Читать книгу Pages - Die Zeilen meines Lebens - Nadine Stenglein - Страница 5
Schicksalsseiten
ОглавлениеEs regnete beinahe ununterbrochen, und das schon seit drei Tagen. Dennoch wollten die Leute nicht auf den alljährlichen Gassentrödelmarkt der britischen Kleinstadt Swan in der Grafschaft Buckinghamshire verzichten. Mit einem Lächeln und etwas Wehmut erinnerte sich Amy daran, dass sich ihre Großmutter June bei ihrem letzten gemeinsamen Besuch in eine kleine, zauberhafte rote Standuhr verliebte, die sie auch prompt gekauft hatte. Damals war Amy fünfzehn gewesen. Bis heute glaubte sie nicht, dass es Zufall war, dass die goldfarbenen Zeiger der Uhr genau zu dem Zeitpunkt innehielten, an dem June ihren letzten Lebenshauch ausatmete. Es war kurz nach sechs Uhr abends gewesen, ein sonnendurchfluteter Sonntag im Herbst. Wenigstens, dachte Amy, ist June nicht in der Anstalt gestorben, sondern im Krankenhaus, auch wenn ich sie am liebsten nach Hause geholt hätte. In ihren letzten Minuten hatte Amy neben ihr gesessen, ihre dünn gewordenen Hände gehalten. June sah friedlich aus in ihrem weißen Nachthemd, während es Amy vorkam, als würde nicht nur die Uhr, sondern die ganze Welt in Stille und Starrheit verharren. Mit June waren die bunten Schmetterlinge verschwunden, die sie mit ihrer Art oft in das triste Leben Amys gebracht hatte. Bevor June eingeschlafen war, hatte sie ihr noch einmal zugelächelt. Ein wenig war es ihr auch vorgekommen, als hätte sie dazu gezwinkert. June fehlte ihr, jeden Tag. Für Amy war sie wie eine zweite Mutter und zugleich beste Freundin gewesen. Immer da, wenn sie Rat brauchte, meist einen lockeren Spruch auf den Lippen, und eine Frau, mit der nicht nur Mann Pferde stehlen konnte. Auch deswegen hatte ihr Mann Ermes, der Vater von Amys Vaters, sie geliebt, selbst wenn er die Zügel manchmal etwas fester halten musste. June nahm es ihm nicht übel, denn sie und Amy wussten, er meinte es nie böse. Im Gegenteil. Amy konnte sich nicht erinnern, schon einmal ein glücklicheres Paar erlebt zu haben als die beiden. Nach seinem Krebstod war ein Teil von June mit ihm gegangen. Amy wusste damals, June sehnte sich danach, ihm zu folgen, auch wenn sie es nie ausgesprochen hatte. Aber nach dem, was Amys Familie ihr angetan hatte, konnte diese das nur zu gut verstehen. Nun waren ihre Großeltern wieder zusammen, in Frieden, dieses Mal für immer. Jedenfalls war die Sache mit der Uhr für ihre Eltern, insbesondere für ihre Mutter Helena, nichts Außergewöhnliches. Ihre Reaktion erstaunte Amy nicht einmal. Sie dachte nüchtern und vernünftig – wie immer, und ihr Mann ahmte es nach. Amy hingegen glaubte, wenn auch nicht restlos, an das Übersinnliche … dass es mehr gab, als die Realität den Menschen weismachen wollte. Ob da nun etwas dran war oder nicht, sie fand allein den Gedanken interessant und magisch. Magie zog Amy an, weshalb sie auch am liebsten Fantasy-Geschichten und kleine Verse schrieb. Etwas, das Helena ebenso für Schwachsinn und Zeitverschwendung hielt. Nicht nur einmal hatte sie ihr gesagt, dass sie befürchtete, ihre Tochter habe etwas von Junes Verrücktheit in sich.
