Читать книгу Pages - Die Zeilen meines Lebens - Nadine Stenglein - Страница 9

Das neunte Kapitel

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„Tante Amber war entsetzt, als sie gesehen hat, wie und dass du überhaupt mit diesem Mann vom Service geflirtet hast. Schäme dich vor ihr, mir und deinem Vater“, zischte Helena ihr ins Ohr.

„Ich habe nicht geflirtet“, flüsterte Amy zurück.

„Die junge Frau von dieses Catering-Service war so etwas von ungehobelt. Stellt euch vor, sie hat mich Schlange genannt“, erzählte Amber und stocherte in ihrem Hummer, als wäre er ungenießbar. Dabei hatte sie schon mehr als zehn Häppchen vertilgt.

„Man sollte alles zurückgehen lassen und gar nichts bezahlen“, ergänzte sie und ließ sich von Winston die Stirn mit einem Tuch abtupfen.

„Den anderen Gästen scheint es jedenfalls zu schmecken“, bemerkte Amy.

„Vorzüglich“, warf Geri ein und verzog schwärmerisch das Gesicht.

„Am schönsten sind die Rosen“, fügte Amy lächelnd hinzu.

„Passt gut auf sie auf. Solche Typen haben gesehen, in welch noblen Kreisen eure Tochter verkehrt. Ihr versteht? Und Amy ist ja ein kleines Träumerchen und gutgläubig dazu“, stichelte Amber und hob einen Finger. „Ich träume zwar gern, aber dumm bin ich deswegen noch lange nicht“, musste Amy einwerfen. Bevor Amber und Helena etwas erwidern konnten, kam ihnen Charles zuvor. „Da geb ich meiner Tochter recht“, sagte er.

Hastig kramte er nach seinen Zigaretten, stand auf und entschuldigte sich, bevor er hinausging.

Danke, Dad, dachte Amy.

„Geri, erzähl uns von deinem Studium. Hast du gute Professoren?“, riss Helena ihr Lieblingsthema an. Wohl auch um abzulenken.

Das Darklight der Party, Geris Gegenwort zu Highlight, wartete allerdings noch auf sie. Ein menschgewordener Albtraum namens Marlon Hucksley. Kurzbiografie: Doktorand in Jura, beachtliche 1,90 m, lichtes Haar, dreißig, spargelschlank, braune Augen, äußert sportlich wirkend, wasserfallartige Äußerungen (meist über sich selbst), spiegelverliebt, Single und auf der Suche.

„Das ist Amy“, stellte Helena ihm ihre Tochter vor, nachdem Amber ihn zu ihnen geschoben hatte.

Er straffte die Schultern. „Sehr erfreut. Doktor Marlon Hucksley, ehemaliger Oxford-Student, Abschluss mit summa cum laude. Ich arbeite als Anwalt in einer Kanzlei in Kensington.“

„Guten Tag, Mr Hucksley“, entgegnete Amy mit Schiefblick zu Geri, die genauso begeistert dreinblickte wie sie selbst.

„Ihnen erlaube ich, mich nur Marlon zu nennen.“ Nachdem er das gesagt hatte, gluckste er wie ein Huhn. Amber und ihre Eltern zogen sich sogleich zurück und winkten auch Geri mit sich.

„Er ist nett. Mach deiner Mutter die Freude“, bat Charles noch und nickte ihr zu. Ihm zuliebe willigte Amy schließlich ein und ließ Marlons Lebenslauf über sich ergehen, der vor Perfektion nicht ermüdender hätte sein können. Außer den vielen Lerneinheiten und dem Dasein eines strebsamen Sohns aus gutem Hause, der seinem Vater, ebenfalls Anwalt, nacheiferte, gab es nicht viel. Seine Freunde waren allesamt auf dem gleichen Level. Sie trafen sich des Öfteren, um sich beruflich auszutauschen oder Leseabende zu veranstalten.

