Читать книгу Aurora Sea - Das Geheimnis des Meeres - Nadine Stenglein - Страница 10

Last Lullaby

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Haley wollte einen letzten Beweis. Und als Jamie mir eine neue Nachricht schickte, leitete ich diese, ohne zu zögern, an sie weiter.

Komm Sonntag zur Mittagsstunde zum Strand und bring meine Schwester mit. Die Merbies werden für euch singen. Zwar sind sie traurig und werden schwächer, weil die Avarthos ihnen immer mehr Kraft rauben, aber sie werden so laut singen, wie sie nur können.

Avarthos und Merbies? Was oder wer waren das, und warum konnte ich Jamie einfach nicht erreichen? Nicht mal just in der Sekunde, als die Nachricht einging, ließ sich eine Verbindung aufbauen.

Haley empfing mich mit leuchtenden Augen, auch wenn darunter dunkle Halbmonde hingen und ihr Gesicht aufgedunsen wirkte.

Es waren noch zwei Stunden bis zwölf Uhr, dennoch wollte sie, dass ich sie sofort abhole. Ich war ihr dankbar dafür, denn zu Hause malträtierten mich meine Gedanken regelrecht. Ich konnte mir vorstellen, dass es ihr nicht anders ging. Als ich bei ihr ankam, empfing sie mich mit einer innigen Umarmung. Schweiß perlte auf ihrer Stirn.

»Wie geht es dir?«, wollte ich von ihr wissen.

Sie winkte ab. »Mach dir keine Sorgen um mich. Ich komm klar. Mein Gott, Emma. Ich bin ja so gespannt. Was steckt nur hinter dem Ganzen? Vielleicht leben sie wirklich noch«, rief Haley und winkte mich mit sich in die Wohnung. Sie wirkte müder als bei meinem letzten Besuch.

»Tut mir leid, dass ich den letzten Besuch so abrupt abgebrochen hab. Ich musste einfach allein sein und in Ruhe über alles nachdenken«, erklärte sie beim Hineingehen.

Ich lächelte verständnisvoll.

»Du bist mir nicht böse, dass ich dich sozusagen rausgeworfen habe?«, fragte sie.

Ich verneinte. Zu gern hätte ich gewusst, ob sie Jamie nun verziehen hatte und was vorgefallen war, dass die beiden so zerstritten waren. Aber ich wollte nicht neugierig erscheinen und ihr Zeit lassen.

Sie strahlte mich an und zog mich dann mit sich. »Komm! Ich bin sicher, du willst wissen, wie Jamie aussieht.«

Und ob ich das wollte. Gespannt ging ich mit ihr Richtung Wohnzimmer. Sie blieb vor einem Sideboard stehen und nahm eines der dort aufgestellten gerahmten Fotos. Mir blieb vor Aufregung ein wenig die Luft weg.

»Das ist er, Jamie«, sagte sie und reichte mir den Bilderrahmen. Es war ein Porträtfoto von ihm. Jamie hatte weiche Gesichtszüge und blaue Augen, in denen sich Haley spiegelte.

»Ich hab das Foto vor ungefähr zwei Jahren aufgenommen. Es war ein Geschenk für unsere Eltern zu Weihnachten.« Haley machte eine kleine Pause. »Also, für ihre Gräber.«

Wir sahen uns einen Moment schweigend an.

»Jamie sieht aus wie James Dean. Nur mit dunklem Haar«, stellte ich fest. Das tat er meiner Meinung nach wirklich. Besonders seine Augen, das Weiche und Geheimnisvolle in ihnen, zog mich sofort an. Haleys Stimme wurde leiser, als sie mir von dem Autounfall ihrer Eltern erzählte.

