jemals wiedergutmachen können.«
»Das müsst ihr gar nicht«, winkte Ella ab. »Ist doch klar, dass wir geholfen haben.«
Phil begann behutsam, Sammy durchzuchecken, der ihn mit großen Augen musterte und sich an seinen Dad kuschelte.
»Was genau ist denn überhaupt passiert?«, fragte Connor, der am Fenster stand und den Garten im Auge behielt.
»Ich hab Lily vom Turnen abgeholt«, erzählte Linda. »Normalerweise fahre ich mit dem Wagen immer direkt in die Garage, besonders dann, wenn es schon dunkel ist. Wir haben ein elektrisches Tor und Bewegungsmelder, die im Inneren der Garage für Licht sorgen. Und von der Garage aus kann man direkt in den Hauswirtschaftsraum gehen. Es ist eigentlich wirklich alles abgesichert.«
»Seit gestern Abend funktioniert jedoch die Elektrik im Garagentor nicht mehr«, fuhr George fort. »Ich weiß nicht, was kaputtgegangen ist, aber das Tor lässt sich nur noch manuell öffnen. Ich hab heute Morgen bei der Firma angerufen, die können allerdings erst am Montag jemanden schicken.« Er schnaubte. »Und natürlich herrscht ausgerechnet jetzt Weltuntergangswetter da draußen und es ist früher dunkel geworden als sonst.«
»Ich hab den Wagen in der Einfahrt geparkt, um das Tor aufzumachen, und den Kinder gesagt, dass sie im Auto bleiben sollen, bis wir in der Garage sind«, sagte Linda. »Aber Sam kann sich mittlerweile alleine aus seinem Kindersitz befreien und da er Regen und Pfützen liebt, ist er aus dem Wagen geklettert und Lily ist ihm hinterher. Das habe ich aber nicht mitbekommen, weil ich mit dem Schloss am Garagentor zu kämpfen hatte.« Sie schluckte hart und zog ihre Tochter fest an sich. »Ich hab nur gehört, wie die beiden plötzlich geschrien haben. Und dann – dann war da dieses riesige schwarze Ding. Wie aus dem Nichts. Es hat sich auf sie gestürzt und sie umschlungen.« Wieder musste sie schlucken und kämpfte sichtlich mit den Tränen. »Es ging alles so schnell. Ich – ich konnte nichts tun.«
George schlang seinen Arm um sie und Linda atmete tief durch, um ihre Fassung zurückzugewinnen. »Dann waren auf einmal die beiden da.« Sie blickte zu Cam und Ella. »Und – ich weiß nicht, was sie gemacht haben, aber sie haben Lily und Sam aus diesem Ding herausgeholt und es vernichtet.«
Jetzt tropften doch Tränen aus ihren Augen, als sie ihrer Tochter einen Kuss aufs Haar gab und ihrem Sohn über den Kopf strich. »George hat recht. Wir verdanken euch das Leben unserer Kinder.« Sie blickte von Cam zu Ella. »Und nein, das ist nicht selbstverständlich. Das ist etwas, das wir euch niemals vergessen werden.«
Ella und Cam lächelten verlegen.
»Was ich nicht verstehe«, sagte George, »ist, wie dieses Biest auf unser Grundstück kommen konnte. Wir haben Eisenzäune und Schutzpflanzen. Das sollte Geister doch eigentlich fernhalten, oder nicht?«
»Was für ein Geist war es denn?«, fragte Sky. »Wenn er kein Geisterleuchten an sich hatte, sondern schwarz war, klingt es nach einem Schatten oder Hocus. Hat das Biest irgendwelche Laute von sich gegeben?«
»Nein. Es war ein Schatten.« Cam setzte sich auf und zog seine Hand aus Gabriels. »Er war ziemlich stark. Aber Ella und ich haben es geschafft, ihn auseinanderzureißen, bevor er den Kids zu viel Energie rauben konnte.«
Ella betrachtete ihn mit einem Stirnrunzeln, das Cam nicht verstand.
