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Spurlos

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Mit einem Wort: Hör nie auf mit diesen drei Dingen: Glaube, Hoffnung und Liebe. Und wisse, dass das Größte dieser drei Dinge immer die Liebe sein wird.

– Apostel Paulus –

Seit das Flugzeug meiner Eltern vor ein paar Jahren über dem Atlantik auf mysteriöse Weise verschwunden war, hegte ich ein großes Unbehagen dem Meer gegenüber. Nun ließ ich zum ersten Mal seit langer Zeit seine Wellen so nahe an mich herankommen, dass die auslaufende Gischt meine Füße überspülte. Ein Frösteln überlief meinen Körper, schien ihn mit Eiskristallen zu übersäen.

Nichts hatte sich geändert. Im Grunde wusste ich, dass ich dem Meer keine Schuld geben konnte, dennoch waren mir sein Schweigen, seine Unergründlichkeit und seine Weite, die ich früher geliebt hatte, unheimlich geworden.

Denn ich war mir sicher, dass Mom und Dad zusammen mit den anderen Passagieren zu Gefangenen seiner Tiefe geworden waren. Schon oft hatte ich davon geträumt. Nachtfantasien, in denen ich ihre aufgerissenen Münder sah, aus denen anstatt verzweifelter Schreie Wasserblasen stiegen, die mit mir zurück zur Oberfläche trieben. Jedes Mal versuchte ich, bei Mom und Dad zu bleiben, nach ihnen zu greifen und sie mit mir zu nehmen, doch ich schaffte es nie. Der Meeresboden, in dem das Flugzeug feststeckte, hielt sie fest, als wären sie mit ihm wie durch unsichtbare Seile verbunden.

Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Kinn und blickte über das Meer hinweg in das Abendrot, das sich über dem Sylter Wattenmeer ausdehnte.

Früher hatte ich Tante Mathilda oft mit meinen Eltern besucht. Nun wohnte ich bereits seit fünf Jahren bei ihr. Sie war die einzige Verwandte, die ich noch hatte, und ich war ihr mehr als dankbar, dass sie mich nicht in ein Heim gesteckt hatte, als meine Eltern verschwanden. Ich biss mir auf die Zunge, um die Tränen zu unterdrücken.

Heute war Moms Geburtstag, den wir mit Sicherheit groß gefeiert hätten. Es war ein runder, ihr vierzigster. Ich warf eine Kusshand Richtung Himmel, da hörte ich die Stimme meiner Tante hinter mir.

»Der Sand ist doch viel zu kalt, Emma!«

Sie hatte recht, also wischte ich mir die Sandkörner von den Füßen und schlüpfte in meine Turnschuhe, ging ein paar Schritte zurück und drehte mich zu ihr um. Sie stand, bepackt mit einem Korb voller Wäsche, auf der Holzveranda ihres kleinen, blau gestrichenen Hauses mit den weißen Fensterläden, und blickte nachdenklich in meine Richtung.

Der Wind wirbelte ihre kurzen blonden Locken durcheinander und umtanzte ihren zierlichen Körper. Mein Herz schlug schneller. Sie sah meiner Mutter ähnlich, die beiden hätten Zwillinge sein können. Ich liebte sie von ganzem Herzen. Sie war eine sanftmütige Person. Auch das hatte sie mit Mom gemein, wenngleich sie nach außen hin manchmal ein bisschen schroffer wirkte.

»Alles okay?«

Ich nickte und setzte ein Lächeln auf, damit sie sich keine Sorgen machte. »Ich helfe dir mit der Wäsche«, entgegnete ich.

»Brauchst du nicht, Emma. Ist nicht viel. Das schaff ich schon. Geh du lieber mal wieder nach Tinnum zu deinen Freunden. Das wird dir guttun. Mel hat vorhin angerufen, sie vermisst dich schon«, gab sie zurück und verschwand dann nach drinnen.

Der Gedanke, mal wieder mit meiner Freundin zu quatschen, war nicht schlecht, doch heute blieb ich lieber allein und schickte den Wellen noch einen Geburtstagsgruß für Mom hinterher, den sie vielleicht sogar zu ihr tragen würden. Danach lauschte ich dem Tosen der See, während der Wind noch einen Tick kühler wurde und über mein Haar strich, als wolle er mich aufheitern.

Mein Blick verlor sich in den wogenden Wellen, und dann glaubte ich, ihn wieder zu hören, diesen melancholischen und zugleich wunderschönen Gesang, der von der Gischt zu mir getragen wurde.