Bewundernd und staunend flog Amys Blick nach oben zu der wohl schönsten Überdachung, die sie je gesehen hatte. Entlang der Gasse spannten sich, an Seilen befestigt, dutzende bunte Regenschirme zwischen den Dachrinnen und sorgten dafür, dass die Marktstände weitgehend trocken blieben. Amy ließ sich mit der Menschenmenge treiben und den Blick von Tisch zu Tisch wandern. Sicher liegen zwischen dem Krimskrams hin und wieder wahre Schätze verborgen. Jeder Besucher hofft wohl, seinen eigenen zu finden. Ein bisschen erinnerte Amy das Ganze immer an Weihnachten, was sicher auch mit dem Duft der stadtbekannten gebackenen Apfel- und Zwetschgenringe zu tun hatte. Sie war sich sicher, dass es nirgends bessere gab als hier. An einem Tisch mit Perlenschmuck hielt sie inne. June hatte diese Art Schmuck am liebsten getragen.
„Darf ich?“, fragte Amy den alten Mann hinter dem Verkaufstisch und zeigte auf eine der Ketten.
Lächelnd nickte er.
Während sie die champagnerfarbenen Perlen durch die Finger gleiten ließ, durchfluteten sie Bilder der Erinnerung. Bei nicht wenigen musste sie innerlich lachen und äußerlich schmunzeln.
„Passt gut zu Ihrem roten langen Haar, junge Frau. Für Sie mache ich sogar einen Sonderpreis. Eigentlich zehn Pfund, für Sie die Hälfte. Na, ist das kein gutes Angebot für diese fabelhafte Qualität?“, fragte der bärtige, dickbäuchige Verkäufer und riss sie aus ihrem Gedankenkino.
„Ja, guter Deal.“ Schnell drückte sie ihm das Geld in die Hände, hängte sich die Kette um und schlenderte weiter. Das Meer aus Menschen schien dichter zu werden. Ein paar Meter weiter wurde sie gezwungen, an einem Tisch zu stoppen, der über und über mit Büchern beladen war. Jemand stieß sie von hinten an, sodass sie ungewollt gegen einen Mann gepresst wurde, der gerade in eines der Bücher vertieft war.
„Sorry“, entfuhr es ihr, während sie versuchte, sich von ihm zu lösen. Er hielt das Buch zur Seite und sah sie an. Wow, diese Augen. Ein grünbrauner See mit kleinen schwarzen Punkten. Verschmitzt lächelnd entgegnete er: „Nein, entschuldigen Sie sich nicht, Sie können ja nichts dafür. Ich habe das gleiche Problem, nur von der anderen Seite.“
Die Leute drängten weiter. Schließlich kam ihnen beiden die Situation so komisch vor, dass sie gleichzeitig lachen mussten. Amy spürte seinen durchtrainierten Oberkörper an ihrem. Sein schwarzes, leicht gewelltes Haar war von ein paar braunen Strähnen durchzogen. Fältchen umspielten seine Augen und den vollen Mund, während er lächelte. Sie schätzte ihn nur ein wenig älter, als sie selbst war. Mit einem Mal erhitzten sich ihre Wangen, woraufhin sie den Blick verlegen zum Büchertisch wandte. Sekunden später löste sich das Gedränge um sie herum ein wenig, was sie beinahe bedauerte.
Zögerlich schob sich der Fremde an ihr vorbei.
„Endlich wieder in Freiheit“, sagte sie und lächelte.
„Ach, ich empfand die kurze Gefangenschaft als sehr angenehm. Also dann. Ich habe meinen Schatz gefunden“, erwiderte er und zwinkerte ihr zu.
Was meint er denn damit? „Ihren was … Schatz?“
Auch wenn sie sich selbst nicht sah, wusste sie, dass ihre Wangen inzwischen wohl so rot waren wie der Himmel bei einem Sonnenuntergang. Erneut verschmitzt lächelnd zeigte er auf das Buch, das er bei sich trug.
Ah, jetzt verstehe ich.
„Oh, ja, ja … schön. Freut mich. Ich suche noch danach“, stotterte Amy und zeigte kurz hinter sich.
Noch immer lächelte er. „Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei. Ich glaube, Sie haben einen richtigen Schatz verdient.“
Mit diesen Worten wandte er sich um und ging. Amy sah ihm nach, bis er mit einer Traube aus Menschen verschwunden war. Gedankenversunken stapelte sie dann einige Bücher vor sich auf, ohne sie wirklich anzusehen. Was habe ich da nur für einen Stuss geredet – „Endlich wieder in Freiheit.“ Jetzt im Nachhinein kamen ihr die Worte unhöflich und dämlich vor. Im Grunde alles, was sie gesagt hatte. Wieder einmal ließ sie ihre Gedanken um tausend Ecken hechten, bis sie am Ende dann doch wieder in einer Sackgasse stecken bleiben würden. Verdammt. Gedankenstopp. Gedankenstopp!