»Na, das erklärt es dann. Starke Geister schaffen es manchmal, Schutzbarrieren zu überwinden«, meinte Connor an George und Linda gewandt. »Besonders in Unheiligen Jahren. Außerdem ist nächste Woche Vollmond und wir nähern uns dem Äquinoktium. Ich fürchte, da werden Geisterübergriffe in geschützte Bereiche noch öfter vorkommen. Vor allem dort, wo Kinder wohnen.«
»Habt ihr Taschenlampen mit Magnesiumlicht?«, fragte Gabriel. »Die sind zwar teuer, bieten allerdings dafür auch einen ganz guten Schutz gegen Geisterangriffe.«
»Wir haben eine«, antwortete George. »Aber ich schätze, für die dunkle Jahreszeit rüsten wir da noch auf.«
»Vielleicht sollten wir auch noch mal durchrechnen, ob wir uns nicht doch eine Beleuchtung im Vorgarten leisten können«, meinte Linda mit Blick zu George. »Ich weiß, es ist teuer, aber wenn wir zusammenlegen …«
Georges Eltern lebten mit im Haus.
Er nickte. »Wir reden mit ihnen.«
»Und wir sollten sie anrufen. Damit sie vorsichtig sind, wenn sie nach Hause kommen. Sie sind mit Freunden bowlen gegangen«, erklärte Linda für die anderen.
Gabriel stand auf. »Ich gehe raus und parke euren Wagen in der Garage. Dann lass ich das Tor auf, damit eure Eltern reinfahren können, ohne aussteigen zu müssen. Der Bewegungsmelder fürs Licht funktioniert doch noch, oder?«
Linda nickte. »Nur das Tor ist kaputt. Und danke, das wäre großartig.«
»Kein Ding, wo ist der Schlüssel?«
Unsicher hob Linda die Schultern. »Ich glaube, den hab ich vor dem Tor fallen gelassen. Aber ich weiß es nicht genau.«
»Ich finde ihn schon.« Gabriel zog eine Taschenlampe aus seiner Jackentasche.
»Ich komme mit dir«, bot Connor sofort an.
»Ich auch.« Sky stand ebenfalls auf. »Dann können wir auch gleich noch nachsehen, ob da draußen noch mehr Geister herumlungern.«
Die drei verschwanden zur Haustür.
Phil beendete seine Untersuchung bei Sammy und strubbelte seinem kleinen Patienten durch die Haare. »Das hast du toll gemacht.«
»Ist er in Ordnung?«, fragte George besorgt.
Phil nickte. »Seine Körpertemperatur ist noch ein bisschen niedrig, aber Herzschlag und Atmung sind völlig normal. Ihr müsst euch also keine Sorgen machen.« Er schaute zu Lily. »Weißt du noch, welche Medizin ich euch verschrieben hab?«
Lily nickte. »In der Badewanne planschen, Abendessen, kuscheln und heiße Milch mit Honig trinken«, zählte sie gewissenhaft auf und hob bei jedem Punkt einen Finger.
»Sehr gut.«
Lily grinste stolz.
»Das ist wirklich alles?«, hakte Linda nach.
»Ja, keine Sorge. Die zwei sind gesunde Kids, sie werden das gut wegstecken. Was ihnen an Energie und Körperwärme noch fehlt, regenerieren sie über Nacht. Aber falls wirklich noch irgendwas sein sollte, ruft an. Egal zu welcher Zeit. Dann komme ich noch mal her und sehe nach ihnen.«
»Danke.«
Phil schüttelte den Kopf. »Keine Ursache. Dafür bin ich ja da.« Dann wandte er sich zu Ella um. »Dir geht es gut?«
Sie nickte und stand vom Boden auf. »Yep. Mir ist nur kalt und ich muss aus den nassen Klamotten raus.«
»Und was ist mit dir?« Phil hockte sich zu Cam und fühlte seine Hände und Stirn.
»Nur noch ein bisschen k. o.« Cam fröstelte. »Und ich muss auch aus den nassen Klamotten raus.«
Phil nahm kurz seinen Puls und nickte dann. »Eine heiße Dusche ist sicher auch eine gute Idee.«
»Und Abendessen!«, rief Lily eifrig. »Und dann kuscheln und eine heiße Milch mit Honig!« Sie hüpfte von der Couch und schlang ihre Arme um Ella. »Danke, dass du mir geholfen hast. Du bist sooo cool!« Sie strich mit ihren Fingern über die Linien an Ellas Stirn. »Wenn ich groß bin, werde ich auch eine Totenbändigerin und dann mach ich auch böse Geister kaputt!«
Alle mussten schmunzeln und Phil half Cam auf die Beine.