»Da wir noch nicht volljährig waren, steckte man uns in ein Heim. Meine Eltern kamen ursprünglich aus Amerika, aber da hatten wir keine Verwandten mehr. Jahre vor dem Unfall zogen meine Eltern mit uns von Ohio nach Berlin, weil mein Vater dort einen besseren Job als Industriemechaniker angeboten bekam. Meine Mom war Hausfrau mit Leib und Seele. Sie träumte gern und oft, wie Jamie. Wir hatten das Nötigste und das reichte uns. Aber Jamie kam mit dem Heimleben nicht klar. Er weigerte sich, die strengen Regeln zu befolgen, und bekam immer mehr Ärger mit der Heimleitung. Nach einem Riesenkrach legte er sich auch mit mir an.« Haley seufzte, bevor sie fortfuhr. »Dabei rutschte ihm heraus, dass alles, was passiert war, im Grunde meine Schuld gewesen sei, weil … weil Mom und Dad den Unfall hatten, als … als sie mich von einer Feier mit Freunden abholen wollten, auf die ich unbedingt gehen wollte.« Sie stützte sich am Sideboard ab. Ich wollte etwas sagen, ihr beistehen, irgendetwas tun, das ihr half, aber im Moment wusste ich nicht, was.

»Er ist einfach aus dem Heim abgehauen, und als sie ihn zurückbrachten, wollte er mich nicht mehr sehen und ich ihn auch nicht. Ich wechselte das Heim, und als wir endlich volljährig waren, ging jeder seinen eigenen Weg. Wie ich einmal hörte, wollte er irgendetwas mit Meeresforschung machen. Das Meer liebte er ja schon immer, besonders das Tauchen. Jamie war ein richtiger Abenteuerfreak. Er konnte einem damit echt auf die Nerven gehen. Eine Freundin von mir hat ihm später von meiner Krankheit erzählt. Er hat versucht, mich zu erreichen, aber das wollte ich nicht. Du siehst, wir sind beide ziemliche Sturköpfe.«

Ihre Geschichte rührte mich zutiefst. Krampfhaft hielt ich den Bilderrahmen mit meinen Händen umfasst.

Haley fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Ich habe meinen Eltern damals gesagt, dass ich mit dem Bus nach Hause fahren würde. Sie aber fanden es besser, mich abzuholen. Sie waren nicht davon abzubringen. Ich wollte doch nicht, dass das passiert.«

»Natürlich nicht«, erwiderte ich und legte einen Arm um sie.

Sie schenkte mir ein angedeutetes Lächeln. Dann betrachteten wir das Foto gemeinsam.

»Ich kenn ihn zwar nur durch seine SMS, aber ich glaube, dass er wirklich bereut, was er damals gesagt hat. In der Verzweiflung sagt man oft dumme Dinge«, sagte ich, woraufhin Haley nickte. Sie nahm das Foto und stellte es zurück. Danach griff sie nach einem weiteren Rahmen, den sie mir reichte.

»Das sind wir mit meinen Eltern«, erklärte sie mit zittriger Stimme und entfernte sich dabei ein paar Schritte. Ich war sicher, dass sie weinte, es vor mir aber nicht zeigen wollte. Das Paar auf dem Foto sah nett aus, und zusammen mit Jamie und Haley lächelten sie um die Wette, während diese auf dem Bild zwei Luftballons steigen ließen.

»Sag ihm … sag ihm, dass ich ihn liebe, wenn du ihn siehst. Finde ihn für mich, Emma. Bitte!«

Ich drehte mich zu ihr um. Sie starrte mich an, ein paar Tränen spiegelten sich in ihren Augen.

»Wenn es dir besser geht, dann könnten wir doch …«, wollte ich vorschlagen.

Doch bevor ich den Satz beenden konnte, schüttelte sie den Kopf.

»Oh!«, bemerkte ich daraufhin leise und stellte das Bild vorsichtig an seinen alten Platz. Haley kam auf mich zu. Erneut sahen wir gemeinsam auf die Bilder.

»Die Ärzte geben mir nur noch wenig Zeit. Normalerweise hätte ich im Krankenhaus bleiben müssen. Das will ich aber nicht«, sagte sie leise.

Meine Kopfhaut begann zu prickeln, mein Magen verkrampfte sich. „Gibt es denn gar keine Hoffnung, dass du wieder gesund wirst? «

Haley schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hab mich damit abgefunden. Ich hoffe nur, dass ich meine Eltern dann wiedersehen darf. Ich glaube fest daran. Das gibt mir Kraft und Mut. Mein letzter Wunsch wäre, dass ich mich noch mit Jamie versöhnen kann, bevor … bevor ich gehen muss.“

Sie senkte den Kopf, ihre letzten Worte klangen erstickt. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus und ein Kloß schob sich mir in die Kehle.

