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Haley

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Der Garten war mit einem weißen Holzzaun umgeben, der mir bis zu den Schultern reichte. Mit den Händen umgriff ich die oberste Latte des Zaunes so fest, dass die Knöchel meiner Finger weiß hervortraten. Ein paar Meter entfernt lag jemand auf einem Liegestuhl.

Von hier aus konnte ich nicht erkennen, ob es eine Frau oder ein Mann war. Ich fasste all meinen Mut zusammen und sagte: »Entschuldigen Sie die Störung. Ich suche Haley McCann. Können Sie mir vielleicht weiterhelfen?«

Angespannt und voller Erwartung auf eine Antwort biss ich mir auf die Unterlippe. Zu meiner Erleichterung rührte sich die Person auf der Liege und antwortete: »Dann hat Ihre Suche jetzt ein Ende. Ich bin Haley.«

Erstaunt hielt ich die Luft an, als Haley sich langsam erhob. Sie schlang eine Decke um ihren dünnen Körper und rückte die grüne Wollmütze, die sie auf dem Kopf trug, etwas nach hinten. Daraufhin warf sie mir einen fragenden Blick zu. Ich hatte sie tatsächlich gefunden. Ich hob grüßend eine Hand und setzte zu einem Lächeln an.

»Hallo. Ich … ich hab eine wichtige Nachricht für Sie, Haley McCann.«

Meine Stimme klang, als gehöre sie nicht zu mir, als hätte da gerade jemand anderes gesprochen. Mein Gefühl jedoch sagte weiterhin, dass es richtig war, was ich hier tat. Ich versuchte zu helfen, nichts weiter. Daraus konnte mir niemand einen Vorwurf machen. Viel schlimmer und zudem egoistisch wäre es doch gewesen, wenn ich es nicht versucht hätte.

Die junge Frau war schätzungsweise in meinem Alter. Ihre Wangen waren ein wenig eingefallen, ihre Haut wirkte gelblich. Trotzdem fand ich sie hübsch. Das leuchtende Grün ihrer Augen überstrahlte die Zeichen der Krankheit.

Mich musternd kam sie an den Zaun. Ich atmete langsam aus und sagte dann: »Jamie schickt mich!« Haley kräuselte ihre glänzende Stirn, ihr Blick war auf mich gerichtet. Kurz schnappte sie nach Luft. »Mein Bruder? Ist er zurück?« Ihre Augen blitzten auf und in ihrer Stimme lag ein hoffnungsvoller Unterton. »Ich dachte … ich meine, sein Flugzeug ist verschwunden. Alle, auch ich, dachten, es sei wohl abgestürzt.« Ihre Stimme kippte.

»Ich weiß«, entgegnete ich und musste schwer schlucken.

Ich merkte, dass sie unruhig wurde, und kramte schnell nach meinem Handy. „Ich muss dir was vorlesen. Können wir …“ Auf der Veranda stand eine ältere Dame mit grauem Haar und starrte neugierig zu uns herüber. Ich deutete auf das Haus, und Haley bat mich in den Garten.

»Du hast recht. Lass uns drinnen reden, Fremde ohne Namen. Meinen kennst du ja schon.«

Ihre Worte trafen mich. Wie peinlich und unhöflich von mir. In meiner Aufregung hatte ich mich nicht mal vorgestellt. Ich reichte ihr eine Hand, die sie fest, aber mit einer merklichen Portion Skepsis drückte. »Sorry. Emma Bennet.«

Ohne etwas zu entgegnen, ging sie ins Haus, und ich beeilte mich, ihr zu folgen. Das Tor im Holzzaun war offen. Haley winkte der Frau auf der Veranda zu, woraufhin diese sichtlich verlegen zurückwich. »Bist du von Sylt, Emma?«, wollte Haley wissen.

»Ja, ich wohne bei meiner Tante in der Nähe von Tinnum.«

Haley hustete und presste sich eine Hand auf den Brustkorb. »Entschuldigung«, murmelte sie und steuerte durch einen Flur auf ihre kleine Küche zu, die kunterbunt und sehr modern war. Haley schenkte sich Wasser ein und trank gierig. Danach ging es ihr wohl besser, der Husten beruhigte sich.

Sie bot mir auch etwas zu trinken an, aber ich winkte dankend ab. Mein Herz hämmerte mir so heftig gegen die Rippen, dass ich glaubte, Haley müsste es hören.

Sie setzte sich an den kleinen, pinken Küchentisch und bat mich zu sich. Als ich ihr gegenüber auf einem der neongrünen Stühle Platz genommen hatte, schaltete ich mein Handy an und legte es auf die Mitte des Tisches.

»Also?«, fragte Haley.

Ich räusperte mich. »Ich kenne deinen Bruder nicht wirklich. Ich weiß, das klingt nun verrückt und anfangs dachte ich, jemand wolle mich auf den Arm nehmen, aber nun glaub ich immer mehr, dass es stimmt, was er mir schreibt.«

Die Worte kamen plötzlich haltlos wie ein Wasserfall über meine Lippen. Erst Haleys Blick, mit dem sie mich musterte, ließ mich verstummen.

»Er hat dir nur geschrieben? Was heißt das genau?«, fragte sie.

Ich las ihr die Nachrichten bis auf die letzte vor. Während sie mir zuhörte, entglitten ihr die Gesichtszüge und sie schüttelte den Kopf, sobald ich innehielt.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich meine, das klingt alles so abgedreht. Könnte sehr gut auch nur irgendein Irrer sein.«

Schließlich zeigte ich ihr die Nummer des Handys, von dem aus die Nachrichten verschickt wurden.