Ich atmete so leise wie nur möglich, aus Angst, ihn wieder zu vertreiben, und hielt ganz still. Dieses Mal war er intensiver als sonst, und mir war, als wolle er mich anlocken. Ich war mir sicher, sicherer denn je, dass dieser Gesang real war. Ich bildete mir das nicht ein. Schnell machte ich kehrt und rannte auf das Haus zu.

»Tante Tilli?«

Ich eilte durch die liebevoll im Landhausstil eingerichteten Zimmer, in denen mir jeder Winkel vertraut war. Schließlich fand ich Tante Tilli, wie ihre Freunde und ich sie gerne nannten, in ihrem kleinen Bügelzimmer zwischen roséfarbenen Bettlaken. Das Zimmer hatte früher mal als Vorratskammer gedient.

Tilli blies sich eine ihrer Locken aus der Stirn und hob den Blick. In ihren wasserblauen Augen lag ein besorgter Ausdruck. »Ist was passiert? Du bist ja ganz bleich.«

Ich ergriff ihre Hände. »Der Gesang. Er ist wieder da. Komm schnell!«

»Und ich dachte schon sonst was.« Tante Mathilda stellte das Bügeleisen ab und folgte mir mit einem Seufzen.

»Er ist lauter als sonst. Dieses Mal wirst du es auch hören, bestimmt. Ich bilde es mir nicht ein«, flüsterte ich. Meine Stimme überschlug sich vor Aufregung.

Zurück am Strand musste ich feststellen, dass der Gesang nicht mehr zu hören war. Trotzdem hielt ich gespannt die Luft an, während wir zusammen lauschten. Und tatsächlich kehrte der mystische Gesang zurück. Nirgends zuvor hatte ich derart klare, helle und gleichzeitig traurige Stimmen gehört.

Gespannt beobachtete ich meine Tante. Ihre Mimik wirkte angestrengt. Dann schüttelte sie den Kopf und lockerte sich. »Tut mir leid, Emma. Ich höre nichts außer dem gewohnten Rauschen des Meeres.«

Das konnte sie doch unmöglich überhören. Enttäuscht starrte ich sie an, aber ihr Blick war eindeutig. Sie vernahm nicht einen Ton.

Meine Tante sah mich mitfühlend an. »Das Meer hat dieses Lied, das du zu hören glaubst, wohl allein für dich geschrieben, Emma. Aber manchmal spielen uns auch die Sinne einen Streich.«

»Ich bilde es mir nicht ein!«, wiederholte ich eindringlich, während meine Tante mir sanft über den Rücken strich.

»Wir sollten Doktor Morton anrufen. Ich meine, vielleicht sind auch die Tabletten dran schuld. Er hat ja gesagt, dass sie leichte Wahnvorstellungen hervorrufen können.«

Vehement schüttelte ich den Kopf, bückte mich, hob ein wenig Sand auf und ließ ihn durch meine Finger rieseln. »Ehrlich gesagt hab ich noch keine einzige von diesen komischen Pillen geschluckt. Ich brauch sie nicht. Sie können mir Mom und Dad auch nicht wiederbringen.«

Tilli verzog einen Mundwinkel. »Aber sie können dir ein wenig innere Ruhe verschaffen«, räumte sie ein.

Daran glaubte ich nicht. Minutenlang lag Stille zwischen uns und allmählich verebbte der Gesang wieder.

»Jetzt haben sie aufgehört zu singen«, sagte ich.

Tilli presste kurz die Lippen aufeinander. »Ich glaub dir ja, dass du sie wirklich hörst. Ich weiß nur nicht, was ich dazu sagen soll. Ich halte dich nicht für verrückt oder dergleichen. Aber es macht mir Sorgen.«

Mein Blick schweifte erneut aufs Meer hinaus. »Das will ich nicht, Tante Tilli. Dass du dir Sorgen machst.«

Sie legte einen Arm um mich und drückte mich an sich. Ihr entwich ein leises Seufzen. »Ach, Emma. Ich wünschte, ich könnte sie dir zurückbringen. Ich vermisse sie auch, sehr sogar.«

Ich atmete tief durch. »Es ist halt diese Ungewissheit, die so schlimm ist.«

»Ja, ich weiß, Emma.«

Es tat immer noch so weh, als wäre es erst gestern gewesen. Bis heute waren alle Suchaktionen im Sand verlaufen. Keine Spur. Nichts. Das Flugzeug war nie gefunden worden.

