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Todeskampf

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Auf dem Nachhauseweg musste ich dennoch wieder an die Kurznachrichten denken, die ich von dem Unbekannten erhalten hatte. Was, wenn doch etwas dran war? Wenn es stimmte und er wirklich …?

Ich seufzte und musste den Kopf über mich selbst schütteln. Nein, wahrscheinlich hatte Mel recht. Ich ging ein wenig schneller, weil ich fror und ich mich nach Tante Tillis Gesellschaft sehnte. Ihre Gegenwart war für mich gleich einer wohlig warmen Decke, die mir Schutz bot vor den Widrigkeiten des Schicksals; weil sie die Einzige war, die meine innere Traurigkeit am besten auffangen konnte.

Wenig später konnte ich bereits das Reetdach unseres Hauses hinter den Dünenhügeln aufblitzen sehen.

In meiner Anfangszeit auf Sylt hatte ich den lauten Atem meiner alten Heimatstadt Bedfords vermisst, der hektisch durch die Straßen pulsierte und nie verebbte. Mit der Zeit jedoch hatte ich den Ort meiner Kindheit beinahe vergessen und die Freiheit lieben gelernt, die mir die Insel bot.

Plötzlich hörte ich den Klingelton meines Handys – ein James-Blunt-Song. Hatte ich es nicht abgeschaltet? Mein Herz begann wild zu pochen, als ich danach griff, es herauszog und einen Blick auf das Display warf. Mr. Unbekannt hatte mir geschrieben.

Langsam wurde das Ganze mehr als unheimlich. Für einen Augenblick überlegte ich die Nachricht zu ignorieren, entschied mich letztendlich aber dagegen und las sie.

Keine Antwort von dir. Ich kann es dir nicht verdenken. Doch geh an den Strand und lausche den Wellen. Deine Mutter hat sie gebeten, dir das Lied zu schicken, das sie dir oft vor dem Schlafengehen vorgesungen hat. Hin und wieder habt ihr es auch gemeinsam gesungen. Und die Stimmen hast du sicher schon gehört. Ich bat sie zu singen, wenn sie dich am Strand wahrnehmen. Bitte, Emma! Vertrau mir. Wir sind noch da! Gib uns nicht auf! Ich weiß, dass das alles schwer zu glauben ist. Ich kann nicht mehr schreiben. Wenn sie es entdecken – nicht auszudenken. J.

Meine Schläfen schienen einen Wettkampf mit meinem Herzschlag auszufechten. Ein weiteres Mal las ich die Nachricht. Konnte Piet sich so etwas wirklich ausdenken? Und woher sollte er wissen, dass ich manchmal einen Gesang zwischen den Meereswellen hörte? Und wer um alles in der Welt waren »sie«, wem gehörten diese Stimmen? Oder hatte dieser Jamie das mit den Stimmen am Ende gar selbst inszeniert?

Mit einem Mal war die Kälte, die mich bis dahin eingehüllt hatte, verschwunden, und ich begann zu rennen. Auf dem Weg zum Strand flogen meine Füße beinahe über den Kiesweg.

Irrsinn oder nicht, ich musste wissen, ob es stimmte. Lebten Mom und Paps etwa noch? Waren sie Gefangene – irgendwo? Neue Hoffnung tat sich auf, und ich schwor, würde sich doch ein Scherz hinter allem verbergen, würde ich denjenigen finden und ihm eine gehörige Lektion erteilen.

Luft holend hielt ich dicht am Strand inne und starrte aufs Meer hinaus. Sanfte Wellen rollten heran, es war fast windstill. Himmel und Wasser verschmolzen miteinander, sie hatten an diesem Tag die gleiche zartblaue Farbe.

Ich schloss die Lider und lauschte. Eine Minute, zwei Minuten, drei Minuten. Nichts Ungewöhnliches war zu hören. Dennoch harrte ich voller Hoffnung weiter aus.

»Da bist du ja wieder, Schatz.«

Ich drehte mich um und entdeckte meine Tante auf der Veranda.

»Ich komme gleich«, antwortete ich. Tilli nickte und ging ins Haus. Auch ich wollte gerade den Rückzug antreten, da erklang es. Erst leise, dann immer lauter. Ein helles Summen, so schön, dass mir Tränen in die Augen stiegen.

Ich kannte die Melodie. Sie gehörte tatsächlich zu dem Lied, das meine Mutter und ich meistens beim Zubettgehen zusammen gesungen hatten, als ich noch ein kleines Mädchen war. Mom liebte meine Stimme, wenngleich ich sie wenig besonders fand. Aber es machte mir immer Spaß, mit ihr im Duett zu singen. Manchmal sang ich auch allein vor mich hin, am liebsten, wenn ich am Strand entlangspazierte.