„Ich träume von einer lieben Frau und Kindern. Ein Haus habe ich ja schon. Der Garten wartet nur darauf, bepflanzt zu werden, wenn auch nicht mit Blumen.“

Amy sah ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen an. „Lass mich raten. Mit einem Baum, um den ein Hund springt.“

Er lachte. „Ja, ich weiß, es ist ein Klischee. Aber mir gefallen traditionsreiche Klischees eben. Ein geordnetes Leben ist verlässlich. Es bietet Sicherheit in dieser doch oft verrückten Welt. Findest du nicht, Amy? Und: Ich mag Grünpflanzen.“

Amy verschränkte die Arme vor der Brust und atmete tief durch. „Und deine Frau sollte sein wie deine Mutter? Was macht sie?“

„Sie hat früher studiert, aber das Studium für meinen Vater an den Nagel gehängt, um sich vollends der Familie widmen zu können. Sie hat darauf geachtet, dass ich und meine Schwestern auf dem rechten Weg bleiben. Das hat sie bravourös gemeistert. Das ist doch schön. Nicht wahr? Deine Mutter und sie haben viel gemeinsam. Du studierst auch?“

Amy lächelte. „Ich? … Nein. Ich bin nur eine kleine Floristin. Das macht mich glücklich.“

Die Aussage schien ihn einen Moment zu schockieren. „Ah, okay! Aber so ganz ohne Mann nicht einfach, kann ich mir vorstellen. Nun ja. Du wohnst ja aber noch bei den Eltern. Dann geht das schon, bis der Richtige kommt.“ Er beugte sich ein wenig vor. „Manchmal ist er näher, als man glaubt. Meine Frau braucht nicht mehr zu arbeiten, das steht fest. Ich verdiene schon jetzt gut genug, obwohl ich erst am Anfang stehe. Ich habe noch viel vor, auch was meine Karriere anbelangt. Daher habe ich auch nicht vor, ewig in der Kanzlei zu bleiben, in der ich nun bin.“ Er lachte stolz und nippte an seinem Orangensaft.

„Ich arbeite sehr gern und möchte das auch beibehalten. Selbst wenn ich einen Milliardär heiraten würde.“

„Als Hobby sozusagen. Verstehe. Aber willst du denn keine Kinder?“

„Doch, natürlich.“

Allmählich reichen die Informationen, dachte Amy und wollte sich dezent zurückziehen. Sie hatte ihre Pflicht getan und war sich inzwischen absolut sicher, dass ihre Mutter von Anfang an diese Begegnung im Auge gehabt hatte. Hilfesuchend schielte sie nach Geri. Der Klavierspieler stimmte ein neues Stück an, zu dem weitere Musiker ihr Bestes gaben. Marlon nahm ihre Hand und zog sie zu einer freien Fläche, die sich zum Tanz anbot und auf der sich bereits weitere Paare versammelten.

„Schenk mir noch ein paar Augenblicke, und wer weiß …“

Er zwinkerte. Rechts sah sie Geri und ihre Eltern. Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter hätte nicht seliger sein können. Sie lehnte sogar ihren Kopf an die Schulter Charles’, der sich sichtlich darüber freute, seine Frau so friedlich zu erleben. Etwas, was Amy ihm von Herzen gönnte. Also hielt sie aus. Das Lied schien nicht enden zu wollen, genauso wie Marlons Erzählungen über ein paar seiner Klientinnen, die ihm laut eigener Aussage huldigten. Für ihn war eine Frau nicht viel mehr als eine Geburtsmaschine und Dekorationsstück, die, auch wenn er es durch die Blume sagte, von Mutter Natur auch dafür erschaffen worden war. Demnach war Amy mehr als froh, als sie die Geschichtsstunde und Gloriagesänge hinter sich hatte und Marlon gehen musste, weil er sich noch auf ein Seminar vorbereiten wollte. Dem Getuschel mancher Anwesenden nach galten sie bereits als das nächste Traumpaar. Dass sie damit das große Los ziehen würde, hörte sie des Öfteren von Amber und anderen Verwandten, bevor sie nach Hause fuhren.

„Ein wirklich beeindruckender junger Mann und schon so erfolgreich. Seine zukünftige Frau wird sich mit Stolz Mrs. Doktor Hucksley nennen können“, schwärmte Helena im Auto, dessen Dach ihr Mann für die Rückfahrt geschlossen hatte, zumal es bereits dunkel und kühler war.

