Читать книгу Pages - Die Zeilen meines Lebens - Nadine Stenglein - Страница 6
Das letzte Kapitel
ОглавлениеDas Anwesen ihrer Eltern lag am anderen Ende Swans. In seiner Mitte stand eine ehemalige herrschaftliche weiße Villa aus dem Mittelalter, die schon mehrfach renoviert worden war. Amy hielt vor der großzügigen gepflasterten Einfahrt inne und fuhr mit den Fingern über den samtenen Einband des Buchs, das ihr ein unbewusstes Lächeln auf die Lippen zauberte. Durchatmend warf sie einen Blick Richtung Himmel. Der Regen hatte endlich aufgehört, und am Horizont zeigte sich sogar noch einmal die Sonne, die die aufgerissenen grauen Wolken in ein warmes Rot tauchte. Von der Straße stiegen Dunstwolken auf, als würde sie atmen. Noch einmal sog Amy die würzig riechende Luft tief in ihre Lunge und ließ sie langsam wieder daraus entweichen. Am liebsten hätte sie sogleich mit dem Lesen begonnen. Unweigerlich musste sie an die Worte des jungen Mannes vom Markt denken. Er hatte ihr gewünscht, dass sie ihren Schatz fand. Nun hatte sie das tatsächlich und freute sich schon darauf, ihn zu erkunden. So sehr, dass ihr die vorwurfsvollen Blicke ihrer Mutter wegen ihres Zuspätkommens von genau zwei Minuten gar nicht so viel ausmachten wie sonst, was diese wohl bemerkte. Prompt erntete sie dafür eine verbale Ohrfeige.
„Träumen kannst du nachts, Amy.“
„Ich habe nur nachgedacht“, erwiderte Amy und lud sich eine Portion Wildreis und ein Stückchen Fisch mit Weißweinsoße auf ihren Teller, ohne ihre Eltern eines Blickes zu würdigen.
„Lasst uns bitte in Ruhe essen, Helena“, warf ihr Vater ein, der stets darauf bedacht war, dass Frieden um ihn herrschte.
Helena stöhnte auf. „Ich möchte nur, dass sie sich normal verhält, Charles. Nicht dass sie am Ende so etwas in sich trägt wie deine …“, sagte sie schroff, unterbrach sich jedoch selbst. Charles tat, als hätte er es nicht gehört.
„Ich habe mich doch schon entschuldigt“, erwiderte Amy ruhig, obwohl es ihr schwerfiel. Laut zu werden brachte nichts, wie sie wusste. Helena würde mithalten und am Ende nur noch krähen, bis Amy die Ohren schmerzten. Tausend Dinge würden ihr wieder einfallen, die ihre Tochter in ihren Augen je falsch gemacht hatte und die sie mit absoluter Sicherheit noch falsch machen würde.
„Du bist eine Träumerin. Träumerinnen gehen in der Realität unter, und, noch schlimmer, verlieren sie dabei auch meist aus den Augen. Ich mache mir doch nur Sorgen um dich. Das ist die Aufgabe einer guten Mutter“, sollte das Ganze wohl rechtfertigen.
Eine Erwiderung konnte sich Amy nicht verkneifen: „Ich kenne die Realität nur zu gut und stehe mit beiden Beinen fest auf harter Erde.“
Ihre Antwort entlockte Helena nur ein höhnisches, kurzes Lachen. „Du weißt doch gar nichts vom richtigen Leben. Alles, was du kennst, sind deine Traumwelten. Was bitte hast du schon geschafft? Du bist hier aufgewachsen wie eine Prinzessin.“
„Ich habe einen sehr guten Schulabschluss“, erwiderte Amy weiterhin ruhig.