Geri, ihre beste Freundin, hatte ihr dieses Wort ans Herz gelegt – oder besser gesagt in ihrem Kopf verankert. Bei unangenehmen oder zu ausschweifenden Gedanken sollte sie es sich immer wieder selbst sagen. Einen Tipp, den Geri in ihrem Psychologiestudium gelernt hatte. Gedankenstopp! Manchmal half es wirklich. Dieses Mal aber riss Amy die schrille, hohe Stimme der Buchverkäuferin aus dem Gedankenkarussell.
„Sehen Sie sich den Einband an. Roter Samt. Sehr edel. Der Titel und dieser kleine schwarze Rabe in der unteren rechten Ecke der Vorderseite sind eingestickt. PAGES – klingt einfach und macht doch neugierig. Finden Sie nicht?“
Amys Blick schärfte sich wieder. Die Frau mit dem Damenbart nahm das Buch, das ganz oben auf dem Stapel lag, und fuhr mit den Fingern darüber. Die Stickerei erinnerte Amy wieder an ihre Granny.
„Meine Großmutter hat auch gern gestickt. Um sich zu beruhigen, wenn sie innerlich aufgewühlt war. Kam nicht selten vor.“
„Ah, schön. Meine habe ich leider nicht mehr kennengelernt. Komisch. Ich kenne das Buch gar nicht. Das muss mein Mann zu den anderen gelegt haben. Vielleicht gehörte es seiner Mutter. Wissen Sie, sie liebte Bücher. Sammelte sie ihr ganzes Leben.“ Sie drehte das Buch um, starrte auf seinen Rücken und zog nach einer Weile die Brauen zusammen. „Der Rückentext ist ja seltsam. Aber irgendwie auch schlau. Mal etwas anderes, auch wenn ich nicht abergläubisch bin.“ Die Verkäuferin wollte gerade anfangen, in dem Buch zu blättern, als Amy fragte: „Kann ich mal sehen?“
„Natürlich, junge Frau.“ Sie reichte es ihr breit lächelnd über den Tisch.
Es fühlte sich wirklich gut an. Der Samt schmiegte sich regelrecht an ihre Finger, nicht umgekehrt. Plötzlich durchschlich Amy das sichere Gefühl, es haben zu müssen. Als sie den Klappentext las, intensivierte sich dieses Gefühl.
Wer kein Unglück anziehen will, der beachte die drei folgenden Regeln zu diesem Buch: Das Geheimnis lernt nur der kennen, der die enthaltene Geschichte von hinten nach vorne liest und sie für sich bewahrt. Es darf vorher nicht wahllos darin geblättert werden. Es sollen keine Nachforschungen über das Buch angestellt werden. Liest man mit Bedacht, wird sich letztendlich bestimmt alles von selbst erklären und hoffentlich so manches auflösen.
Am liebsten wollte Amy das Buch gar nicht mehr aus den Händen geben. Komischerweise waren weder auf der Vorder- noch auf der Rückseite ein Autoren- und Verlagsname zu finden. Vielleicht stand diesbezüglich ja aber auch etwas in der Geschichte.
„Wie viel wollen Sie denn dafür haben?“, fragte sie die Verkäuferin, die das Buch zurückwollte. Glaubte diese etwa, sie würde sich damit aus dem Staub machen? Widerwillig gab Amy es ihr.
„Nun ja. Sieht aus wie ein sehr altes Buch, nur gut gepflegt“, sagte die Frau und biss sich dann auf die Unterlippe.
Beinahe konnte Amy ihre Gedanken rattern hören. Natürlich, sie hatte ihr angemerkt, dass sie scharf darauf war. Doch mehr als zehn Pfund hatte sie nicht mehr dabei.
Die Frau wiegte den Kopf hin und her und spitzte die Lippen. „Na gut, zwanzig Pfund, und es gehört Ihnen“, rückte sie schließlich heraus.
Ganz klasse. Die nächste Bank war einige Straßen entfernt. Bei der Menge an Menschen, die an diesem Tag unterwegs waren, bräuchte sie sicher eine Weile, bis sie wieder zurück war. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihr, dass sie spätestens in einer halben Stunde zu Hause sein musste, wollte sie sich das Gemecker ihrer Mutter ersparen. Sie hatte ihr versprochen, pünktlich zum Abendessen zurück zu sein.