Der Schwindel meldete sich zurück, genauso wie das Pochen an den Schläfen.
»Geht es?« Phil musterte seinen Sohn prüfend, als der leicht schwankte und noch eine Spur blasser wurde, als er es ohnehin schon gewesen war.
Cam atmete tief durch und schüttelte ihn ab. »Ja, alles gut.«
Linda und George erhoben sich. »Danke noch mal für eure Hilfe. Ohne euch …«
Sue strich Linda über den Arm. »Sehr gern geschehen. Und jetzt hakt es ab und denkt nicht mehr zu viel darüber nach.«
Gabriel, Connor und Sky erschienen wieder in der Tür.
»Draußen ist alles friedlich.« Gabriel reichte George den Schlüssel. »Das Auto ist geparkt und der Bewegungsmelder funktioniert einwandfrei. Eure Eltern sollten also keine Probleme haben, wenn sie heimkommen. Falls aber doch irgendwas komisch sein sollte, riskiert nichts und ruft an. Wir sehen uns das dann an.«
»Danke.«
»Kein Ding.« Er musterte Ella und Cam. »Jetzt bringen wir aber erst mal euch zwei nach Hause. Ihr seht so aus, als könntet ihr dringend eine Riesenportion großmütterlicher Fürsorge vertragen. Und vor allem eine heiße Dusche und trockene Klamotten. Also Abmarsch.«
Sie verabschiedeten sich von den Archers und eilten durch den Regen hinüber zu ihrem Zuhause. Erschöpft vom kurzen Spurt lehnte Cam sich gegen die Hauswand, während Sue die Tür aufschloss.
»Warum bist du eigentlich nicht genauso kaputt wie ich?«, grummelte er, als Ella unverschämt munter durch die Tür schlüpfte, kaum dass sie offen war, während er nur völlig erledigt hinter ihr her tappen konnte.
Ella wandte sich zu ihm um. »Ist das jetzt ein Scherz?«
Verständnislos schüttelte er den Kopf. »Nein. Warum?«
Sie hob eine Augenbraue. »Du hast echt nicht gemerkt, dass du den Schatten fast im Alleingang plattgemacht hast? Du hast so heftig an dem Biest gezerrt, dass du mich fast von den Füßen gerissen hättest. Alles, was ich machen konnte, war, mich dagegenzustemmen. Ich hab zwar geholfen, ihn auseinanderzureißen, aber ich konnte nichts von seiner Todesenergie zu mir ziehen, weil du alles aus dem Biest zu dir gezerrt hast. Hast du das wirklich nicht gemerkt?«
Verwirrt runzelte Cam die Stirn. »Nein. Ich – ich wollte bloß nicht, dass der Schatten Sam und Lily tötet.«
»Alle Achtung. Scheint so, als hättest du dafür ein paar Superkräfte entwickelt.« Gabriel knuffte ihm gegen die Schulter.
Cam strafte ihn mit einem vernichtenden Blick, doch bevor er irgendwas sagen konnte, zog Connor ihn ebenfalls auf.
»Ist in der Schule vielleicht irgendwas Außergewöhnliches passiert? Wurdest du im Chemieunterricht zufällig von einer radioaktiven Spinne gebissen, oder so?«
Gabriel lachte auf. »Genau! Spider-Cam!«
Cam schnaubte.
Das Letzte, was er haben wollte, waren irgendwelche bescheuerten Superkräfte, die ihn noch freakiger machten, als er es ohnehin schon war.
Er verkniff sich aber eine Antwort und rempelte sich bloß an den beiden vorbei Richtung Treppe.
»Hey, du bist jetzt nicht wirklich angepisst, oder? Was ist los?«
»Nichts!«
Gabriel packte ihn am Arm und hielt ihn zurück. »Das hier ist nicht nichts. Was ist los? Connor und ich haben nur einen blöden Witz gemacht.«
»Ja, total lustig«, gab Cam biestig zurück. »Ich hab innerlich ganz laut gelacht.« Er riss seinen Arm aus Gabriels Griff und stieg so schnell es seine müden Knochen erlaubten die Treppe hinauf.