Ich hoffte mit ihr. So sehr!

Auf dem Weg zum Strand beschloss ich, ihr zu erklären, was es mit Jamies Nachricht auf sich hatte. Ich erzählte ihr von dem Gesang, den ich bisher gehört hatte.

Gebannt lauschte sie, und ich fühlte, dass sie mir glaubte. Jedes Wort! Es tat unglaublich gut. Ich hatte nicht nur Jamies Schwester, sondern auch eine gute Freundin gefunden. Obwohl wir uns erst kurz kannten, war da eine tiefe Verbindung zwischen uns, die dieses Gefühl möglich machte.

Sanft rollten die Wellen an den Strand, und auch wenn uns etwas kalt war, zogen wir unsere Schuhe aus und ließen das Wasser unsere Füße umspielen. Haley nahm meine Hand und schloss die Augen. Ich tat es ihr nach, und wir lauschten. Erst nach einer Weile hörten wir es.

Die Wellen trugen uns eine zarte Melodie entgegen, die mein Herz berührte. Sie wirkte tatsächlich schwächer als bei den letzten Malen, dennoch war sie klar genug.

»Ich kann es hören. Oh mein Gott, ich kann es wirklich hören. Du auch?«, fragte Haley aufgeregt.

Ich musste lächeln. »Ja.«

Haley begann mitzusummen. »Erkennst du es? Es ist Moon River. Das Lieblingslied meiner Mutter«, flüsterte sie und drückte meine Hand fester.

Sie hatte recht, es war Moon River. Ich war so glücklich, dass ich am liebsten die ganze Welt umarmt hätte.

»Er hat die Wahrheit geschrieben, Emma. Mein Gott, er hat die Wahrheit geschrieben«, stieß Haley aus und ließ meine Hand los, woraufhin ich die Augen aufriss.

Ohne sich noch einmal umzudrehen rannte sie ins Wasser. Dabei rief sie immer wieder den Namen ihres Bruders. Sofort erinnerte ich mich an seine Warnung.

»Komm zurück, Haley!«, bat ich sie inständig.

Aber sie schien mich nicht zu hören – oder sie wollte es nicht. Die Stimmen verebbten, die Wellen wurden intensiver.

»Haley, bitte!«

Doch sie dachte nicht daran und ließ sich in die kalten Fluten fallen. »Wo bist du? Wo, Jamie?«, hörte ich sie rufen. »Ich bin hier, Jamie. Mit Emma. Wir glauben dir. Ich glaube dir. Hörst du? Antworte mir, wenn du mich hörst.«

Auch wenn ich ihr Tun verstehen konnte, ich musste sie sofort zurück an Land bringen. Außerdem war das Wasser viel zu kalt, und wer wusste schon, was sich darin verbarg.

Ich fingerte nach dem Handy in meiner Jackentasche und warf es in den Sand. Dann rannte ich los.

Mein Herz begann zu stechen, als mich das kühle Nass umgab und ich nach Haleys rechtem Oberarm griff, um sie zurückzuziehen. Sie wehrte sich, war wie im Fieber.

»Jamie sagte, ich soll mich vom Meer fernhalten, Haley.«

Sie entriss sich meiner Umklammerung, da spürte ich, wie etwas mein Bein streifte und es gleich darauf fest umklammerte. Ich stieß einen heiseren Schrei aus, der Haley innehalten ließ.

Erschrocken starrte sie mich an. Ich sah ihre Lippenbewegungen, doch ich konnte sie nicht mehr verstehen. Mit festem Griff wurde ich unter Wasser gezogen. Strampelnd und mit fest zusammengepressten Lippen versuchte ich mich loszureißen und zurück an die Oberfläche zu gelangen.

Auch wenn das Wasser höllisch in meinen Augen brannte, wollte ich sie offen halten, um zu erkennen, was um mich herum geschah. Doch das aufwirbelnde Wasser ließ mich nichts weiter erkennen als zigtausend kleiner Perlen, die wild um mich herumschwirrten.