Amy erwiderte nichts und fing Geris mitfühlenden Blick auf. „Ich werde es mit Sicherheit nicht“, flüsterte sie ihr zu. Helena überhörte es, wohl gewollt.

„Wir müssen ihn und seine Eltern unbedingt einladen. Schade, dass sie nicht dabei sein konnten, weil sie sich eine Grippe eingefangen haben“, seufzte sie.

„Ja, sehr schade“, gab Charles zurück und warf einen Blick in den Rückspiegel, den Amy nicht deuten konnte.

Man konnte das Zirpen der Grillen bis in ihr Zimmer hören. Amy ließ das Fenster weit offen, kuschelte sich unter die Bettdecke und schrieb Geri einen Gute-Nacht-Gruß via Handy, den diese mit einem Kusssmiley erwiderte. Als PS hängte sie an: Schöne Träume ;)

„Träume! Ich liebe Träume. Ja, ich oute mich. Ich bin eine Träumerin“, flüsterte Amy und dachte an Ben, sein Lächeln, das Strahlen in seinen Augen, ihre Begegnung am Markt und schließlich auch wieder an Holly, deren Schicksal zwischen den Zeilen stand und das sie gleich weiter erkunden wollte. Bens Karte klemmte sie hinter die letzte Seite und den Buchdeckel. Sie wusste noch nicht, wann sie ihn anrufen sollte. War es nicht eigentlich umgekehrt besser und auch die Regel? Nein, Moment. Es war ja kein Date, verbesserte sie sich. Vielleicht morgen, sinnierte sie weiter. Nein, zu früh. Sie schüttelte das Kissen noch einmal auf, machte es sich erneut bequem und schlug dann das Buch an der Stelle auf, an der sie zuletzt gewesen war. Allmählich rückte das Erlebnis mit diesem selbstverliebten Marlon in immer weitere Entfernung, während sie hoffte, dass ihre Mutter die Einladung, die sie angedroht hatte, vergessen würde.

-9-

Holly führte die Feder des Füllers mit Leichtigkeit über das Papier. Von draußen drangen die Stimmen ihres Mannes und ihrer Söhne zu ihr, und vom Schlafzimmer aus hörte sie das Wimmern ihrer Mutter, die bei ihnen wohnte. Fünf lange Jahre waren es nun schon. Von Anfang an hatte sie Harrison bewundert für seinen Willen, etwas zu erreichen. In die Kanzlei, die er führte, traten nun auch seine Söhne ein, während er zum Richter aufstieg. Früher hatte diese ihrem Vater gehört. Nach seinem Tod war sie gänzlich auf Harrison übergegangen. Er hatte immer behauptet, dass er dies auch allein geschafft hätte, aber die Arbeit ihres Vaters so in Ehren halten würde.

„Du solltest wirklich dankbarer sein für so einen Mann, und er sollte immer stolz auf dich sein können. Aber sieh dich an. Du gibst dich zunehmend auf. Wegen eines Armleuchters“, hatte Jacky, ihre Mutter, immer wieder zu ihr gesagt.

„Ich habe doch getan, was ihr alle von mir gewollt habt. Lasst mir doch ein wenig Freiheit“, hörte sie sich aus der Erinnerung widersprechen. Keiner hatte es gehört, keinen hatte es interessiert.

Aber es stimmte, sie hatte sich aufgegeben nach damals. Stück für Stück. Sich sozusagen ergeben, ihrem Schicksal, dem Leben, den Menschen, die noch darin verblieben und mächtiger waren als sie selbst.

Amy stockte. „‚Nach damals‘? Was ist damals passiert, Holly?“, flüsterte sie, als wäre Holly in ihrem Zimmer. Irgendwie war sie das ja auch. Um eine Antwort zu finden, las sie schnell weiter.

Holly liebte es, Geschichten zu schreiben. Doch seit Matteo hatte sie sie niemandem mehr gezeigt. Es hätte wohl auch keinen interessiert. Nur einmal wollte Harrison ein paar Zeilen lesen. Es war ein Entwurf, den sie achtlos weggeworfen hatte. Sein Kommentar war ein Lachanfall gewesen.