„Ja, und das Privatcollege, das wir dir dafür bezahlt haben, war reiner Unsinn für diesen Job, den du nun machst. Floristin“, gab Helena zurück und sprach es aus, als wäre es eine bedrohliche Krankheit. „Du hättest studieren können, Jura oder dergleichen. Sieh dir die Nachbarskinder oder die aus unserer Verwandtschaft an. Aus den allermeisten ist etwas geworden. Entweder sie …“
Amy seufzte. „… sind gut verheiratet mit passendem Zubehör oder haben einen Spitzenjob. Ich weiß.“
Ihre Mutter nickte. „Vorbildlich eben, mit klarem Verstand …“
„Ich sehe klar, oft zu klar. Vorbildlich, ja, wie schön, wie langweilig“, rutschte es Amy ein wenig lauter heraus. Sogleich biss sie sich auf die Zunge, stocherte in ihrem Essen herum und beschloss, sich wieder in sich selbst zurückzuziehen. Helenas Worte hallten in ihren Ohren nach und überschlugen sich dort, sodass sie nichts mehr von dem verstand, was ihre Mutter noch zu sagen hatte. Das musste sie auch nicht, im Grunde war es immer die gleiche Leier. Nun begann sie ihre Predigt schon, ohne dass ihre Tochter groß etwas sagte. Amy war klar, dass sie in ihren Augen ein Taugenichts war, und das, seit sie denken konnte. Auch wenn sie es gewohnt sein sollte, es tat immer wieder weh.
„Du kommst auch nach deinem Vater. Wenn er mich nicht gehabt hätte, hätte ihm sein ganzes Geld auch nichts genutzt“, war einer ihrer meist wiederholten Sätze.
Charles hatte nie etwas dagegen gesagt. Dass er nicht immer guthieß, was Helena so von sich gab, zeigte er jedoch nur selten.
Alles, was Amy anfasste, sagte oder tat, schien für Helena nichts wert zu sein. Lediglich ihren guten Abschluss hatte ihre Mutter mit einem wenn auch kurzen Lob kommentiert, das sogleich nach Beginn ihrer Ausbildung zur Floristin, die sie gut bestanden hatte, wieder wertlos geworden war. Dafür war Amy für die Umarmung ihres Vaters umso dankbarer gewesen, wenngleich er es beinahe heimlich getan hatte. Oft dachte sie, ihre Mutter würde sie hassen. Oder aber sie war ihr Sündenbock, weil sie selbst immer unzufriedener wurde mit sich und ihrer Umwelt. Ein Gedanke, den zumindest Geri hegte.
„Sie sollte mehr nach dem Mond leben. Sag ihr das“, hatte sie einmal vorgeschlagen.
„Ist das dein Ernst, Geri? Du weißt, wie sie da reagiert. Denk an June“, hatte Amy sie erinnert. Geri glaubte an die Kraft des Monds und richtete nahezu ihr ganzes Leben danach aus.
Gedankenstopp! Das sagte sich nun wohl auch Charles.
Er stand auf und verließ das Esszimmer, um in seinen Garten zu gehen. Die Liebe zu der Natur und den Blumen hatte Amy wohl von ihm und seiner Mutter geerbt. In und mit frischer Erde zu arbeiten, das tat er besonders gern, wenn dicke Luft herrschte. Vielmehr war er es, der sich in seine eigene Welt zurückzog, meist bepackt mit einer Schachtel Zigaretten.
Helena blickte ihm nach. „Urlaub bekommt ihm nicht.“
Nach einer Minute des herrlichen Stillschweigens fügte sie hinzu: „Außerdem interessiert deinen Vater das alles einen Dreck. Hauptsache, er hat seine Ruhe. Im Grunde seid ihr beide gleich. Träumer! Nur er ist wenigstens Jurist geworden. Ich sage dir noch einmal, bemühe dich um einen Studienplatz. Es ist noch nicht zu spät. Tante Amber und die anderen aus der Verwandtschaft fragen schon dauernd. Das bringt mich immer wieder in Verlegenheit. Mach was aus dir! Dann kannst du meinetwegen zwischendurch auch mal träumen und in lächerliche Geschichten eintauchen. Oder such dir verdammt noch mal einen richtigen Mann. Aber bitte nicht wieder einen Verlierer, wie die drei, die du bisher angeschleppt hast. Einen, den man voller Stolz vorzeigen kann.“
„Schon gut, schon gut“, erwiderte Amy schnell, stand auf und nahm ihren Teller mit.
Erstaunt blickte ihre Mutter zu ihr auf. „Was machst du damit?“
Amy war versucht die Augen zu verdrehen. „Ich bringe ihn zurück in die Küche.“
„Das macht das Personal, Herrgott. Stell ihn hin“, schnaubte Helena.
Amy biss die Zähne aufeinander, tat jedoch, was ihre Mutter sagte, und eilte danach in ihre vier Wände.