Bilder aus längst vergangener Zeit stiegen in mir auf. Ich sah Mom direkt vor mir, ihre glänzenden, großen Augen, mit denen sie mich ansah. Ich glaubte sogar ihr Parfum zu riechen. Sie duftete immer nach Veilchen und Vanille.

Der Gesang nahm mich gefangen, und ich begann das Lied von damals leise vor mich hin zu singen.

Am Himmel so klar, siehst du leuchtende Sterne.

Die Nacht ist da, legt sich wie ein Flügelschlag über die Meere.

Und wenn du öffnest die Lider dein,

dann sieh nur hin, in ihr glänzendes Sein.

Vertreiben die Schatten, weisen dir eine Tür.

Geh getrost hindurch, ich bin bei dir.

Immer nah, immer hier.

Getragen auf Wolken in ein Land voller Träume,

beschützt von den Dächern wilder Bäume.

Keine Angst, geh weiter Schritt für Schritt,

hier gibt es keine Grenzen, keine Zäune, nur Licht.

Mein Herzschlag führt dich, ist wie ein Stern.

Er leuchtet für dich, egal, ob wir uns nah oder fern.

Ich kann dich immer sehn, glaub an dich,

dann wird die Hoffnung nie vergehn, niemals vergehn.

Jetzt träume süß und morgen früh im Morgenglanz weck ich dich wieder hier.

Dann schau übers Meer, siehst glitzernd die Sonne stehn.

Und die Schatten der Nacht im Meer untergehn,

während die letzten Ängste mit der Gischt verwehn.

Danach hatte sie mir immer einen Kuss aufs Haar gehaucht, das Licht gelöscht und mir noch einmal gesagt, wie lieb sie und Paps mich hatten. Dieses Lied kannte keiner außerhalb unserer Familie. Da war ich mir absolut sicher. Meistens, bevor Mom die Tür meines Zimmers geschlossen hatte, warf auch mein Vater noch einen Blick zu mir herein und wünschte mir eine gute Nacht und vor allem schöne Träume.

Tiefer und tiefer sank ich in die Vergangenheit, und es war mir, als spürte ich die ganze Liebe und Wärme meiner Eltern auf einmal um mich herum. Die Sehnsucht nach ihnen war größer als das Universum, größer als jede Vorstellung.

Erst das Surren des Handys riss mich aus meiner Gedankenwelt. Mein Herz machte einen Satz. Eine neue Nachricht von Jamie. Meine Hände waren ganz feucht vor Aufregung.

Der Gesang erlosch.

Hast du es gehört? Es ist wahr, was ich dir schreibe. Und bitte – halt dich vom Meer fern, geh nicht hinein, Emma! Ich melde mich bald wieder.

In mir tobte ein Orkan, der meinen Verstand völlig durcheinanderfegte. Das Ganze war real, ich hatte den vorhergesagten Gesang wirklich gehört, und langsam änderte sich meine Meinung. Das alles konnte kein Scherz sein. Vor innerem Aufruhr schaffte ich es kaum, Jamies Nummer für einen Rückruf zu aktivieren.

Verdammt, ich musste mit ihm sprechen. Es war zum Verrücktwerden – die Verbindung schlug abermals fehl.

Wieder und wieder probierte ich eine Verbindung herzustellen – ohne Erfolg. Das durfte doch nicht wahr sein!

Ich ließ das Handy sinken und schrie voller Verzweiflung aufs Meer hinaus: »Dann sagt mir, wo ihr seid. Bitte! Wie kann ich euch helfen, wenn ich euch nicht erreichen kann?«

Ich rief mir jedes Wort, das Jamie mir bisher geschrieben hatte, in Erinnerung. Es waren Worte, in denen ich große Angst und Verzweiflung wahrnahm. Einfach hier zu stehen und nichts tun zu können, außer abzuwarten, machte mich beinahe wahnsinnig.

Aber ich sollte mich vom Meer fernhalten. Warum? Hatte meine innere Stimme recht? Gab es da draußen etwas, das mir meine Eltern gestohlen hatte? Wenn dem wirklich so war, wer oder was verbarg sich dahinter?

Ich steckte das Handy ein, da hörte ich im Hintergrund Tillis Stimme. Sie kam auf die Veranda gelaufen.

