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Der Fremde Ein paar Tage später

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Die Welt in und um Tinnum stand Kopf. Erst nach Olles und Benedicts Beerdigung erholten sich die Menschen langsam wieder und kehrten, zumindest äußerlich, zum Alltag zurück.

Das Schicksal der beiden Fischerfreunde hatte auch in der Presse großes Aufsehen erregt. Hier und da hörte man die Leute tuscheln. Den Toten ihre Ehre, aber keiner glaubte so recht an die Geschichte der Ungeheuer aus dem Meer, und Haie, zumindest welche, die Menschen angriffen, gab es hier keine.

Die Behörden tappten im Dunkeln und konnten noch keinen Schuldigen ausmachen, weder Mensch noch Bestie.

Man merkte Sören an, dass ihn die Sache zur Verzweiflung trieb. Er trug einen Sack voller Gerüchte auf seinem Rücken. Eine Last, die er nicht ein Leben lang mit sich herumschleppen wollte, wie er sagte. Auch Georg wurde vonseiten der Leute schief beäugt.

Nicht wenige glaubten, Olle und Benedict wären in einem Kampf gestorben. Ob dieser nur zwischen den beiden oder auch den anderen zwei stattgefunden hatte – darüber gab es unzählige Spekulationen.

Ich für meinen Teil zweifelte nicht an den Aussagen der Männer. Tilli glaubte aber nach wie vor an kein Ungeheuer aus den Tiefen, was ihr nicht zu verdenken war. »Vielleicht waren es tauchende Piraten, denen ihr ein Dorn im Auge wart. Kann doch sein«, sagte sie.

Georg war nun beinahe täglich Mathildas Gast, und man merkte, dass ihr Rat ihm mehr als teuer war.

»Es war, wie Sören es sagte, und wir werden es beweisen.«

Sein Blick ging ins Leere und langsam verengte er wütend die Augen. Tilli beobachtete ihn genau wie ich und wir wussten beide, was er damit meinte. Er würde sobald wie möglich wieder mit Sören hinausfahren und nach den Monstern Ausschau halten.

Ich stand auf, legte ihm kurz eine Hand auf die Schulter und lief dann zu einem der Rundbogenfenster, von wo aus man eine gute Sicht aufs Meer hatte. Die Wellen schäumten und donnerten an den Strand, als wollten sie uns warnen, ihnen nicht zu nahe zu kommen.

In den letzten Tagen hatte ich sie oft besucht, gelauscht und gehofft. Aber da war nichts. Kein Gesang, keine Stimmen. Und keine weitere Nachricht von Jamie, obwohl er versprochen hatte, sich bald wieder zu melden. Auch gab es weiterhin kein Durchkommen zu ihm. War etwas passiert? Was konnte ich tatsächlich glauben? In meiner Verzweiflung dachte ich darüber nach, Tilli und Georg doch von den Nachrichten zu erzählen, verwarf den Gedanken aber wieder. Nein! Es klang einfach zu abwegig. Zudem Tilli eh glaubte, ich bildete mir das mit den Meeresstimmen nur ein. Sicher hatte sie Georg schon sorgenvoll davon erzählt, und er war meist ihrer Meinung.

In meinem Zimmer kam mir das Buch mit den Meereszeichnungen aus dem Laden wieder in den Sinn. Durch die schrecklichen Ereignisse der letzten Tage hatte ich es fast vergessen. Ich kramte es aus meiner Schreibtischschublade und begann die hintere Hälfte zu durchblättern, auf denen weiche Zeichnungen von Muscheln, Korallen und hohen Meereswellen zu sehen waren.

Meine Finger strichen über die Bilder – ganz zart, als wären sie zerbrechlich. Sie waren voll tiefer Liebe für das Meer, und ich wünschte, auch ich könnte je wieder so dafür empfinden.

Die vorletzte Seite war mit der letzten verbunden. Irgendetwas hielt sie zusammen. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es Dreck war, vermischt mit Seetang.

Vorsichtig schälte ich die Seiten auseinander und öffnete sie wie eine Muschel. Ob ich zwischen ihnen eine Perle finden würde? Mein Herz begann schneller zu pochen und ich war dankbar für die Ablenkung, die mir dieses kleine Büchlein schenkte. Die zwei Seiten, die sich mir wenig später offenbarten, überraschten mich wirklich. Rechts saß ein junger Mann auf einem Felsen. In seinen Händen hielt er eine große Muschel, die er sehnsuchtsvoll betrachtete. Auf der linken Seite war das Gesicht des jungen Mannes als Porträt gezeichnet. War es ein Selbstbildnis des Malers?