Dort beobachtete sie vom Fenster aus kurz ihren Vater, der an seinen selbst gezüchteten Rosen roch, wofür er sogar seine Zigarette weggeschnipst hatte. Amy seufzte. Im Grunde war sie nur noch seinetwegen hier. Er tat ihr leid. Sie wollte nicht, dass er ganz aufgab, wollte ihm den Mut geben, den sie selbst brauchte.
Ihre Verwandtschaft war ein Ausbund an Intellektuellen, wie auch ihre Eltern. Ihr Vater besaß eine eigene Kanzlei in London, Mayfair, für Klienten, die gut betucht waren und bevorzugt nur mit ebensolchen Leuten verkehrten. Wobei bevorzugt noch milde ausgedrückt war. Vielmehr verachteten sie brotlose Künstler und Träumer oder gar Leute, die nicht imstande waren, Geld zu machen, viel Geld. „Wenn man sich anstrengt, erreicht man auch etwas. Als Mann ein absolutes Muss, als Frau sollte man zumindest vorteilhaft heiraten“, war schon die Devise der Eltern Helenas gewesen. Das hatte June Amy einst verraten, als sie wieder einmal enttäuscht und wütend über Helena war. Ihr Ermes und sie hingegen hatten Charles, ihren Sohn, zu nichts gezwungen. Wenn es nach ihnen gegangen wäre und es ihn glücklich gemacht hätte, hätte er auch Eseltreiber werden können. Er allein hatte in die Rechtswissenschaften einsteigen wollen und sich hochgearbeitet, weil er ein Stück Gerechtigkeit in diese Welt bringen wollte, wie er einmal gesagt hatte. Als er Helena kennenlernte, war die gerade dabei gewesen, selbst Jura zu studieren. Allerdings aus ganz anderen Gründen als er. Für sie zählten allein die Karriere und das Geld, das man nach erfolgreichem Abschluss erwirtschaften konnte. Zudem wollte sie ihre Eltern stolz machen und liebte die hohen Kreise, in die sie das Ganze brachte. Nach der Verlobung legte sie das Studium jedoch nieder, zudem sie auch Alleinerbin der elterlichen Firma geworden war, die sie später verkaufte. Dafür nahm sie Charles unter ihre Fittiche und zeigte ihm, wie man erfolgreich wurde. Er selbst sagte inzwischen oft, dass er ohne ihre stählernen Regeln niemals ein guter Anwalt geworden wäre. Helenas Schwiegermutter June hatte das Streben ihrer Schwiegertochter nach immer Höherem nie verstanden. Charles blendete es lange aus. Besonders nach Amys Geburt war zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter ein Kleinkrieg ausgebrochen, da June auch der harte Erziehungsstil Helenas missfiel. Dafür bekam Amy von ihr und auch Charles, von ihm vornehmlich hinter Helenas Rücken, viel Liebe.
Amy machte es sich auf ihrer bunten Ausziehcouch bequem und betrachtete noch einmal das Buch. Ihr apartmentähnliches Zimmer erinnerte sie an eine Blumenwiese, was von Anfang an reine Absicht gewesen war. Amy mochte viele verschiedene Farben auf einem Fleck, so wie bei den Schirmen über dem Markt. Helena hingegen betrat ihr Reich selten, und wenn, dann immer mit einem stillschweigenden Würgen, das ihr ins Gesicht geschrieben stand.
„Es erinnert mich an deine Großmutter. Sie mochte es genauso chaotisch bunt. Und was ist am Ende aus ihr geworden? Verrückt und krank wurde sie. Nun ja. Verrückt war sie eigentlich schon immer, nur nicht ganz so offensichtlich. Da wusste es dann jeder, was ich immer schon gesagt habe. Selbst dein Vater“, hörte Amy die Stimme ihrer Mutter aus der Vergangenheit. Die Worte über June hatten Amy mehr verletzt, als es eine Ohrfeige je vermocht hätte.