»Meine Güte, Georg. Du siehst ja schrecklich aus. Was ist denn passiert?«

Augenblicklich drehte ich mich zu ihr um. Georg stieg in gebeugter Haltung die Treppe zur Veranda hoch, auf der meine Tante weilte. Ich hatte ihn gar nicht kommen sehen, war zu sehr aufs Meer fixiert gewesen. Tilli streckte ihm die Hand entgegen, denn er schien jede Sekunde in sich zusammenzusacken. Ich rannte auf beide zu. Georg sank auf die Knie und presste sich eine Hand gegen den Brustkorb, als ich bei ihnen ankam. Er rang nach Luft. Sein wettergegerbtes Gesicht war aschfahl, und auf seiner Stirn glänzte Schweiß.

Tilli und ich tauschten entsetzte Blicke. Gemeinsam zogen wir ihn hoch und brachten ihn ins Haus. Vielleicht hatte er einen Herzanfall. Das Adrenalin jagte noch schneller als vorhin durch meine Adern. Innerlich betete ich für Georg. Ich mochte ihn, auch wenn seine Art manchmal so rau war wie das Wattenmeer.

»Ich konnte ihnen nicht helfen. Verdammt noch mal«, stammelte Georg, als wir ihn auf Tillis giftgrüne Samtcouch hievten. Noch nie hatte ich ihn so aufgewühlt gesehen.

Er griff nach Mathildas Händen und drückte sie fest. Dabei zitterte er am ganzen Leib.

»Beruhige dich, Georg. Was ist denn passiert?«, fragte sie ihn. Inzwischen glich ihre Gesichtsfarbe der von Georg, der nach Krabben und Seetang roch. Er trug noch immer seine Fischerkluft. Da draußen musste etwas Schreckliches geschehen sein. Ein mehr als ungutes Gefühl durchzog meinen Magen und ließ ihn grummeln.

Georg schnappte nach Luft, als wäre er gerade aus den Tiefen des Meeres getaucht, und riss die Augen auf. In ihnen lag ein Ausdruck, der mich frösteln ließ. Pures Entsetzen! Keuchend setzte er sich auf und wir uns zu ihm.

»Wir waren mit dem Kutter und einem kleineren Boot draußen. Lief erst alles wie immer“, erzählte er ein wenig abgehackt. „Dann plötzlich ein Geschrei von Olles Boot aus, das mir bis ins Knochenmark fuhr. Er, Sören und Benedict waren circa zweihundert Meter von meinem Kutter entfernt. Sie wollten die Netze prüfen, weil sich irgendwas Größeres drin verheddert zu haben schien.«

Er holte abermals Luft, und zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, sah ich, wie ihm Tränen in die Augen stiegen.

Für einen Moment ließ er Tillis Hand los und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Dann suchte er erneut eine ihrer Hände. Gebannt hingen wir beide an Georgs bebenden Lippen.

»Das Boot begann zu schaukeln wie bei hohem Wellengang. Die Jungs beugten sich über den Bootsrand. Sie schrien durcheinander. Ich verstand nur, dass sie einander zuriefen, man müsse es töten. Ich machte mich sofort auf den Weg zu ihnen, doch der Kutter sprang erst nach ein paar Versuchen wieder an. Verdammtes Ding!«

Für einen Augenblick biss er die Zähne wütend zusammen und riss die Augen weit auf.

»Ich sag euch, was dann geschah, war so grauenhaft. Sören griff nach einer Harpune. Ich sah, dass erst Benedict und gleich darauf Olle über Bord gingen. Das Wasser um das Boot herum schäumte nur so. Sie kämpften dort mit irgendwas. Ich werde ihre Schreie nie vergessen. Gott, es war, als hätte sich die Hölle unter dem Meer aufgetan.«

Er wischte sich mit einer Hand über das Gesicht. »Sören beugte sich über den Rand des Bootes und stieß mit der Harpune zu.« Er ahmte die Bewegungen ein paar Mal mit einem Arm nach. »Wieder und immer wieder. Wie ein Wahnsinniger.«

Mathilda und ich waren wie erstarrt. Das alles klang wie aus einem Horrorfilm. Georgs Stimme wurde immer undeutlicher. Es fiel ihm schwer, noch Worte über die Lippen zu bekommen.

»Dann wurde das Wasser ums Boot herum rot. Ich hörte ein Quietschen, das mir in den Ohren wehtat. Von Olle und Ben war nichts mehr zu sehen. Etwas schien sie nach unten gezogen zu haben. Sören rief, da sei noch so ein Ding, und stieß mit letzter Kraft die Harpune erneut ins Wasser. Als ich ankam, rettete sich Sören sofort auf den Kutter.«

Georg drehte den Kopf zur Seite. »Mein Gott!«

»Mein Gott!«, wiederholte meine Tante seine Worte wie in Trance.

»Benedict und Olle … Sie tauchten auf einmal wieder auf. Rücklings im Wasser treibend, die Augen weit aufgerissen. Sie lebten noch«, murmelte Georg dann.