Ich schmiegte mich an meine Tante, die die gleiche Wärme ausstrahlte, wie meine Mutter es immer getan hatte. Das machte es etwas leichter für mich. Beide besaßen ein großes Herz. Tilli hatte ihres, anders als Mom, die sich in meinen Vater auf den ersten Blick verliebt hatte, noch nie an einen Mann verschenkt. Sie liebte ihr Single-Dasein. Das behauptete sie zumindest.

Was mich anging – ich war meinem Traumprinzen noch nicht begegnet. Ehrlich gesagt interessierten Jungs mich auch nicht so brennend, was vielleicht auch daran lag, dass ich bisher nur Kumpeltypen oder Machos über den Weg gelaufen war. Zurzeit konzentrierte ich mich lieber auf meine Ausbildung zur Floristin, was mir viel Spaß machte. Damit trat ich in Moms Fußstapfen. Sicher würde ihr das gefallen. Sie hatte sich damals mit einem eigenen kleinen Blumenladen einen Traum erfüllt. Dad hatte sie immer dabei unterstützt. Beide waren kreativ. Mom entwarf und bastelte gern schöne Dinge, Dad war Schriftsteller. Seine Geschichten steckten voller mystischer Geheimnisse, die mich und viele andere begeisterten. Er hätte wohl nie gedacht, dass er selbst einmal Teil einer mysteriösen Geschichte werden würde. Ich vermisste ihn schrecklich.

»Na, ihr zwei!«, rief jemand in unmittelbarer Nähe, dessen Stimme mir gut bekannt war. Sie gehörte dem alten Seebären Georg, einem Fischer aus dem Ort. Tante Mathilda errötete leicht und straffte die Schultern. Georg war einer ihrer glühendsten und hartnäckigsten Verehrer, den sie schon seit einigen Jahren zappeln ließ. Er kam, wie ich fand, genau zur richtigen Zeit. Sein Besuch holte uns aus unserem Gedankenloch.

»Hallo, Georg«, begrüßte ihn meine Tante, und ich schloss mich ihr an.

Er lächelte. »Hallo, die Damen. Die Jungs und ich waren vorhin draußen. Hab frische Krabben dabei für euch«, sagte er.

»Oh, das ist nett«, meinte ich.

Tilli nickte und bat ihn ins Haus. Dann hakte sie sich bei mir unter. »Kommst du mit rein, Emma? Ich mach uns meinen Schokoladentee. Der ist gut für die Seele.«

»Ich glaub, das ist Georg auch«, flüsterte ich und zwinkerte ihr zu. Mathilda tat so, als hätte sie es nicht gehört. Georg setzte den Sack, den er über dem Rücken trug, ab und streckte seinen muskulösen Körper, der Tante Mathildas um mindestens zwei Köpfe überragte.

»Alter Angeber.« Tilli lachte.

Georg hob die buschigen, grauen Brauen. „Was, ich?“

Ich hakte mich bei meiner Tante aus, denn ich wollte noch etwas erledigen. »Geht schon mal rein, ich komm gleich nach«, sagte ich.

Tilli hauchte mir einen Kuss auf den Scheitel. „Bis gleich.“ Sie ging zu Georg hinüber und mit ihm ins Haus.

Als sie weg waren, drehte ich mich zum Meer und schickte zwei Fragen hinaus: »Wo sind sie? Ist der Gesang ein Zeichen? Wenn ja, dann brauche ich mehr davon.«

Ich klammerte mich an viele Kleinigkeiten, egal, wie dünn die Seile, an denen sie hingen, auch waren. Die Hoffnung war pure Überlebensstrategie. Doch die Wellen schwiegen.

Georg und Tante Mathilda saßen bereits an dem viereckigen Holztisch in der Küche bei Tee und Gebäck, als ich zu ihnen stieß. Im Hintergrund lief das Radio. Kaum hatte ich mich auf meinem Platz niedergelassen, schob mir Tilli eine Tasse mit dem versprochenen Schokoladentee zu, dessen Duft mich an Weihnachten erinnerte – Zimt, Vanille und Nelken. Am Ende des Sommers einen Weihnachtstee zu trinken war zwar unpassend, konnte jedoch, wie ich nach ein paar Schlucken feststellte, wahre Wunder bewirken. Ich fühlte mich wie in eine warme Decke gehüllt.