Die dunklen, mandelförmigen Augen schienen tief in mich hineinzuschauen. Beinahe glaubte ich, er würde mir jeden Moment zublinzeln. Irgendetwas an diesem Gesicht zog mich an und stieß mich gleichermaßen ab. Es wirkte so lebendig wie der Rest der Zeichnungen.

Die vollen Lippen, sein Mund so ernst und nachdenklich. Die dunklen Haare, die sein schmales Gesicht umrahmten, waren im Nacken zu einem langen Zopf mit eingeflochtenen kleinen Muscheln und Bändern zusammengefasst, der sich wie ein Seil um seinen Hals legte.

Auf keiner der leicht vergilbten Seiten fand sich eine Unterschrift oder Widmung, also würde mir der Fremde wohl ewig ein Rätsel bleiben. Nach einer Weile klappte ich das Büchlein zu und verstaute es wieder an seinem alten Platz. Dann nahm ich mein Handy und warf einen Blick darauf.

Für einen Augenblick glaubte ich, mein Herzschlag würde aussetzen. Jamie hatte mir eine neue Nachricht gesendet.

Ich kann verstehen, wenn du mir immer noch nicht glaubst. Melde mich erst jetzt, da ich wieder in Sicherheit bin. Konnte mich davonschleichen. Das Handy trage ich bei mir, geschützt in einer wasserdichten Hülle aus durchsichtiger Fischhaut. Doch Empfang habe ich nur, wenn ich auftauchen kann. Ein Wissenschaftler unter den Passagieren hat eine energetische Quelle entdeckt, die den Akku auflädt, sobald man sich ihr nähert. Davon gibt es einige da unten. Vielleicht können wir sie noch anderweitig für uns nutzen. Das Meer steckt voller magischer Geheimnisse. Aufzutauchen gelingt mir jedoch nur selten und kurz. Außerdem gefährde ich damit auch die anderen. Wie lange ich dich unentdeckt kontaktieren kann, weiß ich nicht. Aber etwas lässt mir keine Ruhe. Ich war auf dem Weg zu meiner kleinen Schwester Haley, die seit einer Weile auf Sylt wohnt. Haley McCann. Sie ist todkrank. Ich habe ihre neue Telefonnummer nicht, aber sie muss wissen, dass ich sie liebe und ihr keine Schuld gebe. Es war dumm, was ich damals zu ihr gesagt habe. Es war nicht so gemeint. Könntest du ihr das sagen? Bitte, Emma. Es ist sozusagen mein letzter Wille, ein Herzenswunsch. Ich wäre dir unendlich dankbar!

Ich konnte die flehende Verzweiflung seiner Worte deutlich spüren. Jamie hatte also eine Schwester. Das Herz schlug mir bis in die Kehle. Auch wenn ich wusste, dass ein weiterer Versuch ihn zu erreichen, fehlschlagen würde, probierte ich es. Es blieb dabei – er war unerreichbar.

Ich musste mehr erfahren und setzte mich an meinen Computer.

»Haley McCann … Sylt«, sagte ich leise vor mich hin, während ich ihren Namen mit zittrigen Fingern in die Google-Suchleiste eingab. Sekunden später vermeldete Google einen Treffer. Ihre Festnetznummer wurde angezeigt.

Kurzerhand schnappte ich mir das Handy und wählte ihre Nummer, drückte diese aber nach dem ersten Rufton weg. Unmöglich konnte ich ihr das ganze Mysterium um ihren Bruder am Telefon erzählen. Höchstwahrscheinlich würde sie mich für irre halten und gleich wieder auflegen.

Nein, ich musste persönlich mit ihr reden. Ihrer Adresse nach wohnte sie nur ein paar Orte weiter.

Sogleich beschloss ich, mich auf den Weg zu machen.

Das Haus, in dem Haley wohnte, lag in der stillen Sackgasse eines kleinen Ortes, zwischen Westdüne und Kiefernwäldchen in der Nähe des Strandes gelegen. Es war ein weißes Mietshaus mit Reetdach.

Die umlaufende Terrasse hatte eine große Fensterfront zu einem mit bunten Blumen und Gräsern übersäten Garten. Langsam näherte ich mich dem Anwesen, wohl überlegend, was ich als Erstes zu Haley sagen sollte, wenn ich ihr begegnete. Mein Verstand hoffte inständig, dass sich nicht alles doch noch als grotesker Scherz herausstellte.

Meine innere Stimme und mein Herz dagegen trieben mich voran und sprachen mir Mut zu. Mom hatte mir beigebracht, immer auf mein Bauchgefühl zu hören. Seit ihr Lied von den Wellen zu mir an den Strand getragen worden war, war ich positiv gegenüber den Entwicklungen und somit Jamie, wenngleich mir das Ganze nach wie vor Angst machte und ein Restzweifel blieb.

Aurora Sea - Das Geheimnis des Meeres

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