»Was war das denn?« Verwirrt blickte Connor ihm hinterher. »Er ist doch sonst nicht so empfindlich.«
Phil stellte seine Arzttasche einsatzbereit neben die Haustür und seufzte. »Wer weiß, was da gerade mal wieder in ihm vorgeht.« Er blickte zu seinem Ältesten. »Kläre das, okay? Ich will keinen Streit zwischen euch. Cam kämpft gerade schon an genug Fronten. Er braucht nicht auch noch eine zwischen euch.«
Gabriel hob die Hände. »Glaub mir, die brauche ich auch nicht.« Er wandte sich der Treppe zu.
»Soll ich mitkommen?«, fragte Connor. »Was auch immer los ist, ist ja irgendwie auch meine Schuld.«
»Nein, ich mach das schon. Das ist so ein Brüder-Ding.« Gabriel verschwand in die oberen Stockwerke.
Ella blickte ihm nach. Sie hasste es, wenn es in ihrer Familie Streit gab.
»Hey.« Sue zog sie in ihre Arme. »Keine Sorge. Du kennst die zwei doch. Die kriegen das wieder hin.« Sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn. »Und ich hoffe, du weißt, wie stolz dein Dad und ich auf dich und Cam sind.«
Ella hob bloß die Schultern. »Ich glaube, so richtig hat da keiner von uns drüber nachgedacht. Als Sam und Lily geschrien haben, sind wir einfach losgerannt.«
Phil strich ihr liebevoll über die regennassen Haare. »Genau deshalb sind wir stolz auf euch. Weil es für euch selbstverständlich ist, zu helfen. Und jetzt geh duschen und dann komm essen. Granny will mit Sicherheit alle Einzelheiten über eure Heldentat hören.«
Edna kam aus der Küche und trocknete ihre Hände an einem Geschirrtuch ab. »Das will ich allerdings. Also beeilt euch. Alle. Das Abendessen ist gleich fertig.«
Cam warf die Tür zu seinem Zimmer hinter sich zu, kickte seine Schuhe von den Füßen und verdrehte die Augen, als es klopfte.
»Geh weg!«
Ihm war kalt, er war kaputt und er wollte einfach nur kurz seine Ruhe haben. War das echt zu viel verlangt?
»Tut mir leid, das kann ich nicht.« Gabriel öffnete die Tür und trat ein. »Nicht, bevor du mir nicht gesagt hast, was los ist. Normalerweise bist du nicht auf den Mund gefallen, wenn dich irgendjemand von uns ärgert. Was war also so schlimm an dem blöden Witz, den Connor und ich gemacht haben, dass du jetzt nicht mehr mit mir reden willst?«
Genervt verpasste Cam einem seiner Schuhe einen Tritt quer durchs Zimmer. »Ich hab keine Ahnung, welche kranken Experimente in den ersten vier Jahren meines Leben mit mir gemacht wurden, also sorry, dass ich es nicht witzig finde, wenn ich plötzlich irgendwelche freakigen Superkräfte an den Tag lege, von denen kein Mensch weiß, wo sie herkommen und was sie bedeuten! Ich dachte, du verstehst das und reitest nicht noch darauf herum.«
Unwirsch strich er sich die nassen Haare aus der Stirn, fühlte sich aber zu k. o., um mit seinem Bruder zu streiten. Er wollte ihn bloß loswerden und allein sein. »Aber egal. Ich muss duschen und mich umziehen, also geh jetzt bitte einfach.« Er streifte seine Jacke ab und warf sie aufs Bett. »Und wenn Phil dich geschickt hat, weil er nicht will, dass wir uns streiten – keine Sorge, gleich beim Abendessen ist alles wieder gut. Aber jetzt brauche ich einen Moment für mich alleine, okay?«
Gabriel musterte ihn einen Moment lang und schüttelte dann den Kopf. »Warum zum Henker denkst du immer so schlecht von dir?«
Cam warf einen beschwörenden Blick an die Zimmerdecke. »Wieso kannst du nicht einfach gehen und mich in Ruhe lassen?«