Die Luft wurde knapper. Panik, Todesangst, tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Jamie hatte verdammt recht mit seiner Warnung. War ich gerade in den Fängen jenen Ungeheuers geraten, von dem die Fischer erzählt hatten? Und was war mit Haley? Jemand zerrte an meinen Schultern und meinem Haar. In meiner Verzweiflung und Angst spürte ich den Schmerz kaum.

Von irgendwoher hörte ich dumpfe Schreie zu mir nach unten dringen. Ich war sicher, dass es Haley war. Mit letzter Kraft bewegte ich meine Beine, trat ins Nichts. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft hatte, aber Sekunden später tauchte ich auf. Verzweifelt rang ich nach Atem, ließ den Sauerstoff in meine Kehle strömen, während Haley mich keuchend an den Strand zerrte.

Immer wieder holte sie Luft und hustete zwischendurch. Wir ließen uns rücklings in den Sand fallen. Ich rang nach Atem, die Umgebung schien sich zu drehen.

»Ich habe es gesehen«, stammelte Haley.

Ich neigte den Kopf in ihre Richtung. Nur langsam schärfte sich mein Blick wieder.

»Es hatte die Haut eines Fisches, Schuppen und die Zähne eines Tigers. Ich hab ihm mit einem Fuß zwischen die Beine getreten, da hat er losgelassen. Ich träume doch nicht? Meine Güte, Emma … Die Fischer haben die Wahrheit gesagt.«

Mich schauderte. Ein Adrenalinschub schoss durch meine Adern. Wir robbten gleichzeitig ein paar Meter zurück und zogen uns gegenseitig auf die Beine.

»Bist du sicher?«, fragte ich.

»Absolut! Es hat große schwarze Pupillen um die sich ein Regenbogen zu ziehen scheint. Es starrte mich an, nur für einen Augenblick. Ein gieriger, eindringlicher, feindseliger Blick war das. Gott!«

Ich kannte Haley bereits so gut, dass ich mir sicher war, dass sie die Wahrheit sagte und keine Scherze in der Art machte.

»Wir müssen Jamie finden. Wo hast du das Handy? Wir müssen unbedingt weiter versuchen, ihn zu erreichen. Vielleicht hat er auch schon wieder geschrieben, Emma.«

Ich sah mich um. Das Handy lag noch da, wo ich es vorhin hingeworfen hatte. Haley begann wieder zu husten, während ich es aufhob. Tatsächlich vermeldete es eine eingehende Nachricht von Jamie. Mit zittrigen Fingern öffnete ich sie. Haley las mit.

Ist alles okay bei euch? Den Merbies nach ist etwas schiefgelaufen. Sie deuteten an, dass ihr am Strand wart und sie gehört habt, aber dass dann etwas passiert sei. Bitte antwortet mir.

Ich versuchte es. Dabei zitterte ich so sehr, dass es mir nur schwer gelang die richtigen Tasten zu drücken. Nach ein paar Versuchen mussten wir einsehen, dass es wieder einmal nichts brachte. Jamie war unerreichbar. Verzweifelt schauten wir aufs Meer hinaus, das sich langsam beruhigte.

»Was sollen wir nur tun?«, fragte Haley und musste erneut husten.

»Ich fürchte, im Moment können wir nur abwarten.«

»Auf was warten? Das alles ist wahr, mein Bruder, deine Eltern … sie brauchen Hilfe!« Tränen schossen ihr in die Augen.

»Ja, aber … ich weiß doch auch nicht. Ich hoffe, Jamie schreibt mir, was ich tun soll«, antwortete ich ähnlich verzweifelt. Ich betete, dass es so kommen würde.

Haley fiel es zunehmend schwerer Luft zu bekommen. Ich machte mir ernsthaft Sorgen um sie.

»Komm. Du wirst dich erkälten, wenn wir länger hier draußen bleiben. Du bist völlig durchnässt. Von hier aus ist es nicht weit bis zum Haus meiner Tante.«

Erst wehrte sie sich, sich vom Platz zu rühren. Doch nach einem weiteren Hustenanfall änderte sie ihre Meinung, wenn auch merklich widerwillig.

Aurora Sea - Das Geheimnis des Meeres

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