»Du solltest auch was essen, Schatz. Du wirst ja immer dünner«, bemerkte Tilli.

»Das täuscht«, erwiderte ich schnell, was meine Tante kurz aufseufzen ließ.

»Dein Tee ist wirklich der beste der Insel, Tilli«, schwärmte Georg und schnäuzte sich in ein grünes Stofftaschentuch.

„Hast du dich etwa erkältet?“, fragte Tilli ihn.

Eine tiefe Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. „Ich erkälte mich doch nie. Mich hat da nur was gekitzelt. So, und jetzt noch eine Tasse von deinem köstlichen Gebräu bitte.“ Er hielt meiner Tante die leere Tasse hin.

»Na, übertreib mal nicht«, winkte sie ab, doch Georg hörte nicht auf, sie mit Komplimenten zu überschütten, die ihre Wangen noch mehr erhitzten. Ich war mir sicher, dass es daran lag. Sie stand auf, entschuldigte sich kurz bei uns, und ging auf die Veranda hinaus. Angeblich, um dort nach ihren neuen Teepflanzen zu schauen, ich glaubte aber eher aus Verlegenheit.

Ich schmunzelte und beugte mich ein wenig zu dem Seebären hinüber, als sie weg war. »Mal ehrlich, Georg. Du findest Tillis Lungenwurztee tatsächlich köstlich?«, fragte ich, woraufhin der Seebär mir zuzwinkerte.

»Schlecht ist er nicht.«

Ich verzog einen Mundwinkel. »Nett untertrieben. Aber du bringst sie zum Schmelzen mit deinen Komplimenten, Georg.« Ich stupste den Fischer an.

Er seufzte leise. »Sie ist ein harter Brocken, aber ich geb nicht auf. Jeder Eisberg schmilzt einmal«, erwiderte er und hob dabei die Brauen.

In dem Moment kam Tilli zurück. »Was gibt’s denn zu tuscheln?«, fragte sie, da verfinsterte sich Georgs Mimik.

Er zeigte auf Tillis Radio. »Psssst!«

Stirnrunzelnd lauschten wir den Worten des Nachrichtensprechers, die mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagten.

»Kein Funkspruch und kein Notsignal von automatisch auslösenden Crashsendern. Experten gehen von keiner Entführung, sondern von einem Absturz der Passagiermaschine über dem Atlantik aus. Die Suchaktionen sind in vollem Gange. Bislang allerdings ohne Erfolg.«

In meinen Ohren begann es zu rauschen, als stünde ich wieder am Strand. Ich verstand kein einziges Wort mehr von dem, was der Mann im Radio sagte. In meinem Kopf tobte ein Orkan, der meine Gedanken durcheinanderwirbelte, bis mir schwindelig wurde. Es war wieder passiert! Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Georg auf Tante Mathildas Anweisung hin das Radio abschaltete. Sie setzte sich und rutschte mit ihrem Stuhl nahe an mich heran. Ihre Hände legte sie auf meine. Meine Handinnenflächen schwitzten vor innerlichem Aufruhr.

Ich sah meine Eltern direkt vor mir, wie sie mich zum Abschied geküsst hatten und mir versprachen, etwas Schönes aus Atlanta mitzubringen.

»Hätte ich sie nur zurückgehalten oder wäre doch mitgeflogen«, stotterte ich und spürte, wie mir eine Träne über die Wange rollte und in meiner Kehle ein Kloß anschwoll.

Tante Mathilda umschloss meine Hände mit ihren. »Sei mir nicht böse; aber du weißt, wie ich denke«, entgegnete sie, bemüht, ein Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Es kommt alles so, wie es kommen muss und soll, ich weiß. Aber ich hab das Gefühl, als wäre ich schuld«, brach es aus mir heraus.

Georg sah betreten drein, wagte es aber nicht, etwas zu dem Thema zu sagen. Er wusste wohl, dass er mit seiner oft rauen Art vielleicht am Ende sogar ins Fettnäpfchen getreten wäre. Harte Schale, weicher Kern. In seinem Fall traf das Klischee absolut zu und seine Zurückhaltung war zudem mehr wert als tausend Worte.

Er stand auf und legte uns seine breiten, mit Schrunden übersäten Hände auf die Schultern, um zu zeigen, dass er da war, um uns zu stützen. Jederzeit.

Aurora Sea - Das Geheimnis des Meeres

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