Читать книгу Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann - Страница 28
Kapitel 6
ОглавлениеHatte sie nicht.
»Ich geb dir fünfzig.« Der Typ war um die dreißig mit Ziegenbart und zurückgegelten Haaren und legte seit Jaz den Laden betreten hatte die Art von Ich-sitze-hier-am-längeren-Hebel-Haltung an den Tag, bei der Jaz am liebsten gekotzt hätte. Im Strahl. Sie hasste Menschen, die sich für was Besseres hielten oder ihre Position ausnutzten.
Gleich danach folgten Menschen, die glaubten, man könnte sie verarschen.
Daher hob sie bei dem unverschämten Angebot nur eine Augenbraue und streckte ihre Hand nach dem Briefbeschwerer aus. »Scheint so, als wäre ich hier an der falschen Adresse, denn du hast offensichtlich keinen blassen Schimmer davon, was Silber wert ist.«
Sein Gesicht verzog sich abfällig, während er die kleine Walnusshälfte in seiner Hand wog. »Du aber schon, ja? Na, dann mach mir mal ein Gegenangebot.«
»Häng an deins noch eine Null dran.«
Er lachte auf. »Mag sein, dass das Ding hier wirklich so viel wert ist. Aber ohne Nachweispapiere und angeboten von einer Totenbändigerin, bei der ich nicht davon ausgehen, dass sie schon volljährig und damit mündig für ein Geschäft in dieser Höhe ist – träum weiter. Ich geb dir hundert.«
»Netter Versuch. Vierhundert.«
Er schüttelte den Kopf. »Hundertfünfzig. Letztes Angebot.«
Jaz schüttelte ebenfalls den Kopf. »Dann kommen wir leider nicht ins Geschäft.«
Wieder streckte sie ihre Hand nach dem Briefbeschwerer aus, doch der Typ ließ ihn in seiner Hosentasche verschwinden.
»Schade. Dann noch einen schönen Abend.« Er nickte Richtung Ladentür. »Du solltest dich beeilen, es dämmert bald.«
»Ernsthaft? Du machst jetzt einen auf Arschloch?« Jaz spürte, wie die Wut in ihr hochstieg.
Er grinste schmierig. »Aber so was von.« Seine Hand glitt unter den Tresen und als sie wieder auftauchte, hielt sie eine Pistole. »Und jetzt raus, sonst erschieße ich dich. Wenn ich behaupte, du wolltest mich ausrauben und hättest mich mit deinem Totenbändigervoodoo bedroht, glaubt das jeder sofort. Also verschwinde.«
Jaz presste die Kiefer aufeinander und deutet auf die Überwachungskamera, die den Thekenbereich filmte. »Die Aufnahmen von der da werden was anderes beweisen.«
Der Typ zuckte nur unbeeindruckt mit den Schultern. »Die funktioniert nicht. Das hier ist Brixton, Süße. Hier ist fast alles im Arsch. Also mach jetzt keinen Stress und verschwinde, wenn dir dein Leben lieb ist.«
Jaz ballte die Fäuste, doch bevor sie irgendetwas antworten konnte, flog die Ladentür auf und eine ziemlich genervt wirkende Frau Ende zwanzig zerrte einen Kinderwagen samt plärrendem Baby sowie zwei Kleinkinder mit ähnlich sonniger Stimmung über die Schwelle.
»Ken, ich brauche den Ring zurück, den ich dir Samstag gebracht hab. Stan ist ausgerastet, weil der seiner Mutter gehörte. Also hab ich ihm gesagt, er soll weniger saufen und Knete für Windeln und Essen besorgen, dann bekommt er ihn wieder. Und ob du’s glaubst oder nicht – er hat tatsächlich Knete besorgt.« Sie wandte sich um und bemerkte erst jetzt, dass Ken nicht alleine im Laden war. »Oh, sorry. Störe ich?«
Jaz musste Ken zugestehen, dass er genug Anstand besaß, die Pistole verschwinden zu lassen, sobald die Kinder den Laden betreten hatten. Er würde also vermutlich keine Szene machen, solange die Familie hier war.
Das war ihre Chance.