»Weil du mein Bruder bist und ich gerade nicht weiß, ob ich mir Sorgen um dich machen muss. Also noch mal: Warum zum Henker denkst du so schlecht von dir?«
»Keine Ahnung! Vielleicht, weil ich ätzende Träume habe, bei denen ich starr vor Angst bin, ohne, dass ich überhaupt weiß, was ich geträumt hab?«, gab Cam entnervt und mit einer gehörigen Portion Zynismus zurück. »Oder weil ich ständig unruhig und nervös bin, und es dafür keinen vernünftigen Grund gibt? Oder weil Vollmond und Unheilige Nächte mich halb wahnsinnig machen? Such dir was aus! Es fühlt sich alles beschissen an! Warum sollten also irgendwelche bescheuerten Superkräfte etwas Gutes sein?«
»Cam, du hast keine Superkräfte. Du bist einfach nur ein ziemlich starker Totenbändiger. Das warst du schon immer.«
Aufgebracht kickte Cam auch seinen zweiten Schuh durchs Zimmer. »Ja, aber keiner weiß, warum meine Kräfte so stark sind, weil keiner weiß, was mit mir passiert ist!«
Seufzend trat Gabriel einen Schritt auf seinen Bruder zu. »Aber deswegen sind deine Kräfte doch nichts Schlechtes. Was man dir als Kind angetan hat, war grausam und es ist absolut unentschuldbar. Aber es macht dich nicht zu einem schlechten Menschen oder einer Gefahr für andere. Und falls diese Experimente dazu geführt haben, dass deine Totenbändigerkräfte sich stärker ausgeprägt haben als bei anderen, hat dir das in dieser schrecklichen Nacht, als Thad dich gefunden hat, vermutlich das Leben gerettet. Deine Kräfte sind also etwas verdammt Gutes. Und du hast sie all die Jahre immer weitertrainiert und gefestigt und noch stärker gemacht. So stark, dass du den Schatten vorhin wahrscheinlich auch ohne Ella hättest besiegen können. Das ist überhaupt nichts Schlechtes, sondern etwas, auf das du stolz sein kannst. Ich bin es auf jeden Fall. Und falls du dich entschließen solltest, nach der Schule zu uns in die Spuk Squad zu kommen, würde ich dir jederzeit und ohne zu zögern mein Leben anvertrauen.«
Cam konnte ihn nur stumm anschauen und hatte keine Ahnung, was er dazu sagen sollte.
Doch Gabriel schien auch keine Antwort von ihm zu erwarten. Er zog in bloß kurz in seine Arme und schob ihn dann Richtung Tür. »Und jetzt solltest du wirklich duschen gehen. Sonst fängst du dir womöglich noch einen Männerschnupfen ein und du weißt ja: Der kann tödlich sein.«
Gemeinsam traten sie auf den Flur hinaus und wären fast mit Jules zusammengeprallt, als der die Treppe hochgestürmt kam.
»Shit, was ist denn mit dir passiert?«, fragte er erschrocken, als er Cam sah.
»Kleine Auseinandersetzung mit einem Schatten«, antwortete Gabriel. »Cam und Ella fanden es nicht okay, dass das Biest Lily und Sam töten wollte.«
Jules’ Augen weiteten sich. »Ernsthaft?«
Cam hob die Schultern und nickte.
Gabriel grinste. »Super-Cam hat den Schatten aber gnadenlos plattgemacht und Sammy danach das Leben gerettet.«
Cam verdrehte die Augen. »Echt jetzt?« Er runzelte die Stirn. »Und war ich vorhin nicht noch Spider-Cam?«
Lachend strubbelte Gabriel ihm durch die feuchten Haare. »Wie wäre es mit Super-Spider-Cam?«
Planlos, was zwischen den beiden gerade abging, hob Jules eine Augenbraue.
Cam verdrehte nur erneut die Augen. »Frag nicht.« Dann trollte er sich ins Badezimmer.
Jules sah ihm hinterher und blickte dann zu Gabriel. »Hat er wirklich einen Schatten plattgemacht?«
»Yep.« Gabriel klopfte ihm kurz auf die Schulter und ging dann zur Treppe. »Beeil dich. Ich verspreche dir, die Sache wird das Gesprächsthema Nummer eins beim Abendessen.«