„Das ist kitschiges Zeugs, Mom“, hatte auch Richard, einer ihrer Zwillingssöhne bemerkt, womit er Harrisons Meinung teilte und genau wusste, dass er damit bei seinem Vater auf fruchtbarem Boden landete.

„Da hörst du es, Holly. Sei froh über ehrliche Kritik. Sie bewahrt dich und deine Leser vor weiterem Schaden“, war Harrison seinem Sohn sofort gefolgt.

Elton hatte sich erst gar nicht auf die Diskussion eingelassen und Holly nichts dazu gesagt. Es war ihr eine Lehre gewesen. Lose Entwürfe verbrannte sie seitdem und versteckte nur das, was ihr wirklich wichtig und wertvoll erschien, unter den Dielen ihres Schlafzimmers.

Gedanken schweben zu dir. Auf eine ferne Insel übers Meer. In seinen Wellen wogen unsere Erinnerungen, über die dunkle Schatten wehen. Doch wenn ich in sie tauche, ziehen Sonnenstrahlen durch sein blaues Bett und Diamantensplitter, geboren aus sternenklaren Nächten. Ich sehe hinüber. Sehe die Spitze des anderen Ufers. Ein strahlend helles Licht. Wie von einem Leuchtturm aus gesendet. Ich trage eine Hoffnung in mir. Die Hoffnung, dass du mir verzeihen kannst, weil ich zu feige war. Damals. Die Hoffnung, dass eines Tages ein Boot kommen wird, dessen Ruder ich in die Hände nehmen kann und das mich zu dir bringt. Die Schatten verschwinden, die Welt hinter den Scheiben wird wahr. Ich will zu dir. Du sollst nur wissen, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, Matteo. Aber ich werde keine Sünde begehen, geduldig warten, bis es so weit ist.

Kaum hatte sie den Brief zusammengefaltet, den sie am Vortag geschrieben hatte, erschreckte sie ein Keuchen. Die Tränen verebbten, ihr Atem stockte für einen Moment.

„Holly?“

Holly atmete aus. „Ich komme, Mutter.“

Es gab nur wenige Tage, in denen Jacky noch etwas allein tat. Seit sie diese zu sich genommen hatten, waren sie der Ersatz für deren verstorbenen Mann geworden. Harrison mochte seine Schwiegermutter, die ihn von Anfang an wie einen Sohn behandelte und ihm auch ihr gesamtes Erbe versprochen hatte. Seit Holly dies mitbekommen hatte, war es für sie zur Gewissheit geworden. Ihre Mutter traute ihr nicht einmal zu, richtig mit Geld umzugehen. Als Dienerin allerdings war sie weiterhin ganz recht.

„Hol mir einen schwarzen Tee mit Milch. Aber nicht so lauwarm wie das letzte Mal. Dazu ein paar Kekse. Alles auf dem silbernen Tablett. Und kämme mir das Haar. Ich fühle mich sehr schwach heute und möchte im Bett bleiben, aber dennoch gut aussehen. Harrison und die Buben wollen nachher noch Schach mit mir spielen. Ach, ich bin so stolz auf meine drei Männer. Wenn sie nicht wären …“

Holly verstand, nickte nur und wollte sich auf den Weg machen, da hielt sie die knochige Hand ihrer Mutter zurück.

„Harrison und ich machen uns wirklich Sorgen um dich, Holly.“

Holly schüttelte den Kopf. „Das braucht ihr nicht.“

„Doch, Kind. Mein Gott, du siehst es nicht einmal selbst. Du verlierst dich seit Jahren Tag für Tag mehr in deinen Träumen. Das Leben aber ist kein Traum, Holly. Wie oft, wie oft habe ich das schon gesagt? Aber ich werde nicht müde, es weiterhin zu tun. Du hast zwei erwachsene Söhne. Sie werden in Harrisons Fußstapfen treten. Ein Glück, dass er geerdet ist. Er muss dich immer öfter erst antreiben, damit du etwas richtig machst oder überhaupt.“

„Willst du sagen, ich wäre verrückt und faul?“, entfuhr es Holly. Im Grunde kannte sie die Antwort. Harrison hatte sie sogar schon einmal ausgesprochen, es dann aber wieder zurückgenommen.