Als sie schließlich die letzte Seite des Buchs aufschlug, durchfuhr ein Kribbeln ihre Fingerspitzen und ihr Herz schlug einige Takte schneller. Dass die Geschichte, die es enthielt, eine besondere war, spürte sie schon, bevor sie überhaupt die erste Zeile gelesen hatte. Die Schrift war zwar gedruckt, dennoch waren die Buchstaben geschwungen, als wären sie von Hand geschrieben worden. Als Kapitel wurde lediglich die Zahl zehn genannt. Sie selbst wählte immer kleine Titel. Zurückgelehnt begann sie, in die Zeilen und die Geschichte dahinter einzutauchen und sich in eine andere Welt ziehen zu lassen. Das Licht der Abendsonne fiel durch die hohen Halbbogenfenster mit den blaugrünen seidenen Schals und zauberte einen dünnen Fluss auf den Boden, der immer näher in ihre Richtung kroch. Amy vergaß ihre Mutter und die dunklen Gedanken in diesen Augenblicken. Schon allein deswegen mochte sie dieses Buch. Es war lange her, seit sie eines gelesen hatte. Meist schrieb sie, wenn sie Zeit hatte.
-10-
Durch das Fenster drang Tageslicht. Wenn auch nur für Sekunden durchbrach es die Dunkelheit, die in ihm wohnte. Ein dunkler Abgrund mit Mauern aus Beton. Keine Rose, nicht einmal Unkraut, würde hier Wurzeln schlagen können. Da war sich Holly sicher. Die Luft war stickig, schien immer dünner zu werden. Dünner als je zuvor. Liege ich schon im Sarg? Lebendig begraben mit gerade einmal fünfzig Jahren? Die Welt hinter der Scheibe schien ein eigenes Universum zu bilden, aus dem man sie ausgeschlossen hatte. Ihre Hände, dünn und blass, legten sich auf das kühle Glas. So sehr sie sich auch anstrengte. Die Fantasie war weg und damit die Welt hinter der Scheibe, die sie sich so oft erbaut hatte, um wenigstens in ihren Träumen ein Stück von ihr leben zu dürfen. Innerlich schrie sie einen Namen. Seinen Namen. Wieder und immer wieder. Matteo. Vor langer, langer Zeit, wie aus einem anderen Leben, hatte ihn der Wind mit sich genommen – unwiederbringlich, unwiderruflich, endgültig. In ein Land, das sie weder zu Fuß noch mit dem Flugzeug, Zug oder per Auto erreichen konnte. Er hatte gewollt, dass sie mit ihm zusammen aufbrechen würde, in die Freiheit. Nun blieb ihr nur die Hoffnung. Sie war ein kleines Samenkorn. Trotzdem wusste Holly, dass sie es in Wüstensand gepflanzt hatte. Dennoch war der Glaube an Wunder noch irgendwo vorhanden, wenn auch tief begraben unter einem Berg aus dunklen Erfahrungen. Sie hielt ihn fest, so fest sie nur konnte, als die Gedanken abermals zu fliegen begannen, durcheinanderschwirrten, bis ihr schwindlig wurde. Warum hat Harrison das getan? Mich hierher gebracht? In diesen Sarg voll gleißendem Licht, die Türen ohne Griffe, die Fenster vergittert, die Nähte geschweißt. Sie wusste, dass ihre Mutter dem ebenfalls zugestimmt, sie aufgegeben hatte, sich für sie schämte. Es stimmte nicht, was er ihr und sicher auch den Kindern erzählte: dass sie sich umbringen wollte. Nur war sie tatsächlich eine Gefangene, in sich selbst wie auch außerhalb. Aber nicht verrückt! Harrison hatte nicht einmal ein Abschiedswort gefunden, dafür böse Blicke, verachtende Blicke, höhnische Blicke. Sie war sich sicher, dass er sie hier allein lassen würde. Entsorgt wie eine alte Puppe.
„Dort bist du in Sicherheit. Vor dir selbst. Sei vernünftig, Holly“, hatte er noch gesagt.
„Erzählen Sie mir, wie Sie sich heute fühlen?“, fragte später die Ärztin, zu der man Holly schon ein paarmal gebracht hatte. Immer wieder wollte sie das Gleiche von ihr wissen. Sie arbeitete in der Klinik in Kensington. Holly hatte keine Ahnung, wie lange sie schon hier war. Alles erstickte in Monotonie, auch wenn die Flurwände der Klinik mit bunten Kunstdrucken übersät waren. Heuchelei. Aus manchen Zimmern drang ein dumpfes Wimmern, die Leute hier drin wirkten allesamt wie Schatten auf Holly. Des Öfteren verzerrte sich ihr Blick, und sie kam sich vor wie in einem endlosen Tunnel. Wahrscheinlich waren es die Medikamente, die man ihr regelrecht einflößte, seit sie sich das erste Mal dagegen gewehrt hatte, diese zu schlucken. Dazu hatte man sie mit Gurten an ihrem Bett fixiert, was sie in Tränen ausbrechen ließ. Eine weitere Erniedrigung in ihrem Leben, die sie nie vergessen würde.