»Kein Problem«, sagte Jaz schnell, bevor Ken ihr dazwischenfunken konnte, und schenkte der Frau ein Lächeln. »Ich sehe mich noch um. Sie können die Sache mit Ihrem Ring gerne zuerst regeln. Scheint ja dringend zu sein.«
Die Frau erwiderte das Lächeln dankbar – bis sie plötzlich die schwarzen Linien an Jaz’ Schläfe bemerkte, die wegen ihrem Hoodie und den offenen Haaren nicht sofort ins Auge fielen.
»Oh. Du bist eine Totenbändigerin.«
»Yep.«
Die Mutter wandte sich zu ihren zwei quengelnden Kleinkindern um. »Ruhe jetzt! Das Mädchen da ist eine Hexe, die euch krank machen kann. Und wenn ihr zwei jetzt nicht endlich brav seid, sag ich ihr, dass sie genau das mit euch anstellen soll. Verstanden?«
Augenblicklich herrschte Ruhe. Selbst das Baby hatte aufgehört zu schreien. Die beiden Kleinen starrten Jaz mit großen Augen an und wichen ängstlich hinter den Kinderwagen zurück.
»Wow«, meinte Jaz. »Als Kinderschreck bin ich noch nie missbraucht worden.«
Die Mutter strich sich stöhnend die Haare aus dem Gesicht und bedachte Jaz mit einem entschuldigenden Blick. »Tut mir leid. Aber die drei rauben mir heute den letzten Nerv.« Sie nickte Richtung Ken. »Ist es wirklich okay, wenn ich rasch meinen Ring auslöse?« Sie zog ein Bündel Geldscheine aus der Hosentasche ihrer Jeans. »Geht auch ganz schnell.«
»Sicher.«
Alles, was Ken ablenkte, kam Jaz sehr gelegen, und sie trat an den Rand des Tresens, um der Mutter Platz zu machen.
Ken warf Jaz einen warnenden Blick zu, sagte aber nichts. Dann verschwand er kurz in ein Hinterzimmer, um den Ring zu holen, während die Mutter das Geld und den Pfandschein auf die Theke legte und mit Ken darüber verhandelte, ob er ihr beim Pfandkredit nicht ein bisschen entgegenkommen könnte, schließlich war der Ring ja nur zwei Tage bei ihm.
Prima. Lenk ihn ab und diskutiere gerne noch ein bisschen länger mit ihm.
Kaum dass Ken wieder hinter dem Verkaufstresen stand und mit nur mäßig verhohlener Genervtheit die Rückgabepapiere ausfüllte, ließ Jaz ihre Silberenergie in einem hauchfeinen Faden dicht über dem Boden zu ihm wandern. Das dreckige Grau des alten Linoleum bot dabei brauchbar gute Tarnung.
Ken trug alte Sneakers und Jeans. Jaz ließ ihren Silberfaden über seinen Schuh unter sein Hosenbein gleiten und stellte Hautkontakt her.
Dann begann sie, ihm seine Energie zu rauben.
Langsam.
Vorsichtig.
Nichts riskieren.
Ken durfte nichts merken, bis es zu spät war. Es waren schließlich Kinder im Laden.
Aber Jaz war gut im Energierauben. Verdammt gut. Wenn man mit einem Mistkerl wie Blaine hatte trainieren müssen, wurde man unweigerlich zum Ass.
Sie spürte ein warmes Prickeln in ihren Fingerspitzen, als sie Kens Lebensenergie durch ihren Silberfaden in sich sog. Der Tag war anstrengend gewesen und der Boost, den sie durch die zusätzliche Energie bekam, gab ihr neue Kräfte. Machte sie wieder munterer, aufmerksamer, schneller. Wie ein extra starker Kaffee kombiniert mit einem Energiedrink, der instantan wirkte.
Behutsam leitete sie noch mehr von Kens Energie in sich.
Der schob der Mutter die Papiere zum Unterschreiben hin und ließ sich von ihr auf einen niedrigeren Pfandkredit runterhandeln. Vermutlich, um sie schneller wieder loszuwerden. Er nahm ihr Geld, zählte es kurz durch und drückte ihr dann ein kleines Plastiktütchen mit ihrem Ring in die Hand.