„Du sprichst mit dir selbst und ziehst dich oft stundenlang in eine andere Welt zurück, starrst in irgendeiner Ecke vor dich hin.“

„Ich sinniere nur. Über das Leben an sich. Das ist alles. Und wen habe ich denn zum Reden? Ich meine nicht die Konservationen, die du und Harrison oft führt und die ihr auch den Jungs beigebracht habt …“ Holly brach ab. Warum sage ich das überhaupt? Was bringt es?

„Das klingt ja wie ein Vorwurf. Unverschämtheit.“

„Vergiss es, Mutter.“

„Reiß dich besser zusammen. Und wenn du ihn immer noch vermisst, du weißt, wen ich meine, dann ist das wirklich verrückt. Es ist so lange her und zudem … Nein, ich will es gar nicht aussprechen. Werde endlich erwachsen, Holly. Denk an deine Söhne. Nie können sie Freunde mitbringen. Weil sie sich …“ Sie verstummte und verzog einen Mundwinkel.

„Weil was? Sie sich für mich, ihre Mutter, schämen? Das … das glaube ich nicht. Ich weiß, dass Harrison niemanden sonst im Haus duldet, seine Ruhe will. Harmonie und Frieden. Wenn sich einer für mich schämt, dann ist er es. Er und du. Aber nicht Richard und Elton. Nein.“

„Du bist ja wirklich verrückt und unbelehrbar dazu.“

Holly biss die Zähne aufeinander. „Ich hole nun besser deinen Tee.“

Auf dem Flur ihrer Villa in Notting Hill traf sie mit Harrison zusammen.

„Du trägst ja immer noch dein Nachtkleid. Es ist gleich vierzehn Uhr, Holly.“

„Mir war nicht so gut“, log sie. Vielmehr war es tatsächlich so, dass sie es kaum geschafft hatte, aus dem Bett zu kommen. Seit einer Weile schliefen sie und Harrison getrennt. Es war seine Idee gewesen und ihr nur recht. Auch dass er sie nicht mehr an die ehelichen Pflichten erinnerte. Sie war sich sicher, dass seine junge, neue Kollegin Eva Bloom ihren Teil dazu beitrug. Nur sollte sie sich hüten, ihm karrieremäßig das Wasser reichen zu wollen.

„Ah ja … Nun, ich wollte nach Mutter sehen“, sagte er.

„Es geht ihr gut. Ich mache ihr nun den Tee.“

„Schön.“

Harrison fuhr sich durch das bereits ergraute Haar und blickte auf sie herab, im doppelten Sinne.

„Ich muss später noch einmal in die Kanzlei. Richard und Elton werden bei Freunden übernachten.“

„War nicht etwas anderes geplant? Mutter sagte, ihr wolltet Schach spielen.“

„Es hat sich eben spontan so ergeben.“

„Du hasst doch Spontanität.“

Er ging nicht einmal darauf ein. „Ich hoffe, du kommst allein zurecht, Holly?“

Holly lachte. „Ich bin doch kein Kind mehr.“

„Das habe ich auch nicht gesagt. Verdrehe mir nicht die Worte im Mund.“

Sie atmete tief durch, woraufhin er seine Hände auf ihre bleichen Wangen legte und ihr einen Kuss aufdrückte, der ihr die Lippen an die Zähne presste.

„Ich liebe dich, Schatz“, sagte er und lächelte dieses Lächeln, das sie so hasste, während seine Augen ohne Ausdruck blieben. „Und du sagst darauf?“, fragte er fordernd und zog die buschigen Brauen nach oben, da sie nichts erwiderte.