»Gott sei Dank«, stieß Tilli aus und presste eine Hand gegen den Brustkorb, doch Georg schüttelte den Kopf und sah sie an. Ich schlug eine Hand vor den Mund.

Ich kannte Olle und Benedict seit Jahren. Sie gehörten zu Tinnum wie die Fische zum Meer. Zwei muskelbepackte, gesunde Männer, Mitte fünfzig, verheiratet und Väter von Jungs. Waren sie nun etwa tot? Ich musste schlucken, doch der Kloß, der in meinem Hals steckte, ließ sich nicht vertreiben.

»Ihre Leiber waren brutal zugerichtet. Ich möchte nicht ins Detail gehen. Ich … werde den Anblick mein Lebtag nicht vergessen können. Meine Freunde, getötet von einer Bestie.« Er ließ Tillis Hand los und hieb sie zur Faust geballt in die Luft. »Ich werde diesen Bastard finden, und dann gnade ihm Gott!«

»Was war es … dieses Ding?«, fragte ich. Georgs glasige Augen richteten sich auf mich.

»Sören sagte, dass es aussah wie ein großer Mensch, nur mit der Haut eines Fisches, schwarzen Augen und vielen kleinen spitzen Zähnen.«

Augenblicklich wich meine Tante ein Stück zurück. »Willst du etwa sagen, da draußen gibt es sie tatsächlich … Meermänner? Das sind doch nur alte Legenden.«

Georg fixierte sie. »Bei allem, was mir heilig ist, Tilli, ich schwöre, da war etwas! Etwas Unmenschliches. Ich selbst hab es nicht gesehen, aber ich glaube Sören.« Georg klang völlig überzeugt von dem, was er da sagte. Gepaart mit Jamies Nachrichten ergab das alles auf einmal einen schrecklichen Sinn. Es schien wahr zu sein.

»Sören ist sich sicher, es sind zwei gewesen. Das zweite Wesen war ein wenig kleiner. Er zog den, der die Jungs angefallen hat, weg und verschwand mit ihm in den Tiefen. Sören glaubt fest, dass er ihn getroffen hat. Aber wohl nicht tödlich.«

Mathilda schwieg. Ich konnte ihre Gedanken beinahe rattern hören und wusste, dass sie nicht an die alten Legenden von Meereswesen glaubte. In dem Moment beschloss ich die Sache mit Jamie vorerst für mich zu behalten.

»Wie dem auch sei. Ich akzeptiere, was du sagst. Ich weiß, dass du kein, na, wie soll ich sagen …«, sagte meine Tante nach einer Minute.

»… Irrer bist. Nein, bin ich nicht«, ergänzte Georg ein wenig beleidigt.

Mathilda strich ihm zur Besänftigung durchs Haar, was ihm sichtlich guttat. Er konnte ihr nie wirklich böse sein.

»Sag doch, was ist mit Ben und Olle?«, wollte sie wissen. Ihre Stimme zitterte leicht. Ich schloss die Augen, weil ich die Antwort ahnte, die dann auch prompt und unveränderbar über Georgs Lippen kam.

»Die Jungs … sie sind tot.«

»Oh Gott, nein!«, flüsterte Mathilda.

Mir wurde eiskalt und übel zugleich.

Georg nickte betreten. »Wir haben sie notdürftig versorgt und sofort an Land gebracht. Kurz vor ihrem Tod haben sie uns gebeten, das Ding zu jagen und zu fangen, um andere zu schützen. Wir haben es ihnen versprochen. Ich werde diese Bastarde finden und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Ich weiß, dass einige hier uns nicht glauben werden. Schon allein, weil sie wissen, dass Sören, Ben und Olle gerne mal ein Bier getrunken haben, wenn wir draußen waren. Aber sie waren nüchtern. Es stimmt, was meine Jungs sagten.«

Er richtete sich auf, immer noch kreidebleich. Seine Augen glänzten nun wie im Fieber.

»Ich glaub dir«, stotterte ich leise.

»Ich glaub dir auch. Jedenfalls, dass du es glaubst«, bemerkte Tilli.

Georg klopfte mir auf die Schulter.

»Am besten, ihr meidet das Meer in nächster Zeit.«

Mathilda erhob sich und ging ans Fenster. »Es ist so schrecklich. Es waren gute Männer. Wenn ich an ihre Frauen denke … und die Kinder.«

Georg nickte und wirkte plötzlich in sich selbst versunken. Wir alle hingen eine ganze Weile schweigend unseren Gedanken nach, zu unbegreiflich schien das Ganze.

Aurora Sea - Das Geheimnis des Meeres

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