„Das sagte ich Ihnen schon die letzten Male. Ausgeliefert. Ich will hier raus, ich gehöre hier nicht her. Meine Kinder wollen nicht mit mir telefonieren. Ich bin mir sicher, dass Harrison ihnen davon abrät, ihnen irgendetwas Verrücktes über mich, ihre Mutter, erzählt. Er sagt, ich wollte mich umbringen. Zum tausensten Mal, das stimmt nicht“, hörte Holly ihre eigene Stimme wie von weit her.
„Sie sind völlig durcheinander. Aggressivität bringt uns jedoch nicht weiter, liebe Mrs. Goodwin.“
Holly schluckte. Die wenigen Worte hatten sie angestrengt. Schon wieder fühlte sich ihre Kehle an wie ausgetrocknet. Hörte diese Frau mit der spitzen, langen Nase und dem runden Gesicht, das von schulterlangem schwarzem Haar umrahmt war, ihr überhaupt richtig zu?
„Ich bin nicht aggressiv. Hören Sie, ich will nach Hause. Wenn man es so nennen kann. Ich bin völlig normal. Was genau hat mein Mann denn erzählt?“
„Lassen Sie uns nicht über andere reden, Mrs. Goodwin. Sie sind wichtig! Also, wie fühlen Sie sich?“ Die Ärztin faltete die Hände auf der weißen Tischplatte und sah Holly mit großen braunen Augen an. Ihr Blick war stechend, fast hypnotisierend, weswegen Holly, die ihr gegenübersaß, ihm auswich.
„Müde“, antwortete sie resigniert.
„Verstehe“, gab die Frau zurück und tippte auf ihrer Computertastatur herum.
„Aber ich verstehe nicht. Das hier … mich wegzusperren ist eine Straftat. Man sollte meinen Mann hierherholen. Ich möchte mit ihm reden, ich muss.“ Holly erhob sich. Wie konnte diese Frau nur so ruhig bleiben? Die Ärztin hob den Blick, das Gesicht ohne Regung.
„Waren Sie nicht schon einmal vor Jahren in einer ähnlichen Klinik? Hat es Ihnen damals nicht geholfen? Ihr Mann sagte ja.“
„Was hat das jetzt damit zu tun?“
„Ganz ruhig. Setzen Sie sich. Erzählen Sie mir …“, sagte sie in dem gewohnt ruhigen Ton, der Holly an Harrison erinnerte. Er schimpfte selten laut, oft nur so, dass sie es hören konnte.
„Das ist ein einziger Albtraum“, rief Holly und fasste sich mit beiden Händen in die Haare, um daran zu ziehen. Der Schmerz erinnerte sie daran, dass sie überhaupt noch lebte. Das und diese unfassbare Grausamkeit, die schlimmer war als jede körperliche Folter dieser Welt. Denn niemand, so hatte es den Anschein, wollte ihr helfen. Steckten sie etwa alle mit ihrem Mann unter einer Decke?
„Ein Albtraum, den Sie sich selbst erschaffen haben. Ihr Mann hat ihren Abschiedsbrief gefunden. Können Sie sich nicht vorstellen, dass er und Ihre Söhne nur das Beste für Sie wollen? Deshalb sind Sie nun hier“, ergänzte die Ärztin und tippte erneut etwas in den Computer.
Starr blickte Holly sie an und dann auf den Brief, den sie erst vor Kurzem geschrieben hatte. Ein Brief an Matteo. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen. Der letzte Satz des Briefs fehlte. Er war einfach abgeschnitten worden. Natürlich! Harrison wusste genau, was er tat.
„Ich hätte es wagen sollen. Damals“, sinnierte Holly laut.
„Was meinen Sie?“, wollte die Ärztin wissen.
„Auszubrechen“, entgegnete Holly leise und ließ sich kraftlos zurück auf den Stuhl sinken, denn sie ahnte, dass sie hierbleiben würde, vielleicht sogar bis zum Ende ihres Lebens. Eine innere Stimme sagte ihr deutlich, dass Harrison und auch ihre Mutter schon dafür sorgen würden.