Ihre Gedanken flogen durcheinander, drohten in einem schwarzen Loch zu verschwinden. „Was?“

„Mein Gott, Holly.“ Ihm entwich ein Seufzen. „Träumst du schon wieder?“

„Nein. Entschuldige, ich … ich habe die Frage nicht verstanden.“

„Eben, weil du träumst. Ich mache mir wirklich große Sorgen. Vielleicht solltest du zu einem Arzt gehen.“

Vehement schüttelte sie den Kopf. „Ich brauche keinen Arzt. Aber danke.“

Er tätschelte ihre rechte Wange, als wäre sie eben doch ein Kleinkind, und ging weiter zu ihrer Mutter, um ihr zu sagen, dass sich das Schachspiel verspäten würde.

Erst als es ruhig in den Räumen wurde, die Männer waren außer Haus, ihre Mutter schlief, traute sie sich wieder zu träumen, wozu sie sich in das oberste Stockwerk des Hauses zurückzog. Dort gab es ein Fenster, das ihr besonders gut gefiel. Ihre Hände legte sie auf das kühle Glas. Von hier oben war die Aussicht auf den großen parkähnlichen Garten mit den alten Ahornbäumen, unter deren Blätterdach Richard und Elton als Kinder so gern geschaukelt hatten, großartig. Ein Lächeln wanderte über ihre Lippen. Die Buben hatten ihre Geschichten immer gemocht, auch ihre Gedichte. Bis zu jenem Zeitpunkt, an dem Harrison sie unter seine Fittiche nahm, was sie auch äußerlich verändert hatte. Aus gutem Grund, denn sie fürchteten ihn. Dass auch ihre Mutter das tat und zudem schwach war, hatten sie schnell begriffen. Es war nicht so, dass Holly sie nie verteidigt hätte. Sie hatte nur nie gewonnen, weshalb sie sich fast immer an das hielten, was ihr Vater sagte. Zudem hielt dieser die Hand über das Geld. Es entging Holly nicht, dass sie dies auch taten, um nicht nur sich selbst, sondern auch sie zu schützen.

„Was wäre, wenn es deine Söhne wären? Gott verzeih, aber ich frage mich das so oft“, flüsterte sie und begann eine Welt hinter die Scheibe zu zaubern, in den Garten, der nun im Dunkeln lag. Eine Welt, in der sie Matteos Lachen hörte, von dem sie nie genug bekommen konnte. Seine sanfte Stimme. Noch immer spürte sie seine Berührungen auf ihrer Haut, ihren Lippen, konnte seine Wärme fühlen. Nur kurz, zu kurz, war ihre gemeinsame Zeit gewesen, aber sie hatte ausgereicht, um zu wissen, dass sie ein Leben lang glücklich werden würden. Bis zu jenem Tag.

„Ich bin schuld, ich allein“, sagte sie, und Tränen rannen über ihre Wangen. Die Zeit verging, verlor sich in endlosen Szenen. Szenen hinter der Scheibe, in denen sie sich ausmalte, wie es hätte sein können. Gemeinsame Abende in einem Garten, mit glücklichen Kindern, viele Gespräche, Gelächter, Leichtigkeit. Sicherlich hätte es auch einmal Streitigkeiten gegeben. Aber nie so wie mit Harrison.

„Weit, weit weg von hier“, flüsterte sie.

„Drehst du nun ganz durch? Weit weg willst du also?“ Die Stimme ihres Mannes riss sie aus ihrer Gedankenwelt. Nachdem sie herumgefahren war, blickte sie in kalt blitzende, verständnislose Augen. Dann packte er sie an den Armen. Warum war er schon zurück? Holly erstarrte und sah ihn nur an, den Mund geöffnet. Doch kein Wort, nicht eine Silbe, kam ihr über die Lippen.

„Du bist krank, Holly. Ja, du musst hier weg, hier raus, bevor du den Jungs, mir und deiner Mutter schadest, uns mit hinunterziehst in deine Traumwelt. Denkst du, ich wüsste nicht, dass du mich innerlich jeden Tag betrügst? Ich hatte gehofft, es würde irgendwann aufhören“, herrschte er sie an und zerrte sie mit sich aus dem Raum.

„Was hast du vor?“, fragte Holly, aber Harrison gab ihr keine Antwort. Und als sie an dem Zimmer ihrer Mutter vorbeikamen und sie nach ihr rief, hörte sie nur, wie diese sagte: „Es ist besser so. Für uns alle. Adieu, Holly.“

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