»Nächstes Mal gibt’s keinen Nachlass, klar? Und diesmal gab’s ihn nur, weil Stan und ich alte Kumpel sind. Auch klar?«
»Ja sicher«, war die genervte Antwort. »Nächstes Mal soll Stan den Scheiß hier sowieso selbst machen. Los, Kinder. Macht die Tür auf und dann raus hier. Und kein Quengeln oder Plärren! Sonst bleibt ihr heute Nacht draußen bei den Geistern. Kapiert?« Sie manövrierte den Kinderwagen zur Tür und wuchtete ihn über die Schwelle.
Kaum hatten Mutter und Kinder ihnen den Rücken zugekehrt, wollte Ken wieder nach seiner Pistole greifen, doch es war zu spät.
Jaz beschränkte sich nicht mehr auf sanftes Rauben, sondern riss mit aller Kraft an seiner Lebensenergie. Entsetzen trat in sein Gesicht, als er plötzlich zu schwach war, um sich auf den Beinen zu halten, und keuchend zu Boden ging. Jaz entzog ihm noch mehr Energie, bis er sich nicht mehr rühren konnte, dann trat sie um den Tresen herum und kniete sich neben ihn.
Panik lag in seinem Blick. Seine Augen waren das Einzige, das er noch bewegen konnte. Selbst Sprechen ging nicht mehr.
»Keine Sorge. Ich töte dich nicht.« Jaz trennte die Verbindung zu ihm. »Ich nehme mir nur das zurück, was mir gehört.« Sie fasste in seine Hosentasche und zog den Briefbeschwerer heraus. »Und eine kleine Entschädigung dafür, dass du mich bestehlen wolltest und mich mit einer Pistole bedroht hast.«
Sie richtete sich wieder auf und nahm das Pfandgeld vom Tresen. Siebenunddreißig Pfund. Mehr war der Ring von Stans Mutter anscheinend nicht wert. Oder Ken hatte die Mutter und seinen Kumpel übers Ohr gehauen.
Jaz steckte das Geld ein und blickte hinunter zu ihm. Ken starrte hasserfüllt zurück, war sonst aber zu geschwächt, um irgendeinen Muskel zu rühren.
»War nett, mit dir Geschäfte zu machen«, meinte sie ironisch. »Ich glaube allerdings, wir sehen uns trotzdem nie wieder. Schlaf am besten. So regenerierst du dich am schnellsten. Und wenn du nach dem Aufwachen die übelsten Kopf- und Gliederschmerzen deines Lebens hast, denk daran, zu Totenbändigern in Zukunft netter zu sein. Wir stehen nämlich nicht so darauf, wenn man uns verarschen will oder Waffen auf uns richtet. Schönes Leben noch, Ken!«
Sie schenkte ihm ein letztes, zuckersüßes Grinsen, dann lief sie zur Ladentür. Dort drehte sie das Öffnungsschild auf Closed, schlüpfte ins Freie und verschwand zügig zwischen den Leuten, die auf dem Brixton Market noch schnell ein paar letzte Einkäufe erledigen wollten, bevor die Dämmerung einbrach. Adrenalin und gestohlene Energie pulsierten durch ihren Körper und sie fühlte sich, als könnte sie Bäume ausreißen. Oder einen Marathon quer durch sie Stadt laufen. In Rekordzeit.
Doch Jaz wusste, dass sie diesem Hochgefühl nicht trauen durfte. Gestohlene Energie war wie ein Rausch, doch wenn man sich mit ihr verausgabte, musste man dafür teuer bezahlen. Wäre sie wirklich quer durch die Stadt gerannt, weil sie sich gerade vorkam wie Supergirl, würde sie sich morgen wie durchgekaut und ausgespuckt fühlen. Und das konnte sie sich nicht leisten.
Deshalb lief sie bloß bis zur Bahnstation, flitzte drei Stufen auf einmal nehmend die Treppe zu den Bahnsteigen hinauf und erwischte mit einem Sprint noch einen Zug, der sie Richtung Norden über die Themse bringen würde. Dort wollte sie sich ein Versteck für die Nacht suchen und überlegen, wie es ab morgen mit ihr weitergehen sollte.