»Das da ist nicht seine Nummer«, stellte Haley fest.

»Aber er könnte sie vor der Abreise ja auch geändert haben. Oder?«, gab ich zu bedenken, woraufhin sie die Nummer noch einmal genau betrachtete.

Haley seufzte tief. »Ich wollte eigentlich nie mehr mit Jamie reden. Er … er hat mir mal sehr wehgetan.« Ihre Stimme wurde weicher, ich spürte die Trauer in ihr. »Aber als ich erfahren hab, dass er Passagier in der Maschine war, die über dem gottverdammten Meer verschwunden ist … Ich vermisse ihn. Trotz allem.« Sie nahm mir das Handy ab. »Ich wähle mal die Nummer. Das wird das Einfachste sein, um herauszufinden, ob er wirklich dahintersteckt«, schlug sie vor.

»Das wird nichts bringen«, sagte ich. »Die Verbindung bricht immer wieder sofort ab. Besser gesagt baut sich erst gar keine richtige auf.«

Haley probierte es dennoch. Ich betete, dass es bei ihr klappen würde. Aber das tat es nicht.

»Wenn sich da jemand echt einen Scherz erlaubt, dann sollte der mir besser nie über den Weg laufen«, bemerkte sie. Ich konnte ihr nur zustimmen. »Dem lesen wir dann gemeinsam die Leviten.«

Zum ersten Mal, seit wir uns gesehen hatten, schenkten wir uns ein kleines Lächeln, das eine große Wirkung hatte. Haleys Misstrauen mir gegenüber schmolz merklich mit jedem weiteren Atemzug.

Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Komisch ist das Ganze dennoch. Und was ist mit deinen Eltern? Waren sie auch im Flugzeug?«

»Nein. Das Flugzeug, in dem meine Eltern saßen, verschwand vor ein paar Jahren über dem Atlantik. Beinahe an der gleichen Stelle.«

Haley starrte mich entsetzt an. »Mein Gott, Emma. Das tut mir wahnsinnig leid«, flüsterte sie.

»Mir auch«, erwiderte ich leise.

Für ein paar Sekunden schwiegen wir.

»In den Nachrichten«, erzählte Haley dann, »hab ich gehört, dass in Jamies Maschine drei Meeresbiologen saßen, die der Sache von damals auf den Grund gehen wollten.«

Das war mir neu. »Die Nachricht über das Verschwinden der Maschine hat alles von damals wieder hochgespült. Zwar werden die Wunden nie ganz verheilen, egal, wie viel Zeit vergeht, aber wenn es wieder so direkt zur Sprache kommt, dann scheint es so, als wäre alles erst gestern gewesen. Dieses Ohnmachtsgefühl … Nichts tun zu können, nur zu warten. Bis heute wurde das Flugzeug, in dem meine Eltern saßen, nicht gefunden«, flüsterte ich.

»Schrecklich! Ich weiß gar nicht so recht, was ich dazu sagen soll. Es ist unbegreiflich.«

»Das ist okay, das geht vielen so. Viele haben Angst, sie könnten was Falsches sagen und schweigen daher lieber.«

Haley strich mir kurz über den Arm. Eine kleine Geste, die mir sehr guttat und für die ich ihr dankbar war.

Ihre Augen verengten sich. »Wenn das wirklich ein blöder Jux ist, dann hat der Typ dich und auch mich ganz schön ausspioniert. Das dürfen wir nicht einfach so ignorieren. Vor allem nicht, wenn Jamie wirklich Hilfe braucht.«

»Was schlägst du also vor?«, wollte ich wissen.

»Wir müssen herausfinden, wem diese Nummer gehört.«

Ich atmete auf. »Das machen wir. Haley?«

In all dem Strudel der Gefühle, Gedanken und Worte hätte ich das Wichtigste fast vergessen. Haleys Andeutungen nach stimmte es, dass die beiden sich nicht gerade im Guten getrennt hatten, was ein wichtiger Beweis für Jamies Glaubwürdigkeit wäre.

»Ja?«

»Der eigentliche Grund, warum ich hier bin, ist eine persönliche Nachricht für dich von Jamie, falls er es wirklich ist, was ich inständig hoffe. Es ist die letzte Nachricht, die er mir geschickt hat. Die hab ich dir noch nicht vorgelesen. Also, Jamie weiß ja, dass du schwer krank bist …«

Haley holte Luft, presste anschließend die Lippen aufeinander und wartete, wenn auch sichtlich ungeduldig.

Es war gar nicht so einfach, denn insbesondere jetzt, wo ich Haley persönlich gegenübersaß und sie kennenlernte, lösten Jamies Worte, die ich ihr überbringen sollte, große Emotionen in mir aus.

Ein wenig zog sie die Brauen nach oben, und ich merkte, dass ihre Augen zu glänzen begannen, als hätte sie eine Vorahnung.

»Es tut ihm leid. Ich soll dir ausrichten, dass er seinen Fehler nun einsieht und sich nichts mehr wünscht, als dass du ihm verzeihst. Er hat geschrieben, dass er es nicht so gemeint hat.« Ich deutete auf das Handy und bat sie dann, die Nachricht selbst zu lesen.

Haleys Atem wurde flach und unregelmäßig. Sie schlug für einen Moment die Hände vors Gesicht, stand auf und ging ans Fenster. Ein, zwei Minuten lang hing Stille zwischen uns. Dann drehte sie sich um.

»Von unserem letzten Streit wusste niemand. Nur er und ich.«

Aurora Sea - Das Geheimnis des Meeres

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