„Ich habe leider nur zehn dabei“, bemerkte Amy, woraufhin die Verkäuferin das Buch unter einen Stapel alter Zeitschriften schob und mit den Schultern zuckte.
„Alter Trick. Funktioniert bei mir aber nicht. Zwanzig Pfund. Kein Cent weniger.“
Amy weitete die Augen. „Das ist kein Trick. Ich muss in einer halben Stunde zu Hause sein. Mit meiner Mutter ist nicht zu spaßen. Außerdem sind zwanzig Pfund doch schon ein bisschen viel für ein gebrauchtes Buch. Oder?“
Die Frau winkte ab und hob die Brauen. „Kindchen, Sie müssen sich nicht bei mir rechtfertigen. Ich lasse mir aber auch nicht in meine Preispolitik reinreden. Das Buch ist schließlich nicht irgendeines.“ Sie senkte den Blick und schürzte die Lippen.
Amy war klar, dass sie sich gerade angehört hatte wie eine Zwölfjährige. Aber diese Dame kannte ihre Mutter nicht.
Schnell ging sie weiter, auch wenn sich dabei ihr Brustkorb zusammenzog. Es war merkwürdig, denn ihr war gerade so, als würde sie einen guten Freund zurücklassen müssen.
Nach wenigen Metern hörte sie die Stimme der Verkäuferin. „Okay, okay. Ich gebe es Ihnen für zehn.“
Amy hielt inne und warf einen Blick über die Schulter. „Wirklich?“
Die Frau hielt das Buch hoch und verzog einen Mundwinkel. „Ja, kommen Sie schon her.“ Räuspernd beugte sie sich nach vorne und flüsterte: „Ich glaube, wir haben etwas gemeinsam.“ Ihre Augen wurden groß.
„Und was?“, fragte Amy.
„Die gleiche Art von Mutter. Meine fährt ihre Krallen auch gern aus. Gehen Sie ihr von der Leine, so bald wie möglich. Ich habe es nie geschafft.“ Sie zeigte hinter sich.
„Red nicht so viel Unsinn“, fauchte eine dickliche Frau im Rollstuhl.
Amy hatte sie vorher gar nicht bemerkt.
„Sie versteht zwar oft nicht mehr, was ich sage, muss aber dauernd ihren Senf dazugeben. Egal, was ich tue, fast immer findet sie einen Grund zum Meckern.“
Verständnisvoll seufzte Amy. Das kannte sie nur zu gut. Manchmal glaubte sie wirklich, das sprichwörtlich schwarze Schaf in der Familie zu sein.
Mit einem mitfühlenden Blick reichte die Frau Amy das Buch. „Es gehört zu Ihnen. Das sagt mir mein Bauchgefühl.“
„Sei nicht wieder zu gutmütig mit dem Preis, Ashley. Hörst du?“, krächzte die Alte im Rollstuhl und reckte den Kopf, um zu sehen, wie viel Geld Amy ihrer Tochter zusteckte.
Die Verkäuferin atmete tief ein und rollte mit den Augen.
„Danke“, erwiderte Amy, nahm die Kette, die sie vorhin gekauft hatte, ab und reichte sie ihr über den Tisch.
„Oh. Für mich?“ Ihre Augen begannen zu glänzen.
Amy nickte. „Nehmen Sie. Nochmals tausend Dank.“
Lächelnd hängte sich Ashley die Kette um und ließ das Geld schnell in eine ihrer Jackentaschen verschwinden.
„Halt. Das habe ich gesehen. Hierher damit. Ich verwalte das Geld. Schon vergessen?“, raunte die Alte und verzog die Augen zu Schlitzen.
„Wenn ich mehr Geld hätte und vor allem nicht zu feige wäre, wäre ich schon längst über alle Berge “, murmelte Ashley und machte kehrt, nachdem sie Amy einen auffordernden Blick zugeworfen hatte. Ja, sie hat recht, verdammt recht, wurde Amy bewusst, und das bei Gott nicht zum ersten Mal. Aber auch sie war noch zu feige, um aus dem goldenen Käfig auszubrechen. Zudem war da noch ihr Vater, um den sie sich sorgte.